Air im Interview zu „Le Voyage Dans La Lune“: Wir sind die „Gods of Thunder“


Zur Veröffentlichung von "Le Voyage Dans La Lune", dem Soundtrack zum Sci-Fi-Klassiker "Die Reise zum Mond" von George Melies (1902), sprachen wir mit Air-Komponist Nicolas Godin.

Musikexpress: Ihr bekanntestes Album „Moon Safari“ drehte sich 1998 um die Besiedelung des Mondes, Le Voyage Dans La Lune behandelt gar die Kolonialisierung des Erdtrabanten – nur, dass Air den Aufbruch diesmal mit martialisch klingenden Drums einleiten. Warum?
Nicolas Godin: „Moon Safari“ behandelte unseren Traum von einer Mondlandung. Wir waren damals auch fasziniert vom Retro-Futurismus. Unser neues Album folgt eher einem, nun, nennen wir es „Volcano-Style“: Der Mond besteht ja aus Steinen, Geröll, Mineralien. Vulkanen. Wir wollten klingen wie die „Gods of Thunder“, die Könige des Donners. Unser Schlagzeug sollte lauter sein als je zuvor. Und wir wollten so klingen, als hätten wir die Stücke in einer Höhle eingespielt.

Zu einer Safari gehört die Sichtung von Lebewesen. Auf „Moon Safari“ ging es jedoch nicht um Ausserirdische. Für den  „Le Voyage Dans La Lune“-Soundtrack bekommen es die Mondreisenden mit Eingeborenen zu tun. Aus heutiger Sicht ist der Melies-Film von 1902 komisch anzusehen – unfreiwillig komisch.
Den lustigen Aspekt des Films, sofern es einen gibt, haben wir nie verstanden. Wir finden, „Le Voyage Dans La Lune“ ist ein trauriger Film. Spätestens die weltberühmte Szene, in der die Rakete der Forscher auf dem Mond aufschlägt, dabei das Mondgesicht im Auge trifft, veranschaulicht das Problem: Was tut die menschliche Spezies der Natur bloß immer wieder an? Der Anfang des 20. Jahrhunderts war auch geprägt von der unrühmlichen Zeit der Kolonialisierung Afrikas. Damals endete die Zeit der Unschuld. Der Garten Eden wurde verwüstet. Ich habe bei den Aufnahmen viel an Afrika gedacht. Uns machte es sehr traurig den Film zu sehen. Unsere Songs sollten deshalb melancholisch klingen – und heavy.

Der Beginn mit dem „Astronomic Club“ wirkt im Stummfilm wie eine Szene aus dem Irrenhaus: Rauschebärtige Forscher mit Spitzhüten fuchteln wie wild. Kombiniert mit ihrer Musik klingt das anders – wie die Versammlung von Feldherren.
Als Nostradamus die Mondreise auf der Tafel skizziert, machen sich die anderen Astronomen über ihn lustig. Ich hasse das: Wenn sich alle gegen einen wenden, obwohl man eine revolutionäre Idee vorstellt. Ich war wirklich angepisst, als ich diese Szene sah, mich machte das wütend. Galileo, Kopernikus, die Theorie einer runden Erde, die Sonne statt Erde als Mittelpunkt der Galaxis …stets gab es in der Geschichte eine Mehrheit, die sich über diese Forscher und ihre Entdeckungen gewandt hatten.

Im Song „Lava“ benutzen Sie ein Banjo. Das tun Sie immer wieder gerne, auf ihrer neuen Platte passt es besonders, weil die Mondbesiedelung bei Melies wie die Eroberung des Wilden Westens inszeniert wird.
Einer meiner Lieblingsfilme ist „Deliverance“ (deutsch: „Beim Sterben ist jeder der Erste“, 1972) von John Boorman. Mich hat immer schon die legendäre Szene mit dem „Banjo-Duell“ fasziniert, die sich auch darum drehte, welche Gefahren das Unbekannte birgt, was ausserhalb unseres sichtbaren Horizonts vorgeht. Auf unserem Album „Talkie Walkie“ von 2004 war das Banjo bereits sehr präsent.

Sind Ihnen Aufnahmen anderer Musiker zu „Le Voyage Dans La Lune“ bekannt?
Nein, deshalb nahmen wir ja auch den Auftrag für den Filmscore an. Niemand zuvor hat einen Soundtrack zum diesem Film veröffentlicht. Und Melies war es seinerzeit auch egal, welche Musik dazu im Kino gespielt wurde. Ich bin auch der Ansicht, dass die damalige Musik nicht wirklich in der Lage war, die Vorstellung vom Weltraum angemessen zu illustrieren. Für Filme von Charlie Chaplin oder mit Laurel und Hardy ging das noch, aber nicht für den Mond.

Den Robotern und Ausserirdischen auf ihrem Album „10.000 Hz Legend“ (2001) setzten Sie noch mit metallisch klingenden Keyboard-Sounds zu. Die Mondbewohner in „Le Voyage Dans La Lune“ kleiden Sie in nun in sehr organische, perkussive Klänge, Bass und Schlagzeug stehen im Mittelpunkt.
Wir wollten sehr organisch klingen. Auch ein wenig nach Vergangenheit. Die mit unserem Stück „Parade“ unterlegte Schluss-Szene, bei der die Mondheimkehrer wie Helden empfangen werden, erinnerte mich an Karneval, an das Cover von „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band“ der Beatles. Wir wollten auch so klingen wie Sgt. Pepper. Manchmal erinnert mich „Le Voyaga Dans La Lune“ an das London der Sechziger, die Swinging Sixties. Beatles, Stones. Paris war 1902 ungefähr das, was London 1966 war. Paris hatte damals dieselbe Energie. Der Sgt-Pepper-Vibe passte gut zum Album. Fast ist es so, als hätten die Farben des Films mir den Gebrauch eines echten Schlagzeugs diktiert. Demnächst kehren wir aber wohl zum elektronischen Schlagzeug zurück.

Würden Sie gerne zum Mond fliegen?
Ich wurde 1969 geboren, meine Generation ist aufgewachsen mit dem Traum zum Mond zu fliegen. Damals hieß es, im Jahr 2000 wären Mondreisen etwas ganz Normales. Die Realität sieht bekanntermaßen anders aus – wir wurden um unseren Traum betrogen. Die Vorstellung, das All mit Raumschiffen zu erforschen, halte ich heute dennoch für rückständig. Wer an die Zukunft denkt, sollte sich lieber mit Genen beschäftigen. Oder gleich mit Zeitreisen. Den Ursprung der Menschheit zu verstehen, vor allem die Anfänge der Natur – das kann ein Schlüssel sein zum Verständnis des Universums. Vielleicht liegt die Zukunft der Menschheit darin, keine Körper mehr haben zu müssen, sondern nur noch Zellen? Gene? Die Erforschung des Alls ist jedenfalls nichts, was sich mit Attributen wie „glamourös“ oder „traumhaft“ beschreiben lässt. Das All ist hart und kalt. Darum empfinde ich die künstlerische Herangehensweise an die Mondlandung auch für wichtiger als die wissenschaftliche. Cyrano de Bergerac schrieb „Die Reise zum Mond und zur Sonne“, Melies landete dort 1902, Tim und Struppi 1953. Und wir 1998 mit „Moon Safari“. Wir können dort spazieren gehen, wann immer wir wollen. Wissenschaftler nicht.

Melies schien in seinem Film erotische Bilder transportieren zu wollen. Die Sterne und Pflanzen werden von verlockenden Frauen dargestellt, die Männer legen sich ihnen zu Füßen.
Melies benutzte viele erotische Gleichnisse. Der Mond an sich ist feminin. Mit einer Rakete dort einzuschlagen spricht als Bild ja auch für sich. Für mich ist die Sonne die Realität – der Mond ist der Traum. Als Künstler sollte man bereit sein, die feminine Seite in sich anzuerkennen. Vielleicht hatten wir uns deshalb in unserer Karriere auch so intensiv mit dem Mond beschäftigt.

Haben Sie Kontakt zu den Nachfahren von Melies?
Die Melies-Foundation hatte uns vor den Aufnahmen kontaktiert. Ich glaube, die Familie von Melies hätte sich vielleicht ein optimistischer klingendes Album gewünscht. Aber ich finde nicht, dass wir Melies in irgendeiner Art betrogen haben. Er selbst sagte, dass die Leute ihre eigene Musik zum Film spielen sollten. Und zur Musik von heute gehört auch Air. Wir haben mit unserem Soundtrack nur den Anfang gemacht. In 50 Jahren kommt die nächste Band mit einer neuen „Le Voyage Dans La Lune“-Version.