A Walk On The Wild Side


Was passierte zwischen Woodstock und Punk? Jede Menge und doch nichts wirklich Tiefgreifendes, oder? Vieles spricht dafür, dass es jenes Jahr ist, in dem die Dekadenz endgültig ins Spiel kommt. Ab 1972 kann niemand mehr behaupten, Rock sei rein, unschuldig und ausschließlich von edlen Motiven.

Das ist spätestens vorbei, als die Stones im November erstmals zwecks Plattenaufnahmen in exotische Feriengebiete (Jamaika) reisen und David Bowie und die New York Dolls so tun, als könne man nur in toller Verkleidung großartige Musik machen. Zudem rollt der Rubel wie nie zuvor. Alle fragen sich plötzlich, warum in ihren Taschen bislang so wenig gelandet ist. Um jede Menge Kohle geht’s nun und Images werden wichtiger als Musik.

Vielleicht ist 1972 das letzte Jahr, in dem die Rebellenpose noch glaubhaft scheint. Keiner demonstriert das besser als Keith Richards in seiner Villa an der Cote d’Azur, wo er so etwas wie den Errol Flynn des Rock’n‘ Roll gibt. Kein Zufall, dass die ’72er-US-Tour der Stones bis heute als mythenumrankter Höhepunkt in Sachen „Sex &. Drugs & Rock’n’Roll“-Dekadenz gilt. Und auch ein Statement wie Transformer von Lou Reed, einem Outcast von ganz anderem Holz, ist in seiner künstlerisch mutigen Ignoranz des Marktes später kaum noch möglich.

1972 lacht kaum einer über Artrock, wenig später fast alle. Selbst die entrückten Yes machen mit CLOSE TO the EDGE noch ein Album, das von ihrem späteren Schneller-weiter-höher-Wahn noch wenig ahnen lässt. Am anderen Ende der Pop welt beginnen die Eagles, Gram Parsons‘ Idee vom Countryrock in eine narrensichere Kommerzformel umzudeuten, die den US-Mainstream auf Jahre hinaus dominiert. Bluesrock zieht sich mehr und mehr zurück in die Pubs und Clubs. Lediglich Leute wie Rory Gallagher und Johnny Winter erreichen durch einzigartige Personality weiterhin ein Publikum jenseits der Blueszirkel -auch weil instrumentale Virtuosität in jenen Jahren etwas gilt.

Andere Überbleibsel des ehedem florierenden Bluesrock brechen auf zu neuen Ufern: Led Zeppelin zerlegen die Musik in monumentale Hardrock-Riffs und werden zu den Übervätern aller dekadenten, groupiejagenden Rock-Monster. Deep Purple füttern ihre Marshall-Amps mit Bach-Fugen, Jethro Tüll geben die mittelalterlichen Spielmänner, Fleetwood Mac tauchen ab und später als Soap Opera wieder auf, und die Allman Brothers sind nach dem Tod von Duane Allman und Berry Oakley nicht mehr dieselben. Symptomatisch das Schicksal der so jungen wie verschwenderisch talentierten Free: Sie atomisieren sich zunächst selbst, bevor die Überlebenden an dem zu basteln beginnen, was später mit Bad Company, Foreigner und jeder Menge Trittbrettfahrern zu inhaltsleeren Klischee-Rockismen erstarrt.

Das Schöne an 1972: Fast alles ist tatsächlich neu, von Recycling noch kaum die Rede. Selbstredend neu: die Band, die sich Neu! nennt und mit „Hallogallo“ einen Überraschungscoup landet. Überhaupt, der Krautrock, Abteilung Elektronik &. Frickelei, personifiziert durch Neu!, Kraftwerk, Ashra Tempel und Tangerine Dream, pioniert – von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt-genialisch und folgenschwer vor sich hin. Genauso neu: die rasende Entwicklung der Tontechnik. In jenem Jahr sitzen Pink Floyd mit Alan Parsons in den Abbey Road Studios und erschaffen THE DARK SIDE OF THE MOON, ein Album, das seinen monumentalen Erfolg nicht zuletzt auch dem zuvor kaum möglichen perfekten Klangdesign verdankt. Schöne neue Studiowelt – manche benutzen sie zur egozentrischen Gigantonomie wie die erschreckend erfolgreichen Emerson, Lake & Palmer, andere wie der walisische Einzelganger Mike Oldfield sehen sich endlich in der Lage, ihre autistischen New Age-Phantasien (TUBULAR Bells) im Alleingangumzusetzen. Und tatsächlich, sogar Status Quo sind neu, obwohl es sie schon eine Weile gibt. Sie haben auf pile-DRIVER den Trick gefunden, für den sie fortan berüchtigt bleiben. Sie alle wissen: Rock bleibt, Geld wird fließen, Ideologie verkauft sich – und Erfolg macht sexy. Ob die These vom Verlust der Unschuld haltbar ist, darüber mögen die Feuilletons streiten. Gesichertes kann der Autor allenfalls in eigener Sache vorbringen: Mit der pubertären Unschuld ist es in jenem Jahr nicht mehr weit her. Erste Freundin, erster Joint, erste Ehrenrunde, erstes Konzert. The Who in der Essener Grugahalle. Pfeifende Ohren, Vandalismus und fliegende Gitarrensplitter. Wonnen für den 15-Jährigen.

Nur die WAZ mault: ….. Gitarrist (sie) Pete Townshend, diese unheimlich lange, dürre Latte, stolzierte in einer Art Matrosenanzug ziellos über die Bühne und machte Spässchen, die kein Mensch verstand…“ Auch der Autor nicht. Aber: Englisch muss niemand können, der Rock verstehen will. Dazu reichen Sound and Vision: Neue Helden warten im Dutzend im heimischen Radio. David Bowie, der in diesem Sommer unsterblich wird. Als „Ziggy Stardust“ schafft er den Durchbruch und haucht dem Glampop künstlerische Relevanz ein. Wie auch Roxy Music, das gemeinsame Glam-Szenario von Rockdandy Brian Ferry und Klangfreak Brian Eno. Nebenbei bringt Bowie den englischen Teens das Schminken bei und produziert 1972 noch drei (!) Klassiker: ReedsTRANSformer, Mott The Hooples all the YOUNG DUDES Und RAW POWER von Freund Iggy Pop und den Stooges.

Neuerdings geht auch in Deutschland was: Etwa mit diesem blassen Jüngling, der deutsche Textzeilen schnoddert. Lindenberg heißt er, und sein „Daumen im Wind“ klingt so selbst-verständlich, dass man sich fragt, wieso niemand sonst gute Texte in Goethes Sprache zustande bringt. Die Einzigen, die mithalten können, sind Ton, Steine, Scherben. Deren Politslogans taugen zum Marschieren gegen den Vietnamkrieg. Das aber tun nur halb so viele, wie einen die verklärte 7os-Geschichtsschreibung heute glauben machen will. Kids wanna rock. Mit jedem Jahr mehr.«