Kurz und Klein
Zum Ende des Jahres schauen wir in unsere Plattenkiste und stellen fest: Da sind ja noch lecker Sachen drin, die wir übersehen, vergessen, unseren Lesern aus sonstigem schlechtem Grund verschwiegen haben. Dafür gibt es jetzt aber auch eine liebesfestliche „Kurz und Klein“-Sonderedition: mit nur guten Tonträgern nämlich! (Jubilieren Sie jetzt!) Verstärkung beim Jubilieren holt man sich am besten bei The Choir Practice aus Kanada. Das Kollektiv junger, hübscher Menschen hat zwar nach eigener Behauptung nur nach einer Ausrede gesucht, „Wein zu trinken und mit Freunden zu singen“. Doch schön singen sie, die 14 Musiker, Filmemacher, Künstler, Modeschöpfer und Radioproduzenten, produziert von Kurt Dahle (The New Pornographers). Und Wein trinken sie offenbar nicht zu viel, sonst würden sie nicht all die schönen Töne treffen, die hauptsächlich Coco Culbertson (The Gay, A.C. Newman Band) im Stil des selbstvergessenen 6oer-Folkpops komponiert hat. Jungfräuliche Lieder irgendwo zwischen Mamas, Papas und der charmanten Naivität des legendären „Langley Schools Music Projects“ gibt’s auf the choir practice (Mint/Broken Silence). Na, wenn das nichts für Weihnachten ist!
Ein hohes Maß an Lieblichkeit und eine gewisse Naivität liegt auch in der Stimme von Lisa von Billerbeck. Der Pop ihrer Kapelle I MightBe Wrong beruht darüber hinaus jedoch auf weitaus handfesteren Formen und Formaten. Indietronica will das jeder sofort nennen, weil es einen so doll schlüsselreizt, wenn es immerfort tronisch zwitschert und tweekt unter den Liedern. Dabei ist das hier – dieses LP-Debüt heißt übrigens IT TENDS TO FLOW FROM HIGH TO LOW (SinnbuS/Alive) – einfach nur hübscher, traditionell melancholischer Gitarrenpop, wie ihn die Sundays zwar nicht erfunden haben, aber … Sagt mal, wo kommt dieser Pop eigentlich her? Wer hat ihn erfunden – und warum gibt es darüber keine Bücher? Nur immer über: die Beatles, den Punk und Led Zeppelin.
Donna Regina klingen sowieso und weiterhin, als wäre ihnen all das egal. Die Beatles, Punk, Led Zeppelin – egal. Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Und wenn diese These seit gefühlt 20 Jahren jemand musikalisch perfekt umgesetzt hat, dann Regina Janssen und Günther Janssen. Ihr Pop ist wie stundenlanges Riesenradfahren, ganz allein, beschienen nur vom Ampellicht von der Straßenkreuzung gleich neben dem Volkspark, betäubt von der beharrlichen Banalität der Schönheit in so ziemlich allen Dingen. Riesenrad und Ampel habe ich mir ganz ungeniert vom Cover abgeschaut (more, freilichst auf Karaoke Kalk/Indigo). Sorry, meine Fantasie erledigt zur Zeit nur gerade die Weihnachtseinkäufe.
Bestimmt lässt sie sich von den Dirty Projectors aus der Fußgängerzone locken. Unbedingt auch ein Fall für Weihnachten, das vierte Album rise above (Rough Trade/Beggars/Indigo) von David Longstreth und seinen (wechselnden) musikalischen Freunden aus Brooklyn und um Brooklyn herum. Weil: Weihnachten hat man ja meist ein bisschen Zeit. Und die braucht man für diese Platte, definitiv. Asiatisch anmutendes Jodeling, wie rückwärts eingesungene Frauenchöre, Afrobeats, Chk-Chk-Wah-Wah-Gitarren, Breaks aus heiterem Himmel, eben auch mal ein E für ein U vormachen und das auch noch bei einem gewissen Glamfaktor. Wunderweltenpop. Wunderlichweltenpop, sogar, weil: rise above ist eine quasi „gefühlte“ Coverversion des Black-Flag-HC-Album-Urgesteins damaged. Allerdings hat es Longstreth aus der Erinnerung gecovert (und dabei gleich ein paar Songs weggelassen). Eine Interpretation frei wie … auf jeden Fall sollte die Fantasie hierbei einen eigenen Kopfhörereingang reserviert bekommen!
Bleiben wir beim Thema: Als erklärter Nodrugs- bzw. Höchstenssuffkopp kann der Autor dieses ständige „Boah, was die sich wohl eingeworfen haben, als sie das aufgenommen haben“-Gerede bei der Gewahrnahme etwas weirderer Platten nur schwer ertragen. Auch wenn es erklärte Drogenmusik geben mag (meist ist gerade die unendlich dröge): Oft ist allein die Frage, welche Gitarrensaiten jemand aufgezogen hat, weitaus entscheidender fürs musikalische Ergebnis. Und was das mit dem großartigen Folk von Phosphorescent zu tun hat? Nun, bestimmt pfeift sich Matthew Houck, der außer der Stimmen anderer Leute (Chöre randvoller Anmut und Andacht) alle Sounds auf pride (Dead Oceans/Cargo) selbst erzeugt hat, auch gerne mal was rein {„In the darkness after the cocaine lights I will miss you‘ singt er sogar). Nur: Wenn so viele Luft durch deine Lieder ziehen soll, die Einflüsse frei und klar fließen wie hoffentlich alle Bäche in Houcks Heimat Alabama (inzwischen wohnt auch er in: Brooklyn, NYC), solltest du die Fenster deines Bewusstseins möglichst weit offen stehen lassen. Sag ich mal.
So wie bei Ryan Adams samt Cardinais. Hoffe ich mal. Der outputet sich ja zumindest quantitativ (und für so einige auch qualitativ) zielstrebig an das Repertoire von Dylan oder Zappa heran, auch wenn es viele seiner unzähligen Songs immer noch nicht so einfach zu kaufen gibt. Nun legte er unlängst mit everybody knows (Mercury/Universal) eine EP obendrauf, die auch nicht weniger als für Weihnachten empfohlen werden soll. Ja, das ist fast schon radioverdächtiger Countryfolkpop. Balladesk, mit verhaltenem Twang, zum… Kuscheln. Nur für die Fans kein richtiges Fest: Einen Teil der Songs haben sie schon, die EP wirkt zusammengewürfelt – der Output von Adams bleibt für Mercury schwer beherrschbar.
Das geht Blitzen Trapper mit ihrem Instrumentarium ganz ähnlich, oder? Nee, die schiefe, sechsköpfige (und zwölfhändige etc.) Kapelle aus Portland tut nur so und baut schon in den Opener „Devil’s A-Go-Go“ (sie!) ihres dritten Albums wild Mountain Nation (SubPop/Cargo) so viele mutwillige Beatlesken, Stolperbreaks und Extremschrammeleien ein, dass einem fast zappaesk werden könnte. Doch immer wieder kriegen sie sich ein, bleiben mit einem beinahe zeppelinesken Riff in der Spur oder legen sich noch näher zu den Beatles und kugeln dort ein wenig herum. Weil: den Punk nie vergessen! Alles in allem: Pop wie frisch dressierter Salat.
Wer sich die ganze Zeit über gefragt hat „Wo bleibt denn hier der Es-ist-einfach-Rockmusik-Rock?“, bekommt sein spätes Rubrikgeschenk mit the fortune teller said (PIAS/ Rough Trade) von Rhesus aus Grenoble. Der Gesang leicht verraucht, die Akkorde immer 16tel, das Schlagzeug voll und ganz Takthalter, das ganze (zweite) Album eine große Überraschungsfreiheit. Warum es trotzdem okay ist? Okay und trotzdem von Cock Robin und Psychedelic Fürs gemeinsam aufgenommen sein könnte? Leute, das ist unser Weihnachtsrätsel!