Emotionen für Millionen


Panic! At The Disco und My Chemical Romance haben einen raketenhaften Aufstieg erlebt. Bei Arena-Konzerten in Las Vegas und San Diego trifft ME die Bands.die nun beide denselben Wunsch haben: sich endlich von dem Fluch Emo zu befreien.

Weil das Leben zu lebendig ist, um immer und überall perfekt zu sein, hat das triumphale Homecoming-Konzertvon Panic! At The Disco einen Schönheitsfleck. Nach einer gigantischen Tournee, die die vierjungen Männer zu Stars gemacht und mehrmals um dieganze Welt geführt hat, hätte die Show in Las Vegas The-Orleans-Arena am 8. Dezemberdie letzte sein sollen. „Wir müssen morgen noch in San Diego spielen. Das Heßsich einfach nicht anders planen „, sagt Gitarrist Ryan Ross kopfschüttelnd. Anstatt die Rückkehr in ihre Heimatstadt zu genießen, anstatt endlich Zeit mit Freunden und den Familien zu verbringen, die seit dem Überraschungserfolg von a fever you can’t sweat out nicht viel von ihren Söhnen gesehen haben, muss sich die Band nach den Gesetzen eines typischen Morgens-rein-abends-raus-Tages richten: Ankunft im Tourbus, duschen, essen, Soundcheck, Interviews, essen, Konzert, Abfahrt im Tourbus.

Zwischen den Programmpunkten: Leerlauf. Und doch gerade nie genug Zeit, um etwas Sinnvolles zu unternehmen. Man signiert ein paar Poster, spielt mit dem Laptop oder telefoniert mit einem Freund. Ryan entschließt sich zu einem kurzen Rundgang durchs Hotel. „Hier hah‘ ich meineHigh-School-Abschlussfeiergehabt“, sagt er und lächelt. „Undjetzt spielen wirhierein Konzert.“

Das The Orleans liegt ein gutes Stück vom Strip entfernt und ist für Las Vegas nicht unbedingt typisch. Das Hotel und Casino an derTropicana Avenue ist- ganz ähnlich dem von The Killers besungenen „Sam ’s Town“ – eine überraschend sympathische Vergnügungsstätte der Arbeiterklasse: Rentner kreuzen hier am Rollator durch die großen Hallen, freundliche Familien spazieren ungeniert im Jogging-Anzug umher, und ein paar der einarmigen Banditen werden sogar von mexikanischen Straßenarbeitern mit teerschwarzen Händen bedient. Dass die aufgeregten Teenager, die an diesem Abend vom Parkplatz hereinströmen und in kleinen Gruppen durch das Automaten-Labyrinth zum Halleneingang eilen, eigentlich als Minderjährige an der Spielhalle vorbeigeleitet werden müssten, stört hier offenbar niemand.

The Orleans ist ein fast romantischer Ort mit einer beeindruckend großen Arena, die Ryan vor seiner Rückkehr in den Backstage-Bereich mit einem Anflug von Ergriffenheit durchquert. „In dieser Halle hab’ich mein Zeugnis bekommen „, sagt er und dreht sich einmal um sich selbst.

„Das fühlt sich schon ziemlich sonderbar an. In weniger als einer Stunde werden fast alle Plätze besetzt sein – es ist das größte Konzert, das die Band bisher als Headliner gespielt hat. „Das ist überhaupt erst unsere sechste Show in Las Vegas „, sagt Ryan nach kurzem Nachdenken. „Wir haben ja vor unserer ersten großen Tournee gar nicht live gespielt.“

Du wirst heute uor sehr uielen Leuten auf der Bühne stehen. Macht dich das noch nervös?

RYAN: Das macht mir nichts aus. Aber als wir mit den Konzerten angefangen haben, war mir das schon noch ziemlich unangenehm – fremde Leute haben plötzlich die ganzen Lieder mitgesungen, die ich geschrieben habe. Manche Texte sind so persönlich, dass ich das irgendwie erst mal verstörend fand. Aber das hab‘ ich irgendwann überwunden, und inzwischen haben wir alle eine Art Alter Ego für die Bühne entwickelt. Bei Brendon ist das extrem: Der legt einfach einen Schalter um und wird ein anderer Mensch, ein großartiger Showmaster. Wir tragen dann auch nicht mehr die Klamotten, die wir jetzt anhaben -auch das erleichtert, in eine andere Rolle zu schlüpfen. Ein stiller, introvertierter Charakter ist auf der Bühne ja nicht so besonders interessant.

Ihr schlüpft in eine Rolle und spürt keinen Druck mehr? So große Shoivs können doch noch keine Routine-Angelegenheit sein…

ryan: Konzerte sind wirklich nicht stressig. Das Reisen, die Vorbereitungen , die Interviews – alles um die Auftritte herum ist manchmal anstrengend. Aber das mit dem Druck haben wir ganz gut im Griff. Wir halten da auch unsere Egos raus – wir ziehen uns an dem ganzen Wahnsinn nicht hoch. Wir gehen einfach jeden Tag konzentriert an die Arbeit. Die vielen Awards, die Verkaufszahlen, das ist alles toll, aber gemeinsam an einem neuen Song zu arbeiten, bedeutet so viel mehr. Erst wenn man aus den Augen verliert, warum man Musik macht, wird es gefährlich…

Derart abgeklärte Statements wurde man dem 19-jährigen wohl übel nehmen, ließe er sie nicht mit einer beeindruckenden Souveränität vom Stapel. Es ist ganz offensichtlich viel passiert, seit Panic! At The Disco Anfang 2005 von ihrem Entdecker und Labelchef Pete Wentz als „die grünste Band, die ich je getroffen habe“ bezeichnet wurden: Heute sehen sie mit professioneller Gelassenheit einer Show entgegen, bei der sie mit dem Repertoire von nur einem Album vor knapp 8000 Leuten als Headliner spielen werden. Nicht übel für eine kleine Emo -Band. Aber Moment…

„Panic! At The Disco als Emo zu bezeichnen, istignorant“, sagte Brendon Urie dem NME im letzten Herbst. Nachdem sowohl Panic! als auch My Chemical Romance bei ihren Auftritten beim englischen Reading-Festival mit Flaschen beworfen worden waren (Brendon wurde am Kopf getroffen und war kurzzeitig ohnmächtig), hatte das Magazin beide Bands unter der Überschrift „War on Emo“ auf den Titel genommen.

„Das Klischee ist doch, dass Typen, die schwach und Beziehungsversager sind, Songs darüber schreiben, wie traurig sie sind. Nichteines unserer Liedergeht in diese Richtung. Emo ist Bulhhit.“ Eine klare Ansage. Allerdings – hat Brendon überhaupt verstanden, was Emo ist, wenn er selbst nur mit dem Klischee argumentiert? Ist Emo nicht viel mehr als das Klischee? Eine Frage, die kaum jemand aus dem Stegreif beantworten kann. „Wir sind schon eine emotionale Band“, meint Brendon. „Aber die Leute wollen unsständig in eine Schublade stecken. Undin dieEmo-Schublade passen wir einfach nicht.“

Wie es aussieht in einer Emo-Schublade, darüber wird seit Monaten viel spekuliert. Panic! At The Disco werden dem Genre hartnäckig zugerechnet, waren aber selbst nie Teil einer entsprechenden Szene. „Es gibt überhaupt keine Szene in dieser Stadt. Neid, Missgunst, Konkurrenz was hier abgeht, ist ziemlich seltsam“, sagt Ryan Ross. Jeder denkt sich, ,Wenn wir es nicht schaffen, dann schafft es hoffentlich auch keine andere Band aus unserem Proberaum, ein Konzert auf die Beine zu stellen.'“

Es ist nicht verwunderlich, dass Las Vegas – die Paris Hilton unter den Weltmetropolen – kein fruchtbarer Boden für ein Genre ist, das so viel mit Schmerz, Sensibilität und Solidarität zu tun hat. Gerade was nicht Emo ist, liegt in Las Vegas auf der Hand: der geschmacklose PTunk, die verschwenderischen Golf-Clubs, die aufgespritzten Lippen, das falsche CBGBs, die traurigen Strip-Bars, die affigen Limousinen und vor allem die Horden von rundgesichtigen Texanern, die mit Margaritas durch die Alleen aus bimmelnden Automaten wanken. Jeder Schritt am Strip ist eine Beleidigung des guten Geschmacks. Wer nach Emo – oder auch nur nach ein bisschen Wahrhaftigkeit – sucht, hat am Las Vegas Boulevard nichts verloren.

„Der Strip ist die eine Seite – aber Vegas kann auch eine ganz normaleStadtsein“, sagt Ryan. „Von den Casinos bekommstdu als Jugendlicher nicht so viel mit. „Tatsächlich zeigt Las Vegas an seinen Rändern ein anderes Gesicht. Weitim Westen, wo monotone Siedlungen aus billigen

Einfamilienhäusern an die steinige Wüste grenzen, herrscht die öde Normalität, die die Außenbezirke vieler amerikanischer Großstädte so austauschbar macht. Hier draußen, in einem besonders gesichtslosen Viertel, steht die Palo Verde High School im Schatten ihres eigenen Football-Stadions. Auf dem Campus, auf dem vor knapp drei Jahren das für die Entstehung von Panic! AtThe Disco entscheidende Gespräch stattgefunden hat – Ex-Bassist Brent Wilson bat damals Brendon, als Gitarrist und Sängerin die Band einzusteigen, die er mit Ryan Ross und Schlagzeuger Spencer Smith gegründet hatte -, üben am Nachmittag des Konzerts einige Teenager in schwarzen Hoodies Skateboard-Tricks. Sie sind schüchtern, tauen aber schnell auf, als der Name der Band fällt. „Mein Bruder kannte Brendon „, erzäht ein schwarzhaariger Junge mit Plan-B-T-Shirt und Zahnspange stolz. „Der war cool. Panic! sind ganz okay. Ob wir auf das Konzert gehen? Nein. Zu reuer.“ Auf die Frage, wie man die Musik bezeichnen könnte, zögern sie. „Hmm …so neArt Emo „, sagt einer von ihnen schließlich vorsichtig.

Emo Oder nicht- die ShOW, die Panic! AtThe Disco am Abend im The Orleans spielen, ist ihr Geld wert. Die Band hat die Bühne wie ein Variete-Theater aus dem 19. Jahrhundert dekoriert – Inspiration für Set-Design und Garderobe könnte das „Tonight, Tonight“-Video der Smashing Pumpkins gewesen sein – und inszeniert die Songs mit einer ausgelassenen Extrovertiertheit, die bisweilen fast an Clownerei grenzt: Bei „It’s Better If You Do“ spielen Tänzerinnen mit Bällen und Hula-Hoop-Reifen, schälen sich dann aus ihren Klein-Mädchen-Outfits und räkeln sich in Unterwäsche auf Brendons Piano; bei der großartigen Interpretation von „Eleanor Rigby“ schleichen Statisten wie Zombies über die Bühne und illustrieren damit „all the lonely people“ schlichter und effektiver, als es die Akrobaten der Blue Man Group jeden Abend ein paar Meilen östlich im Beatles-Musical „Love“ tun; ein Stelzenläufer stakst beinahe graziös über die Bühne, während Brendon, tief über die Tasten gebeugt, ein modernes Klaviersolo spielt, das in einen kabarettartigen Walzer übergeht. Mittendrin: eine kurze Pause, in der ein Pantomime-Künstler das Publikum zu absoluter Stille bringt (Was für ein kurioser Moment in einem Arena-Konzert!), die anhält, bis er ein „Panic!“-Schild hervorzaubert. Als er mit rudernden Armen die Halle zu ohrenbetäubendem Jubel animiert, marschieren die Band, die Begleitmusikerund Tänzer mit umgeschnallten Marching-Drums ein, stellen sich am Bühnenrand auf und trommeln ein bombastisches Set aus verschiedenen Rhythmen. Nachdem das Konzert mit „Constantly Thank God For Esteban“ und „Build God, Then We’ll Talk“ (Ersteres mit einer ekstatischen Massentanz-Szene wie in The Rocky Horror Picture Shows „Time Warp“) geendet hat, liest man in vielen strahlenden Gesichtern der Gäste, dass sie eines der beglückendsten Konzerte ihres Lebens gesehen haben. Der nächste Tag in San DiegO gleicht dem in Las Vegas bis ins Detail: eine identisch aufgebaute Arena, ein zum Verwechseln ähnlicher Backstage-Bereich, Meet-and-Greet-Veranstaltungen mit austauschbar gestylten Fans. Der einzige Unterschied: Gitarrist Ryan Ross und Bassist Jon Walker müssen sich in einem der vielen Interviews am Nachmittag mal wieder mit dem ungeliebten Thema Emo herumärgern. Es gibt Journalisten, die können da einfach nicht lockerlassen…

Bei kaum einer anderen Band wird mit solcher Leidenschaft darüber diskutiert, welchem Genre die Musik zugeordnet werden kann.

RYAN (stöhnt): Es frustriert die Leute offenbar, dass sie uns nicht einordnen können.

JON: Ich habe selbst nie eine Antwort, wenn mich Leute nach der Art von Musik fragen, die wir spielen.

Auf Emo reagiert ihr regelrecht allergisch. Empfindet ihr diese Kategorisierung als Beleidigung?

JON: Es ist einfach nur faul, eine Band einem Subgenre zuzuordnen, auch wenn es hinten und vorne nicht passt. Dann finden Leute deine Band doof- oder sie hören sich nicht mal einen einzigen Song an -, weil es ja angeblich „eine Emo-Band“ ist. Meine Güte.

RYAN: The Smashing Pumpkins waren doch auch einfach eine Rockband. Niemand hat damals darüber diskutiert, ob das nicht vielleicht auch Emo sein könnte.

Wisst ihr, was Emo ist?

ryan: Ich weiß nicht, ob es darauf eine endgültige Antwort gibt. Es gibt immer noch kein „Emo“-Fach im Plattenladen. (Anm. d. Red.: Falsch. Der größte Tower-Records-Store der Welt in Tokio hat gleich am Eingang ein ganzes „Emo“-Regal.Mitte Januar waren dort mitWarhol’scher Liebe zur Wiederholung stapelweise die aktuellen CDs von Panic! AtThe Disco und My Chemical Romance aufgereiht.) JON: Angeblich waren Sunny Day Real Estate Emo. Das hat mir neulich jemand erzählt.

RYAN: Die sogenannten „echten Emo-Bands“ hab‘ ich mir nie angehört. Also bin ich von Emo auch nicht beeinflusst. Ich weiß wenig über das Genre. Aber es ist eben zur Zeit das neue Ding- jeder will eine neue Band als Emo-Band bezeichnen.

Und fast jede Band befällt das nackte Grausen.

JON: Aber lieber Emo als Punk.

RYAN: Wir wurden auch schon als Punk bezeichnet. „Dance-Punk“. Das ist doch total komisch. So ein Schwachsinn.

Oh, „Dance-Punk . Der Begriff wurde mit Bands wie The Faint und Radio 4 wieder richtig populär.

RYAN: Und finden die das gut?

Meine Vermutung: nein.

RYAN: Vielleicht will ja keine Band das sein, als was sie von den Medien bezeichnet wird?

jon: Ob sich U2 wohl selbst als Rockband sehen? Sie sind ja eigentlich die ultimative Rockband. Oder was sind dann Green Day? RYAN: „Punkrock“. Sind sie aber ja eigentlich auch nicht. ION: Aber wie bezeichnen die sich wohl selbst? Ich frag mich, ob irgendeine Band genau sagen kann, in welches musikalische Subgenre sie einzuordnen wäre … RYAN: Manche Bands schreiben schon auf ihre MySpace-Seite: „Rock, Emo, Posthardcore.

ION: Was steht bei uns?

RYAN: „Rock, Bis Beat, Techno.‘ Womit das endlich geklärt wäre.

Der Tourbus der Band aus Las Vegas ist am frühen Morgen kaum abgefahren, da istderselbe Parkplatz hinterderSports-Arena schon wieder besetzt: Es istein kurioserZufall, dass am Tag nach dem Tour-Finale von Panic! ausgerechnet My Chemical Romance für eine Show nach San Diego kommen. Bevorsie in der gleichen Halleauf dergleichen Bühne wiedie Band spielen werden, die das gleiche Problem wie sie hat, sind auch sie mit den ewig gleichen Tour-Verpflichtungen beschäftigt: Die Bandmitglieder signieren Poster, sprechen mit Reportern und stellen sich für ein ausführliches Meet-and-Greetmit Hörern eines örtlichen Radiosenders zur Verfügung. „Das war so ein Tag, an dem es morgens nach dem Aufstehen losging, und dann war jede Minute irgendwas zu tun „, sagt Sänger Gerard Way, während er seinen Namen sorgfältig aufTHE BLACK PARADE-Poster schreibt. „Undbiszum Konzertgeht das so weiter. Solche Tage sind nicht gut. „Sein Tourmanager reicht ihm eine Tasse Kamillentee, denn Gerard ist heiser. Journalisten werden ermahnt, beim Interview ihre Fragen an den Schlagzeuger Bob Bryar zu richten, damit die Stimme des Sängers geschont wird. Der allerdings hält es in der Rolle des stillen Beobachters keine Minute aus …

My Chemical Romance sindjahrelang im Van durch die USA getourtihr habt in fast allen kleinen Clubs im Land gespielt. Heute findet der Auftritt in einer Arena statt, in der auch Michael Jackson zu seiner besten Zeit gespielt hat. Ein gutes Gefühl?

BOB: Vor ein paar Monaten noch saßen wir vor solchen Shows hinter der Bühne und waren ziemlich überwältigt…

GER ARD: Bei THREE CHEERS for sweet revenge ist mir das noch sehr schwer gefallen. Jetzt genieße ich das und – was komisch ist – schäme mich manchmal ein bisschen dafür. Ich hab‘ ab und zu das Gefühl, dass ich das nicht verdient habe: „Wenn ich zulasse, dass ich gerne vor so einergroßen Menge stehe, bin ich dann ein Rockstar-Arschloch?“ Es ist aber nicht gut, gegen deine Gefühle anzukämpfen, wenn du vor 16000 Leuten spielst. Heute werfe ich mich mit Haut und Haar rein – ich liebe es, in einem Stadion zu stehen. Da gehört diese Band auch hin. Ich hab‘ lange gebraucht, um das zu verstehen.

Für das Album the black parade bist du in die Rolle eines unheilbar kranken Patienten geschlüpft. Hast du dich als Cerard Way nicht mehr wohlgefühlt?

gerard: Ich wollte mich neu erfinden. Das war auch ein Weg, um mit dem Ruhm und dem ganzen Celebrity-Scheiß umzugehen. Und wir haben uns gleichzeitig ein Thema gestellt, das uns künstlerisch herausgefordert hat. Die nächsten 15 Jahre immer das Gleiche zu machen, wäre keine Option gewesen. Wir wollten radikal sein, auch Leute vor den Kopfstoßen, damit sie ihre vorgefassten Meinungen überdenken.

Viele Leute kommen heute Abend ganz in Schwarz. Warum entwickeln eurer Fans oft eine regelrechte Besessenheit mit My Chemical Romance?

Ger ard (leidenschaftlich) : Weil das, was wir machen, wahrhaftig ist. Die Menschen spüren das, wenn eine Band auf der Bühne so viele Emotionen durchlebt. Es ist einfach echt.

Nun, auf der anderen Seite ist da auch uiel Mythos dabei…

GERARD: Auf jeden Fall. Manchmal ist es fast so echt, dass das wieder zu einem Mythos wird: „Er ist so ,real‘, er ist ein offenes Buch“dabei achte ich durchaus darauf, dass mein Privatleben auch privat bleibt. Das ist ja eine Bühnenfigur. Nicht nur bei the Black parade – das war bei My Chemical Romance schon immer so. Aber diese Figur hat ja durchaus auch etwas Wahrhaftiges. bob: In den 60 Minuten auf der Bühne lassen wir alle Emotionen raus alle Probleme, die uns bedrücken. Und die Fans sind ein Teil davon: Die schreien einfach auch alles raus und vergessen für eine Weile, was in ihren Leben scheiße läuft. Schreien, Probleme, Emotionen -eigentlich ein ausgezeichneter Zeitpunkt, um ein paar Fragen nach Emo einzustreuen. Doch wie Panic! At The Disco reagieren auch My Chemical Romance äußerst sensibel auf dieses Thema. „Emo ist nur ein Schlagwort, mit dem Plattenläden CDs verkaufen wollen „, behauptete Bassist und Gerards Bruder Mikey Way im Herbst im NME. Die Band ist der Ansicht, dass es „seit etwa 1995 keine Emo-Szene mehr“ gab, und will mit dem Genre nicht in Verbindung gebracht werden. Da ein Interview mit ARTE „Tracks“ offenbar unter anderem wegen zu hartnäckiger Fragen nach Emo schiefgelaufen ist („Wir durften dann die Show nicht mehr filmen – das hatte noch ein langes Nachspiel“, so eine Redakteurin der Sendung), wurde uns im Vorfeld der Reise mehrfach von der Plattenfirma geraten, die Band nicht direkt mit dem heiklen Wörtchen zu konfrontieren. Da wir- so albern dieser Eiertanz auch erscheinen mag- nicht riskieren wollen, My Chemical Romance so kurz vor der Show aus der Fassung zu bringen, verschieben wir das Thema also auf später.

„Mein Hals ist schon uiel besser“, berichtet Gerard Way zufrieden, als sich die Band einige Minuten vor der Show an der Rampe zur Bühne versammelt. Nach einem kleinen Ritual – Gerard, Mikey, Bob und die Gitarristen Frank lero und Ray Toro stellen sich mit der gesamten Crew auf und marschieren wie die Pinguine auf und ab, bis sich jeder mit jedem abgeklatscht hat – gehen sie mit fest entschlossenen Schritten nach draußen, wo sie mit begeistertem [übel empfangen werden.

Die Show ist ein gänzlich anderes Erlebnis als die am Abend zuvor: Während Panic! At The Disco ihr Publikum mit akustisch und visuell perfekt durcharrangiertem Entertainment gefesselt haben, setzen My Chemical Romance andere Schwerpunkte: Schwarz gekleidet auf einer schwarzen Bühne bauen sie eine bombastische Klangwand auf, die die Luft in der Halle zum Beben bringt. Der Sound und die Songs sind gewaltig und die Musiker verausgaben sich, wie zuvor im Interview ver- -»

-» sprachen, völlig. Ray Toro spielt eine böse Metalgitarre, Bob drischt auf seine Trommeln ein, bis er in Schweiß gebadet ist, und G erard wirkt wach, klar und zu jeder Sekunde einhundertprozentig engagiert. Ein paar wenige musikalische Durchhänger – die aktuelle Single „Famous Last Words“ hat einen der schlimmsten Classic-Rock-Refrains seit REO Speedwagon – ändern nichts daran, dass My Chemical Romance als Stadionband überzeugen. Gerard beweist im Dialog mit dem Publikum immer wieder Showmaster-Qualitäten: Ein herrlich kitschiger Höhepunkt ist der Anfang von „Cancer“, bei dem er die ganze Arena eine Melodie singen lässt, zu der er dann am Piano das Intro des Songs einspielt. Bereits bei den ersten kraftvollen Zeilen „Turn away ifyou couldget me a drink ofwater, because my lips are chapped andfaded…“ schwenken so viele Leute ihre Handys, dass sich die Halle in ein wogendes Meer aus bläulich schimmernden Displays verwandelt. Arena-weites Toben bricht schließlich beim letzten Song „Helena“ aus, und das Publikum singt die kolossale Punk-Hymne ab dem zweiten Refrain gut hörbar allein nach Hause, obwohl die Band kein kleines bisschen leiser spielt.

Keine fünf Minuten nach dem Ende der Show schreiben Gerard und Mikey geduldig Autogramme und lassen sich lächelnd mit einigen jungen Fans fotografieren. Sie bedanken sich artig und aufrichtig für Komplimente, bevor sie sich ins Produktionsbüro zurückziehen, wo sie mit fast beängstigender Disziplin erneut hunderte von Postern signieren. Höchste Zeit, ein paar letzte Fragen loszuwerden …

ME: Ich hab’mit einigen Fans gesprochen. Ich sag sja nur ungern, aber viele bezeichnen euch als Emo-Band…

GERARD (sofort aufgebracht) : Wir sind eine fucking Rockband! Wenn man in 20 Jahren über uns schreiben wird, dann wird da Rockband stehen! Emo wird eine Fußnote sein- wenn das dann überhaupt als Begriff noch existiert. Die Smashing Pumpkins wurden auch als Grungeband bezeichnet – totaler Blödsinn, das war eine Rockband und sonst nichts.

ME: Was stört euch so an dem Begriff Emo?

GERARD: Gelangweilt. Und überhaupt hatte diese Band noch nie was mit Emo zu tun. Wir waren am Anfang schon so Nicht-Emo, dass uns niemand auf Emo -Tourneen mitnehmen wollte. Die einzigen, die uns mit auf Tour genommen haben, waren christliche Hardcore-Bands-obwohl wir das genaue Gegenteil waren. Danach waren wir auch auf lndie-Tourneen mit Minus The Bear, und eine Woche später haben wir Support für Underoath gespielt. Wir haben nie irgendwo reingepasst.

Ein SChÖnes Fazit. Und Warum soll man es dabei nicht belassen? Da sich My Chemical Romance auf eine Vertiefung dieser Diskussion nicht einlassen werden, müssen wir selbst noch einmal über das Wort meditieren. Ist Emo ein Genre? Ist es je eines gewesen? Ist der Begriff vielleicht nur deshalb so schwer zu greifen, weil er – ganz ähnlich wie zum Beispiel „Pop“ – heute etwas ganz anderes bedeutet als noch Mitte der 8oer-Jahre? bitte übernehmen.