Die Spätstarter-Stadt


Nach London, wo sonst alles anfängt, mußte der neue Gitarrenrock erst importiert werden. Jetzt kocht die Stadt um so heißer.

Alles begann mit einem Demotape. Paul Cox – Gründer des Indie-Labels Too Pure, wo PJ Harvey groß wurde, dazu Clubchef und DJ – hatte sich im Büro von Geoff Travis eingefunden. Er wollte ein Buch schreiben über Rough Trade, das Label und den Laden, die ihn musikalisch geprägt hatten. Travis spielte ihm das Tape einer jungen New Yorker Band vor, die er unter Vertrag zu nehmen gedenke: The Strokes. Cox war begeistert. Noch begeisterter war er, als sie wenig später im Barfly live auftraten: „Hier war endlich eine Band, die einen Bezug herstellte zu allem, was ich an New Wave geschätzt hatte.“ Der gleichzeitige Durchbruch von White Stripes, Hives und ein paar australischen Rotzrockkombos erweckte den guten alten Spaß an ideologischen Grundsatzdiskussionen, die New Wave, Britpop und sogar die Beatles/Stones-Zeiten so unterhaltsam gemacht hatten, zu neuem Leben: hier die Strokes-Fans, denen die White Stripes zu bluesig waren, dort die White Stripes-Fans, die The Strokes für Hype hielten. „Hype hin oder her – der Wirbel löste was aus“, meint Cox. „In der fauligen Londoner Szene war nichts mehr los. Alles lief künstlichen Techno-Trends hinterher. Keiner traute sich mehr zur Gitarre greifen. Es brauchte einen Stoß von außen, um uns aus der verkorksten Situation rauszureißen.“ Auch in den dürren Jahren hatte es ein paar Lokale gegeben, die den wenigen verwegenen Gitarrenbands Unterschlupf geboten hatten. Zu wenig, um einen qualitativ akzeptablen Underground zu nähren. Zum Teil sei es peinlich gewesen, was die englischen Bands boten, die er als Vorgruppen für ausländische Gruppen buchte, berichtet Cox.

Auch für Chris Parkin, Musikredakteur beim Stadtmagazin Time Out, standen Strokes und White Stripes am Anfang: „Sie brachten eine neue Generation dazu, Television undVelvet Underground zu hören. Es dauerte aber, bis es den Londoner Bands gelang, nicht mehr bloß die Amerikaner und Skandinavier zu kopieren, sondern eigenständige Ideen zu entwickeln. The Libertines waren die ersten.“ Bands wie Bloc Party, die des öfteren vor zehn Zuschauern auftreten mußten, machten langsam von sich reden. Der NME fing an, von einer „Szene“ im Viertel New Cross zu berichten, die auf die Paradise Bar und den „Amersham Arms“-Pub konzentriert sei. „Die Szene war ein NME-Hype“, sagt Parkin. „Man ordnete ihr Bands zu, die mit New Cross nichts zu tun hatten. Aber immerhin existierten die Bands und die Lokale tatsächlich.“ Anderswo entdeckten Bands wie The Others und die Libertines die Freuden von „Guerilla-Gigs“ in Kneipen, U-Bahn-Wagen und Einkaufszentren.

Unterdessen ist eine Flut von Gitarrenbands, die im weitesten Sinne von New Wave und Post-Punk inspiriert sind, über London hereingebrochen. Das Panorama umfaßt Gruppen wie die Mystery Jets (Parkin: „Skipple-Prog“), die etwas konventionelleren Subways, Ladyfuzz, BurningpilotundThe Pipettes (alle beim Indie-Label Transgressive), The Boyfriends, The Licking Cunts, The Vichy Government, The Fucks, The Long Blondes, The Lovers Of Today und The Violets (Angular Rec), Special Needs, The Paddingtons, Echelon (Poptones Rec), Einzeltäter wie Kaito, Chenko, Towers Of London (eine Karambolage von Faces und Pistols) und die großartigen Noisettes (PJ Harvey trifft King Crimson). Das breit gefächerte Angebot wird von neuen und alten Lokalen reflektiert, etwa Dublin Castle und The Monarch (jetzt Barfly) in Camden, The Garage in Islington, The Windmill in Brixton, Pleasure Unit in Ostlondon, Luminaire in Kilburn und Notting Hill Arts Club, wo Rough Trade-Leute samstags von 16 bis 20 Uhr auflegen, notabene mit Gratiseintritt. Paul Cox hat sich in der Buffalo Bar neben der U-Bahnstation Highbury & Islington eingenistet und die Webzeitschrift Artrocker gestartet, die seit Oktober i4tägig auch gedruckt erscheint und bei Rough Trade und zu Konzerten aufliegt: „Zum Punkgeist gehörte es, daß die Bands Plattenproduktion und Konzertorganisation selber in die Hand nahmen „, sagt er. „Unsere Generation mußauch Medien undPR in den Griffbekommen. Der NME ist ja völlig in derTasche der Industrie.“ (P.S.: Das zeigt auch die Tatsache, daß der NME nicht bereit war, ohne Bezahlung zum Thema dieses Artikels Stellung zu nehmen).