Der Horizont verdunkelt sich


Böses Jahr, gutes Jahr?! Mit jedem Tag des Jahres 1969, der vergeht, wird deutlicher, dass das optimistische Lebensgefühl aus dem Summer Of Love 1967, das auch die Studentenrevolten des Jahres 1968 noch mit fröhlicher Partystimmung beflügelt hatte, der Vergangenheit angehört.

Zwar ist der Optimismus der 60er Jahre noch nicht ganz verflogen, der noch ungetrübte Glauben an die Segnungen des technischen Fortschritts kulminiert in der weltweiten Euphorie um die erste Mondlandung, aber politisch und gesellschaftlich beginnen sich die Flower-Power-Utopien bereits als Blütenträume herauszustellen. In den USA folgt auf den Demokraten Lyndon B. Johnson der Republikaner Richard Nixon als Präsident, das Klima zwischen dem Establishment und der neuen Gegenkultur wird gereizter. Im Frühjahr lässt der republikanische Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan, Studentenunruhen an der Universität von Berkeley von der Nationalgarde gewaltsam niederschlagen. Der pessimistische Schluss des Films „Easy Rider“ bringt die gewaltschwangere Stimmung zwischen der rebellierenden Jugend und dem verunsicherten Kleinbürgertum auf den Punkt.

Musikalisch geht 1969 als Jahr des ersten großen Festivalbooms in die Annalen ein. Erst zwei Jahre zuvor hat in Monterey das erste wirklich große Rock Open Air stattgefunden. Die „Three Days Of Love & Peace“ von Woodstock werden nun zum globalen Medienereignis. Doch der Open-Air-Sommer 1969 verläuft keineswegs so heiter, wie es uns der Woodstock-Mythos heute vorgaukelt. Vom gewaltigen Echo auf das Woodstock-Festival elektrisiert, versuchen nun Konzertpromoter überall in den USA, mit Open Airs das schnelle Geld zu machen. Begriffe wie „Logistik“ und „Sicherheitsvorkehrungen“ sind für sie Fremdwörter. Das organisatorische Chaos und die Tatsache, dass viele Rockfans in diesem Sommer gerade von Marihuana auf härtere Drogen und hochprozentigen Alkohol umsteigen, lässt vielerorts eine aggressive Atmosphäre entstehen. An Ostern gibt es bei einem Festival in Palm Springs Unruhen, bei denen 250 Fans verhaftet werden, ein Open Air in San Franzisko endet mit 350 Verletzten und 75 Verhaftungen, ein anderes in Denver säuft in Tränengasschwaden ab. Endgültig aber hätte das Desaster von Altaraont jegliche Open-Air-Mythenbildung zerstören müssen: Ein Mordopfer (der während des Auftritts der Rolling Stones direkt vor der Bühne von Hell’s Angels erstochene Meredith Hunter), drei Unfalltote und viele Verletzte stehen in der verheerenden Bilanz des Freiluftkonzerts auf einem aufgelassenen Rennbahngelände.

Das Thema Tod hält auch noch anders Einzug in die bis dato unbeschwerte Szene: Brian Jones ertrinkt wenige Wochen nach seinem Rauswurf bei den Rolling Stones im Swimming Pool seines Anwesens sein Tod ist eine Art Vorbote der Abgänge von Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison, die in den kommenden zwei Jahren der „Great Band in the Sky“ beitreten werden. Langsam wird klar: der dionysische Rausch des Rock’n’Roll-Lifestyles hat seinen Preis.

Scheinbar paradox: der Musik tut all das zunächst einmal eher gut. Die Flower-Power-Ära mit ihrem optimistischen Weltbild und ihrem musikalischen Schwerpunkt auf Psychedelia hat neben einer Handvoll herausragenden Alben längst Tonnen an unerträglich naivem Welt verbesserungsgedudel in die Läden geschwemmt. Schon das sogenannte „zweite Blues-Revival“ 1968 hatte daraufhin angedeutet, dass sich Musiker wie Fans wieder nüchterneren, bodenständigen Klängen zuwenden. 1969 nun bringt eine Fülle exzellenter Alben mit zupackendem Sound und bissigen, mitunter zynisch-pessimistischen Texten. So sorgen die frisch gegründeten Led Zeppelin im Frühjahr mit ihrem auf alten Bluesriffs aufbauenden Rock auf ihrer ersten US-Tournee für Aufsehen – am Ende des Jahres haben sich Robert Plant, Jimmy Page, John-Paul Jones und John Bonham als Superstars etabliert. The Band löst mit music from BIG pink (1968) ein neues Interesse auch an den weißen Wurzeln des Rock, an Country, Bluegrass und Folk aus. Ausgerechnet die Gegenkultur-Ikone Bob Dylan vollzieht mit den Alben john wesley harding (1968) und besonders nashville SKYLINE einen spektakulären Schwenk in Richtung der bislang als reaktionäre Redneckmucke geschmähten Country Music. Umgekehrt wird der Country-Titan Johnny Cash dank publikumswirksamer Duette mit Dylan, seines Engagements für Indianerrechte und seiner Drogenerfahrungen plötzlich zum Superstar auch für die Rockgeneration.

Entsprechend ändern sich auch die Themen der Songs. Statt von bunten Blumenkinder-Träumen singen Bands wie die Doors von finsteren Todesahnungen und Schreckensvisionen und gehen sexuelle Motive mit ungewohnt aggressiver Attüde an (was dazu führt, dass im März eine „Liga für den Anstand“ 30 000 Bürger für eine eine Anti-Doors-Demonstration mobilisiert), die Who machen aus dem Thema Kindesmißbrauch die RockoperTOMMY, und Mick Jagger fängt in „Gimme Shelter“ die Zeitstimmung mit der hellsichtigen Zeile: „Rape, murder, it’sjust a shotaway“ genial ein. Zur gleichen Zeit zieht das Phänomen Jazzrock am Horizont herauf: Die Rock-Bigband Blood Sweat &.Tears landet mit „Spinning Wheel“ in höchsten Chartsregionen, Miles Davis legt mit dem Album in A SILENT way das erste Meisterwerk des elektrischen Jazz vor.

Deutschland ist popkulturell wie immer mit allem ein bisschen später dran. Kraftwerk und Can, die ersten international konkurrenzfähigen deutschen Rockbands, werden ihre Debütalben erst 1970 veröffentlichen; einstweilen gehen Amon DüülII mit PHALLUS DEI voran.