warum ist hollywood so wütend?


Powered by emotion? St. Anger war der Schutzpatron des Kinojahres 2003: Wie selten zuvor widmete sich der Film in diesem Jahr der Suche nach dem Tier im Menschen.

Wussaaah!“So lautet das Mantra des vormals leicht entzündbaren Captain Howard (Will Smith) in dem Krach-Bumm-Peng-Sequel BAD BOYS 11, mit dem er seine cholerischen Anfalle im Zaum und sein inneres Ich in Balance zu halten versucht. Wussaaah! Ist auch eine echte Empfehlung für das Kino anno 2003, will man meinen – ein nicht übermäßig sensationeller Jahrgang, in dem die Gefühle allerdings hoch wogten. Wenn denn Film ein Gradmesser ist und den Finger empfindsam am Puls der Zeit hat, dann sollte man sich jedenfalls um den Zustand der Gesellschaft ernsthafte Sorge machen. Zeichen der Zeit: Ein Filmjahr, geprägt durch die Paranoia und Ungewissheit im langen Schatten von g/n, sieht rot. Wie eine Zündschnur zieht sich ein Virus namens Wut durch 2003. Als gesellschaftliches Phänomen, als privates Päckchen, das man tragen muss, als Katalysator für Wahnsinnstaten und Rachefeldzüge.

Selbst der amerikanische Mainstream kann nicht an der Wut welle vorbei, aber er verpackt seine Rage in Wattebällchen. Ist man nicht gerade ein Superheld wie daredevil, der es sich auch erlauben kann, seinem Gegenspieler im Auftrag des Guten die Kniescheiben zu zertrümmern, werden die traumatisierten Helden auf die Couch gelegt, bevor sich ihr Zorn manfiestieren kann: Billy Crystal musste als Seelenklempner in der langweiligen Fortsetzung reine nerven-SACHE 2 Wutausbrüche lindern. In DIE wutprobe wurde Adam Sandler von Jack Nicholson gezähmt, ohne überhaupt zu wissen, dass unendlicher Zorn in ihm lodert. Ein bisschen Wussah!, und schon wird gut, was Wut war.

Der Zorn der amerikanischen Indies ist gerechter – und echter: In PUNCH-DRUNK LOVE, einem der Filme des Jahres, gibt eskeinen Jack Nicholson, der Adam Sandler bei seiner zweiten Wutprobe in diesem )ahr davon abhaken könnte, seinen unkontrollierbaren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, Restauranttoiletten zu Kleinholz zu verarbeiten. Und tiger & DRAGON-Regisseur Ang Lee mag zwar bei HU LK130 Mio. Dollar zur Verfügung und mit Universal ein Studio im Rücken gehabt haben, aber seine Sensibilität ist independent pur: Anstatt des von der Zuschauermasse erhofften Effektespektakels war sein Film über die personifizierte Wut, die nur noch von Liebe wieder zurückgeschrumpft werden kann, zu schwer, zu ernst, zu tief. So unmittelbar wollte man mit Wut in einem vermeintlichen Mainstream-Movie doch nicht konfrontiert werden. Hätte womöglich sogar inständiges Wussah versagt.

Was müssen Amerikaner über die kompromisslosen Wutausbrüche des europäischen Kinos gedacht haben? Danny Boyle übernahm für seine Terrorübung 28 days later Muster und Rahmen von George A. Romeros ZOMBIE-Trilogie, nur dass er seinen verzweifelten Helden eben nicht Untote in den verlassenen Straßen von London auf den Hals hetzte, sondern Menschen, die mit dem Virus Rage infiziert wurden. Ein beklemmender Albtraum, der in Sachen Gnadenlosigkeit bestenfalls von Gaspar Noes rückwärts erzähltem Amoklauf irreversible übertroffen wurde: Der finale – und damitzu Beginn des Films zu sehende – Racheakt von Vincent Cassel und Albert Dupontel, die in einer als SM-Club getarnten Hölle den Vergewalnger ihrer Freundin zur Rechenschaft ziehen wollen, ist die urtümlichste Raserei, die man sich im Kino vorstellen kann. Ein derart konsequente

dass der Zuseher geplättet und geneigt ist, den wunderbar zärtlichen zweiten Teil des Films und die filmische Brillanz Noes zu übersehen.

Zärtlichkeit sucht man beim zweiten großen Rachefeldzug des Jahres weitgehend vergebens: Nach sechsjähriger Pause hatte sich Quentin Tarantino mit kill BILL VOL. l rückgemeldet, ohne der Konvention entsprechen zu wollen, mit dem Alterweiser, ruhiger und nachdenklicher zu werden. KlLL BiLL ist wie die Filme, von denen die Figuren in PULP FICTION oder TRUE romance immer sprechen: Actionpainting in Rot, ein Spiel mit Bewegung, Licht und Farbe, als hätte der Musical-Maestro Vincente Minnelli die Eleganz der harten asiatischen Samurai- und Shaolin-Filme für das amerikanische Kino entdeckt. Wenn im März vol 2 des wie mit einem Schwert von Hattori Hanzo säuberlich in der Mitte auseinandergetrennten Dreieinhalbstunden-Epos aus Blut, Schweiß und noch mehr Blut anläuft, wird das wenigstens eine Fortsetzung sein, auf die man sich freut. Im Filmjahr 2003 konnten das nur die wenigsten Sequels von sich behaupten.

Wie fiele tilmtoHsetzungen Wr-tir-äcit ein normaler- mensch?

Wussaaah! Beruhigungsmittel jedweder Art wären nicht schlecht gewesen für die Zuschauer, die sich durch diese Suppe aus Bläh und Bläh kämpften, die sich hinter Filmtiteln mit wahlweise arabischen oder römischen Ziffern am Schluss verbarg. X-MEN 2 hatte als vermutlich beste Comic-Verfilmung aller Zeiten noch Hoffnungen geweckt. Doch dann kamen drei ENGEL FÜR CHARLIE 2, 2 FAST 2 FURIOUS, NATÜR-LICH BLOND 2, LARA CROFT 2, mit IRGENDWANN IN MEXICO der dritte Film der EL MARIACHI-Reihe und mit ihnen die Erkenntnis: Au weia, das war nicht nur nichts, sondern so wenig, dass man sogar schon für die wenigstens kompakte Zerstörungsorgie von ter-MINATOR 3 – Welten entfernt von der Größe der ersten beiden Filme von James Cameron – dankbar war.

Die Mutter aller Fortsetzungsfilme hatten allerdings die MATRix-Sequels reloaded und revolu-TIONS werden sollen. Parallel gedreht, etwa 300 Millionen Dollar dabei verpulvert und im halbjährigen Abstand ins Rennen geschickt, sollte der Doppelschlag der Wachowski-Brüder Filmgeschichte schreiben. Davon übrig geblieben ist nicht viel. Schneller als man in ein cooles Latexkostüm schlüpfen kann, entzauberten die bizarren Brüder nicht nur ihre Saga, sondern auch sich selbst und ihren Mythos als Heilsbringer des modernen Actionkinos. So groß war die Enttäuschung, dass reloaded mit einem weltweiten Einspiel von 800 Millionen Dollar als Flop gewertet wurde. Und REVOLUTIONS sank nach fulminantem Parallelstart auf der ganzen Welt in etwa so, wie sich das Keith Moon mit dem bleiernen Zeppelin vorgestellt hatte. Die Lorbeeren ernteten andere, die keiner zu Jahresbeginn auf der Liste gehabt hatte.

Nemo, nicht Neo ist der Filmheld des Jahres. Herzallerliebst erschwamm sich FIN DET nemo in den USA den Titel des erfolgreichsten Films des Jahres sowie des erfolgreichsten Animationsfilms aller Zeiten und versenkte als Wunderwerk der CGI-Tricktechnik auch noch en passant den traditionellen Zeichentrickfilm: Selbst Disney stellt mit dem für nächstes Jahr avisierten home ON THE range die Produktion handgezeichneter Filme ein. Dafür kann das Maus-Haus auf andere Traditionen bauen: Niemand gab auch nur einen Pfifferling auf fluch der Karibik, der nicht nur das seit Jahrzehnten todgeweihte Piratenfilmgenre wieder klar Schiff machen wollte, sondern dessen Plot-Grundkonstellation auch noch auf einem Bootsfahrt-Ride in einer muffigen Höhle im Vergnügungspark Disneyland basiert. Offenbar angeödet von allzu viel aufgeblasenem Superheldengedöns, albernen Comicadaptionen und den etwas allzu gelassenen Dauerkopfschussorgien des gängigen Actionfilms, harte der Segeltörn durch karibische Gewässer mit Johnny Depp als etwas femininem Keith-Richards-Verschnitt die richtige Rezeptur, um die Massen in helle Begeisterung zu versetzen (auch wenn der Film unglaublich schlampig gemacht war): Abenteuer, Romantik, gute Laune und vor allem weit, weit weg von allem, was auch nur im entferntesten nach Realität roch.

In Deutschland setzte man lieber auf Wunder. Das erste war GOOD bye, lenin, der nicht nur Kubrick-Zitate aufwies, sondern auch unter Kubrick-Umständen entstand. Aber womöglich war es wichtig, dass Wolfgang Becker seine Darsteller bisweilen bis aufs Blut triezte: Das Ergebnis war ein wirklich (wieder)vereinigender Film, der das Thema Mauerfall ernst, aber nicht schwer aufarbeitete. Bis zum jetzigen Zeitpunkt (also vor der Auswertung von findet nemo und HERR DER RINGE: DIE RÜCKKEHR DES KÖNIGS) ist GOODBYE LENIN-unglaublich, aber wahr-mit 6,4 Millionen Zuschauern der in Deutschland erfolgreichste Kinofilm des Jahres. Eine formidable Leistung, der in der zweiten Jahreshälfte Sönke Wortmanns altbackene, aber emotional zupackende Fußballoper das wunder VON Bern folgte. Kanzler, Völler und viele andere Filmnichtexperten des Landes durften bereits den „Rohschnitt“ sehen und Tränen vergießen. Der Ruck, der durch den Film geht, hat sich zwar nicht aufs Land übertragen, aber erfreulich war der Erfolg dennoch.

fcinema.. quo uadis?

Tatsächlich war jeder eingespielte Euro-Cent in diesem Jahr willkommen. Denn anders als in der Vergangenheit konnte das Kino seinem Ruf als klassische Zufluchtsstätte für die tägliche Dosis Eskapismus in wirtschaftlich schweren Zeiten nicht gerecht werden. Die Gründe sind mannigfaltig und bisweilen beängstigend: Gewiss, auch das Produkt hätte besser sein können. Doch wenn selbst in Monaten mit reihenweise großartigen, entdeckenswerten Filmen die Kinos leer bleiben und sie allesamt vom Publikum mit beachtlich sturem Desinteresse abgestraft werden, kann man sich der Überlegung nicht verschließen, dass HERR der RINGE und HARRY potter nicht nur für wundersame Umsätze, sondern auch dafür gesorgt haben, dass die Megaproduktionen für das Publikum der Gradmesser dafür sind, ob man seine hart verdienten sieben Euro für ein Ticket investiert oder nicht, punchDRUNK LOVE, ADAPTION, ABOUT SCHMIDT, GESTANDNISSE – CONFESSIONS

OF A DANGEROUS MIND, CITY OF GOD, DEM HIMMEL SO FERN, THE HOURS, SEcretary, Solaris und moonlightmile boten bewegendes, intelligentes, originelles Kino, grandiose Spektakel waren sie nur nicht.

Wenn es aber darunter nicht mehr geht, wenn nur noch für alles entscheidende Endzeitschlachten mit Effektegewitter ins Kino gegangen wird, stellt sich zunehmend die Frage: Quo vadis, Film? Games-Kultur, schnellere Internetanschlüsse und das Schreckgespenst der Videopiraterie tragen zur Paranoia der Produzenten, Studios und Kinobesitzer bei. Wenn in einem Jahr mit weltweiten Kinoumsätzen von etwa neun Milliarden Dollar die Hersteller von Film-Bootlegs illegale Einnahmen von drei Milliarden dagegen halten, kann man anfangen sich Sorgen um das crazy little thing called film zu machen. Und diese Zahlen beziehen sich auf 2002. Dieses lahr ist das Filmdiebstahlsproblem erst so richtig explodiert.

Gab es denn auch ernste filme?

Vielleicht hilft ein bisschen Kino-Wussaaah, eine vorübergehende Flucht in all das, was man an Kino liebt. Zum Beispiel in Clint Eastwoods finsteren Thriller M YSTIC RIVER, in dem drei Jugendfreunde nach Jahren der Trennung durch eine Tragödie wieder zusammengeführt werden und jeder von ihnen einen persönlichen Offenbarungsleid leisten muss. Zum Beispiel in Peter Weirs unglaublich insprierendes Abenteuer-Epos Master and Commander, das auf der weitläufigen Leinwand eines David Lean ausgebreitet wird, aber vor allem mit der Präzision eines Stanley Kubrick und dessen traditionell perfekter Darstellung einer in sich geschlossenen Welt besticht. Zum Beispiel in Curtis Hansons 8 M1LE, das nicht nur Eminem als Schauspieler entdeckte, sondern auch die Spielwiese eines Ghetto-Rap-Dramas über persönliche Bestimmung nutzt, um kluge Betrachtungen über das Klassensystem Amerikas anzustellen. Zum Beispiel city OF god, der jeden erzählerischen und filmischen Kniff nutzt, um das Gangwesen in den brasilianischen Favelas zu Leben zu erwecken, als wäre man selbst mittendrin. Zum Beispiel HERO, der das philosophische Martial-Arts-Kino eines King Hu als farbenprächtige Angelegenheit auf Leben, Liebe und Tod neu entdeckt.

Es muss eben nicht unbedingt die Harmoniesucht des auslaufenden Filmjahres sein, die uns ins Kino lockt. TATSÄCHLICH … liebe befriedet unter dem Weihnachtsbaum alle Menschen miteinander. MA-TRIX REVOLUTIONS handelt den Frieden zwischen Menschen und Maschinen aus und sieht dabei aus wie ein ölverschmierter WIZARD OF OZ. BRUCE ALLMÄCH-TIG versöhnt uns mit Gott, und der im Februar startende Disney-Trickfilm Bärenbruder den Menschen mit der Natur. Dann doch lieber Wut, Uma Thurman und das Schwert von Hattori Hanzo: Vielleicht können sie aufräumen mit der endgültig eingerissenen Unart, dass zahnloser Mist im Kino landet, man Perlen wie donnie darko, battle royale oder narc aber nur noch in Videotheken findet. Kein Wussaaah kann helfen, die Wut über diese Ungerechtigkeit des Filmjahres 2003 zu mindern.