Die Auferstehung


Der "Antichrist Superstar" Marilyn Manson wurde verklagt, gehasst und gefürchtet. Seit ihn "Bowling For Columbine" jedoch als klugen Künstler entlarvt hat, sind seine Stunden als Schockrocker gezählt. Höchste Zeit für einen Neubeginn. "Niemand nämlich", wusste bereits Seneca, "kann auf Dauer eine Maske tragen"

„Ich möchte aus diesem Leben gehen“, schreibt ein Mädchen auf Marilyn Mansons Homepage in das belebte Online-Forum. „Ich bin sinnlos. Manche Menschen können der Welt etwas geben. Ich kann nicht einmal etwas von ihr nehmen… Ich will mich bei dir bedanken. Deine Musik hat mich unter Leute gebracht… goodbye cruel world.“ Es ist ein Eintrag unter hunderten, die Manson, Rockstar extraordinaire, Provokateur, Maler, Schauspieler und, nicht zuletzt, Seelsorger für verzweifelte Außenseiter, beantwortet hat. 20.000 Nachrichten stapeln sich, wie er berichtet, derzeit in seiner Mailbox, darunter „viel Schwachsinn von Leuten, die nur meine Aufmerksamkeit erregen wollen“. Für das Mädchen hat er sich Zeit genommen. „Ich hoffe wirklich, dass es nur der Regen ist, der uns alte so depressiv macht – mich eingeschlossen“, schreibt er und findet über die nächsten tröstlichen Zeilen erstaunlich souverän den richtigen Ton zwischen unverbindlicher Distanz und ehrlicher Anteilnahme. Erschließt mit dem Ratschlag, die Gefühle einfach aufzuschreiben: „Lies das nochmal in einem Monat. Du wirst dann erkennen, wie stark du eigentlich bist.“

„Ich kann nicht wissen, ob sich da jemand einen Spaß erlaubt hat“, überlegt Manson, als wir ihn im März in Los Angeles besuchen. „Aber ich habe mich entschlossen, es ernst zu nehmen und so zu antworten, wie ich das angemessen fand.“ Manson hat das Forum erst Anfang des Jahres in seinen Online-Auftritt integriert. „Ich wusste, dass es Bedarf nach Kommunikation gibt. Manchmal wollen Fans persönlichere Fragen stellen. Es ist ein schmaler Grat. Ich bin weder Vorbild noch ein Vater. Also versuche ich Ratschläge nur auf die Art zu geben, dass ich etwas von meiner Erfahrung anbiete.“

Brian Warner aus Canton, Ohio, hat in 34 Jahren mehr Erfahrungen gemacht als die meisten Menschen in einem ganzen Leben. Andere daran teilhaben zu lassen, gehörte bisher allerdings nicht zu seinen Stärken. Unser einst emotionsloser, seelisch tauber Held, der – um wenigstens irgendetwas zu fühlen – sich von der neunten Klasse an bis lange nach dem Durchbruch mit der LP Antichrist Superstar exzessiv selbst verletzte, hat sich fundamental verändert. „Ich habe gelernt, Mitgefühl zu empfinden“, gestand er Ende der 90er Jahre in einem Interview. „Ich spüre das Leid der Menschen – fast auf übernatürliche Weise. Als ob ich eine Maschine oder ein Alien wäre, dem mit einem Mal menschliche Gefühle gewährt werden. Und weil es das erste Mal ist, funktioniert es (die Dosierung) noch nicht richtig.“

Die schleichende Demaskierung des einst menschenscheuen Sonderlings haben wir, wie es sich für jedes gute Hollywood-Märchen gehört, der Liebe zu verdanken: Zuerst lockte ihn die Schauspielerin Rose McGowan aus der Reserve, heute ist es das Pin-Up-Girl und Model Dita Von Teese, von der Manson als „gutem Einfluss“ und „Liebe meines Lebens“ spricht. Er hat in diesem Frühling festen Boden unter den Füßen, auch wenn seine Karriere in den letzten Jahren gefährlich ins Wanken geraten war: Zwischen 1999 und 2002 versuchten Politiker und die religiöse Rechte in den USA ihm eine moralische Teilschuld für das Massaker an der Columbine Highschool in die Schuhe zu schieben, während zahlreiche Prozesse Mansons Arbeitsgrundlage zu zerstören drohten. Zu allem Überfluss liefen auch die Verkäufe des Albums Holy Wood so schleppend, dass Kritiker das Ende der Ära Marilyn Manson ausriefen. „Letztendlich nachdem auch die Tour beendet war – hatte ich doch noch das Gefühl, dass die Mission Holy Wood erfüllt war“ meint Manson zögerlich. „Bei der Platte ging es ums Überleben. Es ging darum, dass mein Licht nicht ausgelöscht wird, dass mich die Leute nicht umbringen – körperlich wie künstlerisch. So gesehen steige ich mit dem neuen Album aus der Asche auf.“ Als Künstler, der die Reaktion auf seine Arbeit als zentralen Bestandteil seiner Projekte versteht, musste er die Gleichgültigkeit, mit der die Öffentlichkeit Holy Wood bedachte, unter professionellen Gesichtspunkten dennoch als Scheitern verbuchen. Erzog Konsequenzen: Das Manson-typische Spiel mit religiösen Tabus das Cover von Holy Wood zeigte ihn als Gekreuzigten – sucht man auf dem neuen Album The Golden Age Of Grotesque vergeblich. Im Gespräch über die Platte tauchen gänzlich neue Themen auf. „Es ist, als ob mein Gedächtnis ausgelöscht worden wäre. Ich erlebe und genieße alles wie beim ersten Mal. Ich profitiere noch immer von meinen Erfahrungen, irgendwie ist es mir aber gelungen, alles, was ich weiß, zu vergessen, als ich mit diesem Projekt angefangen habe.“

„Als Band wiedergeboren werden“ wollte Manson, der am Interviewort mit olivgrüner Kappe, Sonnenbrille, weißem Makeup und breiter Krawatte erscheint. Er hat einen kleinen Saal im Hotel The Argyle, das 1929 im Art Deco-Stil erbaut wurde, gemietet, um zwischen riesigen Fotos seines „künstlerischen Partners „Gottfried Helnwein über seine Arbeit zu sprechen. „Das Hollywood der 30er Jahre und das Berlin der Weimarer Republik waren für mich zwei Inspirationsquellen, die als Metapher für Beziehungen stehen. Etwas beginnt, erreicht einen Höhepunkt und kommt dann immerzu einem Ende. Berlin wurde zerbombt. Das hat symbolischen Charakter für mich. Kindheit, Liebesgeschichten, Platten alles muss enden. Ich habe ein Bild gemalt, das ‚The Death Of Art‘ heißt. Aber ich habe versucht, ein bisschen Hoffnung reinzubringen, denn eine Schlange kann ihren eigenen Schwanz fressen.“ Manson spricht ruhig und konzentriert. Zwar gefällt er sich bisweilen als exzentrischer Künstler, der in langen, eloquenten Monologen die theoretischen Aspekte seiner Arbeit erläutert, doch reagiert er auf Einwürfe äußerst flexibel. Seine Argumentation ist konsequent und schlüssig. Es ist nicht verwunderlich, dass Amerika diesen Mann fürchtet, der es sich zum Ziel gesetzt hat, ein in seinen Augen verlogenes Wertesystem zu untergraben, dessen Aufrechterhaltung für das reibungslose Funktionieren der Vereinigten Staaten so essentiell ist.

Es ist ein Schlag ins Gesicht der Moratapostel, dass ein Mensch so kontrolliert, so scharfsinnig und artikuliert sein kann, der nie ein Geheimnis daraus gemacht hat, jede dem Menschen bekannte Droge – darunter exotische Rauschmittel wie das an Tieren verwendete Beruhigungsmittel Special K, das eine vermeintliche Loslösung des Geistes vom Körper hervorruft – in beizeiten maßlosen Mengen konsumiert zu haben. Auch muss es dem bisweilen militant christlichen Amerika ein Dorn im Auge sein, dass der durchaus bibelfeste Manson in der Vergangenheit gerne auch ausgiebig mit den dunklen Mächten geflirtet hat, ohne dafür von Gott bestraft worden zu sein: Für viele Jahre, bis zu dessen Tod 1998, gehörte Anton LaVey, Gründer der „Church of Satan“, zu Mansons besten Freunden. „Ich glaube nicht, dass Satan die Christen so erfolgreich verärgert hat. wie ich“, sagte Manson Mitte der 90er. „Für Christen bin ich die Verkörperung des Bösen, weil sie nur die eine Hälfte von dem sehen, was ich repräsentiere. Ich forciere das durchaus, denn ich will ihre vorgefassten Meinungen zerstören“ Über Jahre wussten sich die Hüter der amerikanischen Moral auf Mansons Attacken nur noch mit dem Angstbeißen einer in die Ecke gedrängten Hundemeute zu helfen. Gerichtsvorladungen und Morddrohungen gehörten zum Alltag des Künstlers, bis seine Gegner durch einen Dokumentarfilm einen unerwartet heftigen Rückschlag erlitten.

„Bowling For Columbine“ ist eine Oscar-gekrönte Dokumentation über das albtraumhafte Massaker an der Columbine Highschool in Littleton, Colorado, dessen Folgen Manson 1999 fast das Genick brachen. Die Medien und einige Politiker erkoren den Rockstar nach der Tragödie zum Sündenbock für den Amoklauf der Schüler, was, wie er ausdruckslos erzählt, zu massiven Belästigungen führte, die in Hausdurchsuchungen durch das FBI gipfelten. „Ich verstehe, warum man mir die Schuld gegeben hat. Weil es einfach ist, mein Gesicht im Fernsehen zu zeigen. Und ich stehe für all das, wovor Menschen Angst haben – weil ich sage und tue, worauf ich Lust habe“, so Manson in „Bowling For Columbine“. Viel später wurde bekannt, dass die Täter keineswegs Fans von Mansons berauschendem Gothmetal waren. Zu den Lieblingsbands der Killer gehörte stattdessen die Industrial-Formation KMFDM, deren Bassist Tim Skold nun von Manson als Ersatz für den aus seiner Band ausgestiegenen Twiggy Ramirez angeheuert wurde. „Das warein kleiner Insider-Witz, der uns schon ein bisschen amüsiert hat“ lächelt Manson in vollem Bewußtsein, dass die Ironie dieser Umbesetzung den meisten seiner Kritiker verborgen bleiben dürfte. „Und weißt du was? Rammstein wird außerdem meine erste Single ‚mOBSCENE‘ remixen dann haben wir alle drei Bands, die für Columbine verantwortlich gemacht wurden, vereint.“

Manson-Gegner wie der Senator Joseph Lieberman, der Mansons Band gerne als „sickest group ever promoted by a mainstream record Company“ bezeichnete, haben 2003 deutlich weniger Rückenwind. Der Grund ist das Interview mit dem „Bowling For Columbine“-Regisseur Michael Moore:In wenigen Sätzen formulierte Manson die These der „Kampagne der Angst“, die nicht nur zur tragenden Säule des gesamten Dokumentarfilms werden sollte, sondern dem Künstler zunächst unter Intellektuellen im eigenen Land und später auch weltweit enormen Respekt verschaffte. „Du wirst in den TV-Nachrichten mit Angst vollgepumpt: Da sind all die Überflutungen, da ist AIDS, da sind die Morde – Schnitt zur Werbung – kaufe eine Versicherung, kaufe Colgate, denn wenn du schlechten Atem hast, wird niemand mit dir reden, wenn du Pickel hast, wird dich kein Mädchen ficken […] Das ist der einfachste Nenner, auf den man es bringen kann: Halte jeden in Angst, und sie werden konsumieren“, so Manson im Rahmen des mehrstündigen Interviews, das Moore als Grundlage für weitere Recherchen nutzte.

„Es ist schon seltsam, dass mir Leute nun mit weniger Vorurteilen begegnen. Ich sage in dem Film nichts, was ich nicht schon seit Jahren gesagt habe“, lächelt Manson. „Allerdings kann ich nicht behaupten, dass ich sonst mit allen Inhalten einverstanden war. Die Art und Weise, wie Moore am Schluss (den Präsident der National Rifle Association) Charlton Heston angegriffen hat, kam mir sehr bekannt vor. Auch wenn ich alten Grund habe, Heston zu hassen – genau so haben Leute auch mich immer wieder an den Pranger gestellt. Und was lustig ist – Fans von Michael Moore-Filmen haben normalerweise nichts für mich übrig, da ich Menschen immer wieder mit einigen sehr konservativen Ansichten verwirre. Jetzt identifizieren sich all diese liberalen Leute mit mir, obwohl ich einige liberalen Einstellungen nicht ausstehen kann. Insgesamt war es wohl gut für mich, in dem Film zu Wort zu kommen. Doch es wird für viele schwierig bleiben, herauszu finden, wo ich stehe. Für gewöhnlich nämlich stehe ich überhaupt nicht.“

Vier WOChen nach dem Interview in Los Angeles treffen wir Marilyn Manson in Berlin wieder. Er hat sich den 1914 erbauten, imposanten Bau der Volksbühne ausgesucht, um die verschiedenen Aspekte von The Golden Age Of Grotesque in passendem Ambiente zu präsentieren. Vor seiner reichlich ausgefallenen Bühnen-Performance, mit der er sich in dieser Nacht im April erstmals auch musikalisch in völlig neuem Licht präsentieren wird, wandelt er auf Plateauschuhen in einem roten Anzug mit Zylinder durchs Foyer, vorbei an einer Auswahl seiner Aquarelle bis zu den meterhohen Abzügen der Fotos, die er mit dem einst als „Schockmaler“ bezeichneten österreichischen Künstler Helnwein gemacht hat. Bei seinem Spaziergang lässt sich Manson von einem Dutzend jugendlicher Komparsen in HJ-Uniformen begleiten, die Maus-Ohren auf ihren bandagierten Köpfen tragen. Die Hakenkreuze auf ihren roten Armbinden wurden abgedeckt. Er bahnt sich seinen Weg durch die Menge, vorbei an Gästen wie Anton Corbijn, der Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer und einem blassen Mädchen, das sich ein blutiges „M“ in die weiche Schulterhaut geritzt hat, bis er vor den Bildern zum Stehen kommt, die ihn als weiße und schwarze Mickey Mouse zeigen. Es war Mansons Idee, die beiden Werke zu einem zentralen Bestandteil des Album-Artworks zu machen. Doch Disneys Maus, die im dritten Reich als „entartet“ galt, reagiert äußerst sensibel auf außerkontextlichen Gebrauch.“Mir wurde verboten, diese Fotos in den USA zu benutzen. Aus Angst vor Disney“, erklärt Manson etwas resigniert.

„Man versucht immer, mich zu zensieren. Aber niemand kann Besitzansprüche anmelden, wenn ein Geist kreativ wird. Es ist offensichtlich, dass die Bilder Produkte meiner Vorstellungskraft und der Zusammenarbeit mit Gottfried sind. Diese beiden Aspekte meiner Persönlichkeit reflektieren vieles, was The Golden Age Of Grotesque ausmacht. Die weiße (Maus) ist sehr europäisch, sehr unschuldig. Wie das Kabarett und die Weimarer Republik. Die schwarze ist amerikanisch, ‚Vaudeville‘ und albtraumhaft. An den Bildern ist nichts Anstößiges, außer dass jemand denken könnte, dass sie vielleicht das degradieren, wofür Disney steht. Aber die Fotos sind nicht Disney, sondern entspringen meiner Imagination. Sie sind sowieso nur ein Element einer ganzen Serie. Die Malereien, die Songs auf der Platte, die Tour…“… und nicht zuletzt die Videoinstallationen. Im ersten Stock der Volksbühne stehen Monitore, über die skizzenhaft ausgeführte Szenen von großer visueller Kraft flimmern. Darunter ist eine längere Episode, die Manson im Bett mit halbnackten Damen zeigt, die Rücken an Rücken und Kopf an Kopf wie siamesische Zwillinge in ein Korsett geschnürt wurden. Eine Referenz an die Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“, bei der zwischen die modernen Exponate Fotos von körperlich entstellten Menschen gehängt wurden, um die angeblich abartige Natur der Werke zu unterstreichen? „So hab ich das zwar nie gesehen“ meint Manson nickend, „aber das ist eine interessante Betrachtungsweise. Mich hat vor allem meine Liebe zur Dualität inspiriert. Aber ich habe auch einer nackten Frau einen Trichter in den Hintern geschoben und sie so zum Grammophon gemacht. Diese Filmchen mögen auf manche Leute etwas befremdlich wirken. Aber das ist der Spaß dabei – einfach der Imagination freien Lauf zu lassen“

Erst gegen 23 Uhr strömen die Gäste, von denen einige für die 20-Euro-Karten via Internet mehr als das zehnfache gezahlt haben, in den Saal, wo Manson als Conferencier gewandt sein Publikum begrüßt. Nach der LP-Präsentation und einem Strip von Dita Von Teese, der mit einem Bad in einem qigantischen Absinth-Glas endet, schickt der Meister zwei leicht bekleidete Damen in antiquarischen Orthopädie-Genickstützen im tippeligen Gleichschritt an einen Flügel. Mit jeweils einer Hand stimmen die beiden surrealistische Kabarett-Versionen von „The Dope Show“, dem „Alabama Song (Whiskey Bar)“ und „The Golden Age Of Grotesque“ an. Das Spiel geht auf: Mansons Präsenz auf der Bühne ist bestechend und sein Rollenspiel variabel. Vor allem aber geht seine kratzige Stimme ohne manisches Metallgewitter noch tiefer unter die Haut. Würzte er seine Rockshows in der Vergangenheit mit derben, ausfallenden Exzessen, so präsentiert er sich in diesem schlichten Umfeld in der Volksbühne als Entertainer mit Charme, Charisma und Autorität. Es mag noch nicht die Regel sein, dass Manson wagt, seinen zunehmend phantastisch-skurrilen Ideen auch musikalisch Ausdruck zu verleihen, seine Tage als eindimensionaler „Schockrocker“ sind jedoch gezählt. Die Wellen der Sympathie, die dem Star seit „Bowling For Columbine“ entgegenschlagen, haben ihn von einem ruhlosen Dasein als Schreckgespenst befreit. Mit The Golden Age Of Grotesque hat ein gereifter Marilyn Manson ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Zeit ist gekommen, dem „God Of Fuck“ Lebewohl zu sagen.

www.marilynmanson.com