In the Mode


Drogen? Nein danke. Sex? Nur noch mit den Ehefrauen. Nach 21 Jahren im Geschäft geben sich Depeche Mode als reife Gentlemen.

Seltsame Menschen treiben sich an diesem Vormittag auf den Fluren des noblen „Park Hyatt“-Hotels in Hamburg herum. Menschen, die nicht unbedingt so aussehen, wie man sich den typischen Hotelgast, Marke Geschäftsmann oder Familie auf Urlaub, vorstellt. Da ist dieses Endzwanziger-Pärchen zum Beispiel. Er in schwarzes Leder gekleidet, sie im schwarzen Minikleid und beide in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf ihre Idole erhaschen zu können: Depeche Mode. Die Band ist heute in der Stadt, um ihr neues Album „Exciter“ zu promoten, und das zieht die Dave Gahan-Lookalikes in Scharen an. Bereits am Vortag harrte ein 60 Fans starkes Empfangskomitee stundenlang am Hamburger Flughafen aus, um die Band bei ihrer Anreise zu besichtigen. Depeche Mode-Fans sind nicht nur die härtesten, sondern auch mit ihrer Lieblingsband älter und wohlhabender geworden. Mittlerweile können sie es sich leisten, im selben Hotel abzusteigen wie ihre Idole. Und dann ist es gar nicht mehr so einfach, sie loszuwerden. Denn wer eingetragener Gast in einem Hotel ist, darf sich dort ja auch überall aufhalten. Wie das Pärchen etwa, das sich, mit Kameras bewaffnet, ausgerechnet vor der Suite aufgebaut hat, in der später die Interviews mit Depeche Mode stattfinden sollen. Die Engelszungen der beiden äußerst sensibel agierenden Security-Leute reden ins Leere. Schließlich hat man ja ein Zimmer bezahlt… da wird man ja wohl… und überhaupt. Gegen diese Argumente sind die beiden Bodyguards machtlos. Erst die nette Dame von der Plattenfirma schafft es irgendwie, zum Erfolg zu kommen. Die beiden Hobbyfotografen ziehen ab.

Oder am Vorabend. Da ist die Band samt Anhang gerade mit dem Abendessen im Hotelrestaurant beschäftigt. Ein paar Tische weiter sitzt ein Grüppchen von Fans, das sich sehr diszipliniert verhält. Nach einiger Zeit kommt ein Mädchen aus der Gruppe an den Depeche Mode-Tisch und wendet sich an Dave Gahan: „Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Gahan, aber wären Sie vielleicht so freundlich, wenn Sie mit dem Essen fertig sind, sich mit mir fotografieren zu lassen?“ Gahan willigt ein, wartet, bis das Mädchen wieder weg ist und sagt dann mit einem leichten Unterton der Selbstironie zu den anderen: „Ich mag es, wenn mich jemand ,Mr. Gahan‘ nennt.“

Es gibt aber auch professionelle Fans. Die nennen sich Journalisten, werden dafür bezahlt, dass sie ihre Idole treffen dürfen, und sind vorher bisweilen nicht weniger aufgeregt als ihre Artgenossen, die Geld ausgeben Titelthema

müssen, um in der Nähe ihrer Lieblinge zu sein. So ein Häufchen bezahlter Fans hat gerade in der Hotelbar Platz genommen zum Wunsch- und Gedankenaustausch vor den Interviews. „Es war schon immer mein Traum, Dave Gahan zu treffen, letzt klappt es endlich“, schwärmt eine Kollegin mit verklärtem Blick, „ob er sich wohl heute mit mir fotografieren lässt?“ „Ich habe Martin Gore und Andy Fletcher schon bei der letzten Tournee getroffen. Das sind wirklich total nette Typen“, weiß ein anderer zu berichten. Nur der Kollege von der großen Nachrichtenagentur besticht durch professionelle Abgeklärtheit. Er macht keinen Hehl aus seiner Uninformiertheit über Depeche Mode und darf sich glücklich schätzen, dass er nicht alleine sein wird bei seinem Interview. An seiner Seite sitzt eine bestens informierte Kollegin. „Du stellst die Fragen, ich höre zu“, sagt der Agenturmensch.

Nach und nach nimmt die Band in der Interview-Suite Platz. Andy Fletcher (40) ist schon da. Sänger Dave Gahan (38) war vor ein paar Minuten noch im Fitness-Studio, und Songschreiber Martin Gore (39) kommt gerade aus der Hotelsauna. „Wir werden sehr respektvoll behandelt“, sagt Gore über die Depeche Mode-Fans, und Fletcher ergänzt: „99 Prozent von denen, die ich treffe, verhalten sich sehr höflich und zuvorkommend“. Genauso wirken auch die Herren Gahan, Gore und Fletcher: drei sympathische Männer um die Vierzig, die sich lieber mit Familie und Workout als mit Drogen und Sexzessen beschäftigen. „Ich glaube, dass wir alle ein sehr normales Leben führen. Wir können das tun, was auch jeder andere macht“, meint Gore. „Ob du’s glaubst oder nicht, wir können uns unbehelligt auf der Straße zeigen, wir können auch wie ganz normale Menschen in Restaurants gehen, ohne allzu sehr belästigt zu werden“. Lind Fletcher ergänzt: „Natürlich ist die Situation dann ein bisschen anders, wenn wir auf Tournee sind. Wenn 10.000 bis 15.000 Depeche Mode-Fans in einer Stadt sind, ist es schon nicht mehr so einfach, unbehelligt in eine Kneipe zu gehen.“ Was ist das Schönste am Ruhm für Martin Gore? Der blonde Lockenkopf denkt kurz nach, grinst verschmitzt und sagt: „Dass du in jede Bar und in jedes Restaurant reinkommst, nur weil du einen bekannten Namen hast. Auch dort, wo man dich normalerweise nicht reinlassen würde. Bei solchen Gelgenheiten kann man seinen Ruhm so richtig schön missbrauchen“, sagt Gore und bricht in ein schallendes, sonores Gelächter aus, das er sich patentieren lassen sollte, bevor es ein anderer tut. Andy Fletcher, der mit seinem distinguierten Habitus von den drei Bandmitgliedern am „normalsten“ wirkt, hat seine Probleme mit dem Ruhm, oder besser, ein Akzeptanzproblem damit. „Sogar heute, nach mehr als 20 lahren, ist es sehr schwer für mich, mich als berühmte Persönlichkeit zu sehen“, stellt er fest. Trotzdem: Ob er will oder nicht, er ist es nun mal. „Stimmt schon“, grübelt Fletcher, „aber das Wort ,berühmt‘ im Zusammenhang mit meiner Person macht mich immer ein bisschen verlegen. Manchmal kann ich das gar nicht glauben. Als ich

zum Beispiel heute Morgen hier im Hotel aufgewacht bin und mir bewusst gemacht habe, dass ich jetzt Interviews geben werde, habe ich gedacht: Es muss mich doch einer aus meinem Traum aufwecken, damit ich meine U-Bahn zur Arbeit nicht verpasse. Es ist schon eine unglaubliche Situation“.

Die unglaublichsten Situationen von allen Dreien hat aber unbestritten Dave Gahan durchlebt. Man kann es dem Mann nicht verübeln, dass seine Sehnsucht, sich zu den Themenbereichen Drogensucht und Selbstmordversuch zu äußern, mittlerweile gegen null tendiert. „Das wurde von den Medien ja schon bis ins Letzte ausgeschlachtet – leider. Und das meiste davon habe ich selbst zu verantworten, weil ich meinen Mund dummerweise nicht halten konnte. Andererseits musste ich das wahrscheinlich aber tun, um all das.

was ich erlebt hatte, irgendwie zu verarbeiten und abzulegen“, sagt Gahan über seine Zeit in Los Angeles, während der er mindestens zwei Mal dem Tod näher war als dem Leben. Aber das ist jetzt Vergangenheit. „Ich fange langsam an, das Leben zu genießen. Und das schließt auch entsprechende Verantwortungen mit ein. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, daß ich so eine tolle Beziehung mit meiner Frau führe.“ In der Zwischenzeit ist Gahan zum zweiten Mal verheiratet, hat eine anderthalbjährige Tochter namens Stella Rose und Jack, den 13-jährigen Sohn aus erster Ehe, der bei seiner Ex-Frau in England lebt. „Ich bin wirklich sehr stolz auf meinen Sohn. Leider bin ich erst jetzt in der Lage, mich richtig mit ihm zu beschäftigen, ihm zuzuhören. Durch meine zweite Frau habe ich gelernt, ein guter Ehemann zu sein. Überhaupt ziehe ich es heute vor, ein gesünderes Leben zu führen und mich intensiv um mich selbst zu kümmern. Denn daraus resultiert auch die nötige Energie für alles andere – etwa, um sechs Uhr morgens aufzustehen und meiner Tochter das Frühstück zu machen. Es ist ein tolles Gefühl, beim Aufwachen ihre Stimme zu hören. Solche Dinge habe ich in der Vergangenheit nicht zu schätzen gewusst. Und das war einzig und allein meine Schuld.“

Noch vor ein paar Jahren war Gahan ein menschliches Wrack, voller Selbstzweifel, von Depressionen geplagt und dankbar für jede Gelegenheit, high zu werden: „Wir waren regelrechte Zombies, die nichts anderes konnten als Drogen nehmen, Sex haben und saufen.“ Wieso kann ein Musiker, der geliebt und bejubelt wird, so unglücklich sein? „Weil das Rockstarleben eine Illusion ist. Sie hat nichts Menschliches und schon gar nichts Persönliches an sich. Bis zu einem gewissen Grad schafft man diese Illusion sogar selbst, aber man nimmt sie doch nicht mit nach Hause und lebt sie rund um die Uhr. Klar ist es toll, umjubelt zu werden und Millionen von Platten zu verkaufen. Und es ist auch nicht schlecht, jede Menge Kohle zu haben. Aber wenn du eine schwache Persönlichkeit hast wie ich und du zuviel an dich ranlässt, ist Geld keine Hilfe.“

Nach den Drogen und dem Alkohol ist Gahan mittlerweile dabei, sein drittes Laster erfolgreich

zu bekämpfen. Er, der früher schachtelweise Cameis eingesaugt hat, raucht nicht mehr. Na ja, zumindest keine Zigaretten mehr. Dave ist auf Zigarillos umgestiegen. „Ich rauche zurzeit immer noch zu viel. Aber ich stehe nun mal auf diese kleinen Davidoffs. Allerdings versuche ich, nicht mehr als fünf am Tag zu rauchen, und ich bin auch sonst sehr vorsichtig in allem geworden. Ich jogge viel – sechs bis zehn Kilometer pro Tag. Und danach bin ich immer ziemlich platt. Das Gute daran ist nur – vom Sport bekommt man am nächsten Tag keinen Kater. Das ist wirklich sehr angenehm.“

Ein weiteres Indli für die Bodenhaftung der Band ist die Tatsache, dass Depeche Mode seit zwanzig Jahren Daniel Millers kleinem Mute-Label treu geblieben sind. Das ist relativ ungewöhnlich für eine Band, die Millionen Platten verkauft und sicherlich auf der Wunschliste der großen Konzerne ganz oben steht. „Nicht, dass wir nicht die Möglichkeit hätten, zu einer anderen Plattenfirma zu wechseln. Aber die versuchen erst gar nicht, uns abzuwerben, weil sie ganz genau wissen, dass unsere Beziehung zu Mute und Daniel so stark ist“, sagt Andy Fletcher. Und Gore orakelt: „Ich glaube, wenn wir am Anfang unserer Karriere einen Vertrag mit einer Major Company abgeschlossen hätten, wären wir nach unserem dritten Album wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen worden.“ Ja“, ereifert sich der sonst so ruhige Fletcher, „sie hätten uns dann wahrscheinlich dazu genötigt, mehr Singles zu veröffentlichen und uns in eine bestimmte Richtung gedrängt, in die wir partout nicht hätten gehen wollen.“ Auf jeden Fall genießen Depeche Mode seit lahren vollkommene künstlerische Freiheit. Es gibt niemanden, der ihnen bei ihren Entscheidungen reinredet, dieses und jenes verlangt, Kurskorrekturen in der musikalischen Richtung fordert oder auf bestimmte Songs als Singleauskopp-lungen besteht. „Ich erinnere mich daran, wie wir einmal mit Daniel zusammensaßen, bevor wir mit den Aufnahmen zu ,Exciter'“ begannen“, erzählt Gore. „Ich meinte damals, dass wir diesmal die Sache ein bisschen vorantreiben sollten, die Dinge einmal anders angehen und einfach mehr experimentieren müssten. Und Daniel sagte nur: ,Ihr solltet diesmal so abgedreht klingen wie nur möglich.‘ Es gibt, glaube ich, nicht allzu viele Plattenfirmenbosse, die so etwas zu ihrem wichtigsten Act sagen. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass Mariah Carey so was von ihrem Boss zu hören bekommt. Er wird ihr kaum raten: ,Mariah, vielleicht solltest du diesmal ein Industrial-Album aufnehmen.“ Wieder bricht Gore in dieses sonore Patent-Lachen aus.

Und so kommt es, dass die neue Platte, „Exciter“, genau so klingt, wie Depeche Mode es wollten: relaxt, minimalistisch und offen für das, was in der zeitgenössischen elektronischen Musik passiert. „Exciter“ ist ein „modernes“ Album geworden, das eindeutig die Handschrift des Produzenten Mark Bell (Björk, LFO) trägt, den Depeche Mode auf Anraten Daniel Millers engagiert hatten. „Daniel meinte, Mark sei ein netter Kerl, sehr bescheiden, sehr bodenständig, und er würde wirklich perfekt ins Depeche Mode-Bild hineinpassen“, erzählt Martin Gore. „Und die Zusammenarbeit hat dann auch wie im Traum geklappt. Er ist ein großartiger Produzent und auch ein wirklich netter Kerl, der mit der Arbeit sehr gut vorangekommen ist. Mark ist ein hervorragender Soundmanipulator. Er kann Visionen in seinem Kopf entwickeln, die direkt in einen Sampler oder in ein Keyboard wandern. Es gibt nicht viele Menschen, die in der Lage sind, so zu arbeiten.“ Auch wenn manche Fans die leichten Soundmodernisierungen von Depeche Mode seit dem ’97er-Album „Ultra“ eher zähneknirschend aufgenommen haben dürften, denken die Musiker nicht an die Erwartungshaltung ihrer Anhänger. „Wir haben nie die Erwartungen unserer Fans in den Köpfen, wenn wir ins Studio gehen“, meint Fletcher. „Das ist schon etwas anderes, wenn wir live spielen, dann müssen wir natürlich das, was die Fans von uns erwarten, berücksichtigen und bestimmte Songs spielen.“

Es klopft an dar Zimmertür. Der Pressebetreuer der Plattenfirma hält fünf Finger in die Luft – das brancheninterne Zeichen für „noch fünf Minuten“. Als die Zeit für das Interview schließlich verstrichen ist, sind alle zufrieden. Die Band, weil sie wieder einmal einen PR-Termin erfolgreich absolviert hat, die Leute von der Plattenfirma, weil alles so gut geklappt hat, die anfangs erwähnte Kollegin, weil sich Dave Gahan tatsächlich mit ihr hat fotografieren lassen, und die beiden Herren von der Security, weil Depeche Mode-Fans eben viel netter sind als alle anderen. Wie etwa die Freundin des Dave Gahan-Lookalikes im schwarzen Minikleid, die immer noch seltsam entrückt über die Flure des Nobelhotels huscht. Jedem, der so aussieht, als könne er irgendetwas mit Depeche Mode zu tun haben, schenkt sie ein nettes Lächeln.