London Swings


Die Beggars Banquet Label Group vereint in London mit XL, MoWax, 4AD, Mantra und Wiiija einige der einflussreichsten Labels Europas.

Schon wieder Wandsworth im Südwesten Londons. Neben Domino-Records (ME/Sounds 4/2000) residiert hier mit ßeggars Banquet auch einer der ältesten und erfolgreichsten Independents der Welt. Im kleinen F.ckhaus an der Alma Road staunt man erst einmal nicht schlecht. So viele Menschen auf so engem Raum? Beggars Banquet, das ist nämlich nicht nur das traditionell auf Gitarrenmusik spezialisierte Stammlabel und dessen progressiver Ableger Mantra. Zu Beggars Banquet gehören auch 4AD, Wiiija, MoWax und das reine Dance-Label XL. Letztere haben ihre Zelte inzwischen in Nolting I lill am Puls der muitikuliurellen Vibes aufgeschlagen. Der Resl inklusive Warenlager sitzt im Traditionshaus in Wandsworth. Daneben gibt es zwei Beggars Banquet-Plattenläden in Pulney und Kingston vor den Toren der britischen Hauptstadt. Fin Plattenladen war es auch, mit dem alles anfing. 1974 eröffneten Musikfan Martin Mills und sein damaliger Geschäftspartner Nick Austin im Stadtteil Larl’s Court den nach dem RoliingStones-Atbum benannten Plattenladen Beggars Banquet. Dieser baute seine Tätigkeit mit weiteren Filialen und einer angegliederten Tourneeagentur beständig aus. 1977 dann war das Punk-Trio The Lurkers auf der Suche nach einem Plattendeal. Alle bekannten Firmen hatten bereits entsprechende Künstler. Da halte Mills die Idee, die Band selbst unter Vertrag zu nehmen. Die Lurkers-Doppelsingle „Shadow/Love Story“ wurde der erste Release auf Beggars Banquet. Das Label hätte gut und gerne eine schnelllebige Episode wie Punk selbst bleiben können, aber es sollte anders kommen. Gruppen wie Tubeway Army, The Cull, Cocteau l’wins, The Charlatans, Prodigy und Basement laxx sicherten Beggars Banquet nicht nur das Überleben, Mills konnte die Firma sogar in die genannten Zweige aufteilen. „Für einen Independent ist es von entscheidender Wichligkeil, die richtige Musik zur richtigen Zeil zu finden. Man muss eine interessante Musikwelle abfangen. Diese Phase überdauert man aber nur, wenn man nach der ersten Welle die nächste erwischt und sich dabei entwickelt. Creation, Matador oder Sub Pop haben sich nur über ihren frühen Erfolg definiert. Wir sind nicht festgelegt. Wir bewegen uns“, so Mills. Die Konstanz seiner Ceschäftspolitik hat sich herumgesprochen. Unlängst wurden das MoWax-Label von HipHop-Fanatiker lames Lavelle und die etablierte lndie-Band St. Llienne bei Beggars aufgenommen. „Wie jede vergleichbare Firma finanzieren, vermarkten und promoten wir Musik. F.inige Künstler machen aber erst dann gute Musik, wenn sie sich in ihrer Umgebung wohl fühlen. Der lamiliengedanke ist uns wichtig. Wir geben Künstlern wirklich kreative Konirolle und schreiben das nicht nur pro lorma in den Vertrag rein. Und wenn es darum geht, eine potenzielle Nr. 1 -Platte zu pushen, haben wir bewiesen, dass wir das auch können.“ Siehe Prodigy, oder M.A.R.R.S.(„Pump Up The Volume“). In Deutschland wird alles vom erst seit gut zwei lahren existierenden Beggars Banquet-Büro (im Vertrieb von PIAS Recordings) in Hamburg betreut. „Wir können es uns heute auch in Deutschland erlauben, alles unler einem Dach zu bündeln. Wir sind eben keine Riesenfirma. Wir tun alles Schritt für Schrill.“ Mills betont, die Mischung aus Geschäftssinn und Auswahl der richtigen Künstler habe die Firma dahin gebracht, wo sie heule ist: „Meine Begeisterung für neue Musik ist immer noch die selbe, die ich schon mit 18 verspürte. Damals haben Van Morrison, l.ove oder die Byrds mein Leben gerettet. Wenn wir heute Musik herausbringen können, die den Kids genauso viel bedeutet, ist das fantastisch.“ (tw)

ST. ETIENNE Don t Back Down 448

Als Mitbegründer des postaeid Indie-Dance gehören St. Etienne zu den innovativsten Künstlergruppen auf der englischen Insel. Wie viele Bands, die von Musikjournalisten gegründet wurden, war das Trio von Beginn an seit 1990 streng konzeptionalisiert, ohne je wirklich künstlich zu wirken. Benannt nach einem franzosischen Fußballclub aus gleichnamiger Stadt, verbinden Bob Stanley, Pete Wiggs und Sarah Cracknell als St. Etienne den melodiösen Popsound der 6oies mit Elektronik. Dank Cracknells beseelter Stimme bleiben die Songs selbst im undurchschaubarsten Kabelgewirr zugänglich und persönlich.

BOWERY ELECTRIC Freedom Fighter 3:46

Nicht selten verlassen texanische Künstler ihre Heimat und ziehen nach New York. Umgekehrt sind derartige Migrationsbewegungen eher die Ausnahme, doch Lawrence Chandler und Martha Schwendener haben ihrer Heimat Manhattan den Rücken gekehrt und ihre Zelte im tiefsten Texas aufgeschlagen. Vielleicht fanden sie dort die natürliche Ruhe, die das aktuelle Werk „Lushlife“ in Mitten von HipHop-Beats und elektronischer Soundsynthetik ausstrahlt. Songwriting scheint für Bowery Electric zunehmend bedeutend zu sein, für „Freedom Fighter“ auf der CD im ME haben Chandler und Schwendener Elemente von Nick Drakesjntroduction“ verarbeitet.

IAN ASTBURY Hi Time Amplifier 420 Auch den Ex-Frontman von The Cult zog es kürzlich in die Wüste, sein seit Ewigkeiten versprochenes Solo-Debüt überarbeitete er 1999 in der Dörre des kalifornischen Hinterlands. Der 38-Jährige wurde in den letzten Monaten plötzlich hyperaktiv, initiierte eine Cult-Reunion inklusive Tournee und kündigte ständig unterschiedlich betitelte Soloalben an. Aus Vorsicht nennen wir für das vorliegende und zehn Songs umfassende Promo-Exemplar noch keinen Titel, liefern aber mit „Hi Time Amplifier“ auf der ME-CD einen repräsentativen Track vorab. Die Breakbeats stammen von Witchman (John Roome), außerdem war Kollege Chris Goss von Masters Of Reality an den Aufnahmen beteiligt.

MICHAEL J. SHEEHY Cross 5:05 Beggars Banquet stellt Michael J. Sheehy mit der Debüt-LP „Sweet Blue Gene“ als Solokünstler vor: Nach der Auflösung von Dream City Film Club verwirklicht der eigenwillige Musiker seine eigene Vision zwischen Country-Folk, Soul und erfrischend destruktiven Waits-Einflüssen. Der Londoner überlässt auf seinem Erstlingswerk wenig dem Zufall: Er produzierte, arrangierte und schrieb alle Songs, spielte dazu den Großteil der Instrumente. Das ruhige „Cross“ zeigt seine sensible Seite.

SIX BY SEVEN My Life Is An Accident 4:41

Das Quintett aus Nottingham spielt Punkrock, als ob das im Jahr 2000 das Selbstverständlichste der Welt sei. Kaum ein Song, in denen die Vocals nicht ähnlich verzerrt wie die Gitarren kreischen, die Jungs haben brachiale Energie. Und, beim Zeus, sie leben den Punk.

wie eine Tagebuchaufzeichnung von Drummer Chris Davis vom Tag nach den „The Closer You Gef‘-Aufnahmen zeigt: „6 a.m. Schale Müsli. 7 a.m. Joggen im Hyde Park. 12 p.m. In einer Pfütze meines Erbrochenen aufgewacht“.

THE DELGADOS No Danger 6:32 Als feste Größen der Glasgower Independent-Szene haben sich die Delgados 15 Monate lang Zeit gelassen, um ihr drittes Album absolut perfekt zu gestalten. „The Great Eastern“ ist in der Tat das bis dato reifste Werk, abgemischt von Dave Fridmann, der vorher für Mercury Rev, Mogwai und die Fläming Lips gearbeitet hat. Hat eigentlich jemand Pedro Delgado informiert? Der Namensgeber ist ein bis über beide Ohren gedopter spanischer Radfahrer, er gewann die Tour de France Ende der 80er, bevor er wegen Chemikalien-Missbrauchs gesperrt wurde.

BLACKALICIOUS Deception Part 1 4:31 Seit 13 Jahren gibt es diese Underground-HipHop Crew aus der San Francisco Bay Area, ihr Curriculum Vitae ist allerdings so löchrig wie eine Revolvertrommel. 1987 begannen Xavier Mosley und Tim Parker zusammen zu toasten, erst sechs Jahre später wurde die erste Single veröffentlicht. Nach einer EP und anderen halbherzigen Projekten war wieder Ruhe, erst 1999 traten die Reimpropheten erneut mehr oder weniger geschlossen an. Das Album „Nia“ ist ein überraschendes Highlight des Westcoast Rap-Outputs, war aber wegen Parkers Alkoholproblemen eine langwierige und schwere Geburt.

BIS Why Are We Waiting 4:16 Ihren Durchbruch schafften die Glasgower Jndie-Youngster bei ihrem „Top Of The Pops“-Auftritt, das Trio hatte zu dem Zeitpunkt nicht mal einen Plattenvertrag. In England wird Bis geliebt, weil sie Musik über obskurste spanische Kleinstadtlabels veröffentlichten, weil John Disco, Steve Sci-Fi und Manda Rin remixen und Comics für japanische Musikmagazine zeichnen. Charmanter Disco-Punk-Pop in Schlafzimmerqualität, der polarisiert: Bis wurden im Jahr’96 als beste und schlechteste Band des Jahres ausgezeichnet.

BRASSY I Can’t Wait 254 Muffin Spencer (eine Schwester des Blues Explosion-Mitglieds) undJonny Barrington stecken hinter Brassy, einem der hoffnungsvolleren Projekte aus Manchester. In Großbritannien war die EP „Bonus Beat“ relativ erfolgreich, mit der Single „I Can’t Wait“ auf der CD im ME sollen Brassy mit ihrer Mischung aus slacky HipHop, gescratchtem Disco-Funk und Punk-Rock jetzt auch auf dem deutschen Markt eingeführt werden. Willkommen.

MOJAVE 3 Any Day Will Be Fine 3:22 Bittet man Mojave 3-Sanger Neil Halstead.ein paar Worte über seine Band zu sagen, ist er so überfordert, dass er am Schluss in bester Woody Alien-Manier gleich den ganzen Kosmos in Zweifel zieht und bestreitet, überhaupt eine Band zu haben.“In gewisser Hinsicht… Weißt du, wir haben alle Jobs…“. Ein Teilzeitprojekt also, interessant aber allemal. Mit feinem Songwriting mit klassischen Folk-Rock Arrangements ist das dritte und aktuelle Album „Excuses For Travellers“ ein charakterstarkes Werk. Ein Wort zum Titel vielleicht, „Entschuldigungen für Reisende‘? „Naja, einige Songs handelten davon, wie man sich von Sachen wegbewegt, und… Ach, alles Blödsinn“, klärt Halstead auf.

THIEVERY CORPORATION Tomorrow (Demo) 3:45 Auf ihrem Raubzug durch die Dance-Musikgeschichte bedienen sich Thievery Corporation bei House, Dub, Lounge Muzak und Downtempo-Breakbeat. Rob und Eric leben und arbeiten in Washington DC, die DJs und Bastler klingen allerdings erstaunlich europäisch. Kruder & Dorfmeister, Pizzicato 5 und David Byrne sprachen ihr Lob aus, die Corporation hat sich im Underground mit ihrer „Ambient Drive-By Music“ einen Namen gemacht. „Tomorrow“ auf der CD-Beilage in ME/Sounds erleichtert das Warten auf die LP, bereits die Demo-Version hört sich reichlich ausgereift an.

BASEMENT JAXX Bingo Bango (Radio-Edit) 346 Längst ist „Bingo Bango fester Bestandteil vieler DJ8ags. erst jetzt allerdings koppeln Felix Buxton und Simon Ratcliffe den Dance-Hit aus dam Album „Remedy“ aus. Die Latin-Einflüsse brachte Ratcliffe mit ins Studio, er ist mit Funk von War und George Duke aufgewachsen. Sein Londoner Kollege Buxton beschäftigte sich in den letzten Jahren mit Chicago House, die beiden haben mit ihrem LP-Debüt „Remedy“ eines der bedeutendsten Progressive-House Werke der Gegenwart geschaffen.

BADLY DRAWN BOY Once Around The Block 3:58 Der schlecht gemalte Bub ist Dämon Gough aus Manchester. In feinster Indie-Art brachte er bisher zwei EPs auf den Markt, außerdem schrieb er den Soundtrack zu einem Kurzfilm und spielte ein Londoner Konzert in einem bestuhltem Theater. Erdoktort beständig an seinem Debüt-Album herum, das für diesen Sommer relativ ungeduldig und endgültig erwartet wird.

CUS GUS VS TWORLD Purple 9:17 Die Gus Gus-Mitglieder Maggi Lego und Biggi Veira hatten diesen Track bereits mit ihrem Hobbyprojekt TWorld aufgenommen, bevor sich die versammelte Mannschaft von Gus Gus an dem Material vergriff. Die Isländer gehören zu einer Handvoll Bands, die von der Indie-Geschmackspolizei akzeptiert werden, obwohl sie sich in regelmäßigen Abständen in reines Dance-Territorium verabschieden, wie das pumpende „Purple“ beweist.