Seitenweise Pop: Die Buchveröffentlichungen des Jahres


Nachdem bereits diverse Musikmagazine „Die neuen Frauen im Rock“ abgefeiert hatten, be-I merkte denn auch die „Brigitte“, was ihr Zielgeschlecht zuletzt an Mikrophon oder Gitarre so zustande brachte: „Mann, sind die gut, Mann!“ hieß es dabei über Björk, Skin, Shirley Manson und ihre Sisters-In-Success. Im Bereich der Rockbücher war das schon lange kein Geheimnis mehr: Gillian G. Gaars „Rebellinnen“ (1992) oder Lucy O’Briens „She Bop“ (1995) hatten die Geschichte der Frauen in der Popmusik gründlich aufgearbeitet. Noch ein Deut besser ist eines der wichtigsten Musikbücher 1997, „Trouble Girls. The Rolling Stone Book Of Woman In Rock“ (Rolling Stone Press, 575 Seiten, 69,- Mark). Herausgeberin Barbara O’Dair läßt PJ Harvey schmutzig vom Cover grinsen und eine Menge der besten Rock-Autorinnen über weibliche Popstars schreiben. Das Buch besticht durch seine Multifunktionalität – man kann es als chronologisch geordnete „History Of…“ lesen oder mit Hilfe des Registers auch als Lexikon verwenden. Ausführliche Diskographien und Chart-Bilanzen verstärken den Handbuch-Charakter. Im Frühjahr hatte bereits eine ins deutsche übersetzte Auswahl von Andrea Junos Künstlerinnen-Porträts in Interview-Form das Licht der Buchhandlungen erblickt: In „Angry Women. Die weibliche Seite der Avantgarde“ (Hannibal, 272 Seiten, 42,- Mark) bringt sie unter anderem Musikerinnen wie Chrissie Hynde, Kathleen Hanna (Bikini Kill), Valerie Agnew (7 Year Bitch), Jarboe (Swans), Lydia Lunch oderJoan Jett dazu, ihr Innerstes nach außen zu kehren.

1997 waren auch die Biographien von Musikerinnen jenseits von den Spice Girls oder TicTacToe ein Thema. Da ragt Brian Hintons „Joni Mitchell. Both Sides Now“ (Sanctuary, 304 Seiten, 42,-Mark) deutlich heraus. Und das nicht nur, weil Hinton das erste Buch seit 1976 über die brillante Singer/Songwriterin mit Jazz-Faible geschrieben hat. Kernfrage: Wie kommt eine kluge, hochbegabte Frau, deren Texte (fast) jeden Vergleich mit Dylan oder Cohen bestehen und die kein Interesse an karriereförderndem Sexbomben-Status hat damit zurecht, zum „Pin-Up of Counter-Culture“ aufgeblasen zu werden? So ähnlich, nur vor anderem zeitlichen und musikalischen Hintergrund, ging es auch Patti Smith. Der Journalist Nick Johnstone handelte sich zwar bei der Recherche zu „Patti Smith. A Biography“ (Omnibus, 224 Seiten, 47 Mark) einen Korb von seiner Protagonistin ein, aber nichtautorisiertes Rockwriting ist weiß Gott nicht die schlechteste Spielart des Genres. Die daraus resultierende Freiheit läßt dem Fan Johnstone die Möglichkeit, Patti Smiths Verehrung für den französischen Symbolisten Arthur Rimbaud als roten Faden durch sein Buch laufen zu lassen und ihre Arbeit auf diesen Einfluß hinzu untersuchen.

Frauen in der Rockmusik waren zwar ein wichtiges Thema in der Pop-Literatur des Jahres, aber nicht das einzige: Robert Palmer, Regisseur der grandiosen Film-Dokumentation „Deep Blues“, hat die zehnteilige BBC-Fernsehserie „Dancing In The Street“ zur Rock-Geschichte mitkonzipiert. „Rock & Roll. Die Geschichte einer Kulturrevolution“ (Hannibal, 345 Seiten, 45 Mark) ist so etwas wie die Begleitlektüre dazu – qualitativ allerdings weit von drögen Funkkolleg-Manuskripten entfernt. Auch wenn Palmer dabei die musikalische Gegenwart etwas zu kurz kommen läßt, vermittelt er einige interessante Perspektiven in Sachen Rock-Evolution.

Einen ähnlich langen Zeitraum deckt „Neil Young. Love To Burn. Thirty Years Of Speaking Out 1966-1996“ (Omnibus, 254 Seiten,47 Mark) ab. Autor Paul Williams erreicht mit dieser Sammlung seiner Artikel zum Thema Neil Young zwar nicht immer die analytische Intensität seiner beiden Dylan-Biographien. Trotzdem sind die Ein- und Ansichten dieses großartigen Rockschreibers eine Lesereise wert. Wer den Originalton vorzieht, dem bietet „Neil Young in eigenen Worten“ (Hrsg. Michael Heatley, Palmyra, 146 Seiten, 29,80 Mark) die Einund Ansichten des knorrigen Kanadiers zu Themen wie Heimat, Familie, Gitarren, Musikindustrie, Drogen, Politik oder Songwriting. Apropos Originalton: Durch seine Parkinson-Erkrankung wurde Johnny Cash zwar daran gehindert, seine Autobiographie „Cash“ (Harper, 310 Seiten) auf einer Promo-Tour zu präsentieren. Das dürfte den Absatz dieser unverblümten Lebensbilanz, in dem Cash zum Schluß sogar Teile seines Familienalbums präsentiert, aber eher beflügeln. Country-Spezialist Patrick Carr hat die 310 Seiten stilistisch geglättet, ohne die Authentizität des „Mannes in Schwarz“ abzuschmirgeln.

Eines der einflußreichsten Rockbücher der vergangenen zwei Jahre war Julian Copes „Krautrock Sampler. One Head’s Guide To The Grosse Kosmische Musik“. Es brachte den schrägen Sound der deutschen Ton-Küchen der 70er wieder auf die Titelblätter der internationalen Musikmagazine, so daß Kraftwerk, Can, Amon Düül, Tangerine Dream oder Faust auf einmal wieder in aller Munde waren. Spex-Autorin Clara Drechsler übersetzte das Werk jetzt ins „Krautische“ (Grüner Zweig Edition, 160 Seiten, 25 Mark). Wer noch tiefer in die Materie einsteigen will, sollte sich „The Crack In The Cosmic Egg“ (Steven Freeman & Alan Freeman, Audion, 290 Seiten, 58,-) besorgen. Der großformatige Band ist eine kompetent recherierte und geschriebene Enzyklopädie des Krautrock-, die auch biographische Daten über denkbar obskure Bands liefert. Auch Davis Toops „Ocean Of Sound. Klang, Geräusch, Stille“ (Hannibal, 320 Seiten, 35,- Mark) nähert sich etwas entlegeneren Musik-Gefilden. Der Autor von „Rap-Attack 1 +2“ geht von der Begegnung, die Claude Debussy 1889 mit javanesischer Musik hatte, aus, erklärt dabei die Ursprünge jeder Art von Ambient-Musik und versucht zwischen den Zeilen, eine andere, ganzheitliche Art des Hörens zu predigen. Das ist hie und da vielleicht eine Spur zu esoterisch und erinnert auch manchmal an Joachim Ernst Berendts „Das dritte Ohr“, hat aber seinen Reiz – vor allem, wenn Künstler wie Sun Ra, Brian Eno, Aphex Twin, Ryuichi Sakamoto oder Brian Wilson zu Wort kommen beziehungsweise analysiert werden.

Wer „Trainspotting ‚oder „Fever Pitch“ nur aus dem Kino kennt, für den ist „Off Limits!“ (Hrsg. Sky Nonhoff, Goldmann, 382 Seiten, 22 Mark) ein idealer Appetizer für „die besten Autoren einer neuen Generation, die ihre eigenen Geschichten erzählt und ihre eigene Sprache spricht“. So hoch greift der Klappentext, aber die meisten der 20 Kurzgeschichten halten, was so vollmundig versprochen wird. Wer durch diese kurzweilige Lektüre auf den Geschmack gekommen ist, könnte zu den drei Romanzen mit chemischen Zusätzen von „Trainspotting“-Autor Irvine Welsh übergehen, die unter dem Titel „Ecstasy“ (Kiepenheuer & Witsch, 350 Seiten, 19,80 Mark) erschienen sind. Anschließend wäre es doch mal wieder Zeit für einen Roman. Autor Walter Mosley machte zwar erst in den letzten Jahren von sich reden, darf aber schon jetzt zur Garde der arrivierten US-Autoren gezählt werden. Angeblich mag sogar der amerikanische Präsident Mosleys Romane aus dem Blickwinkel des schwarzen Amerikas. Bislang auf Krimis abonniert, veröffentlichte der Autor im zurückliegenden Jahr ein Werk mit dem verheißungsvollen Titel „Mississippi Blues“ (Knaus, 349 Seiten, 42,90 Mark). Im Mittelpunkt der Geschichte stehen ein alter, sterbenskranker Bluesmusiker, eine ebenso rabiate wie hilfsbereite Weiße – und der Geist von Robert Johnson. Auch wenn man über die Deltablues-Legende liebend gern mehr erfahren hätte: Ein Muß für Blues-Fans bleibt Mosleys aktuelles Buch allemal.

Ebenfalls ein Muß – die Werke des“Heavy Weight Champion“ der deutschen Sprache, Max Goldt. Sein Buch „Die Kugeln in unseren Köpfen“ (Heyne, 219 Seiten, 14,90 Mark) liegt jetzt als Paperback vor und versammelt wieder göttliche Sprach-Spezereien von Max Goldt – darunter Klassiker wie „Okay Mutter, ich nehme die Mittagsmaschine“, „Warum Dagmar Berghoff so stinkt“ und „Lieder sind geschmolzene Stadthallen oder: früher war alles gelb.“