Walk on the mild side


Alle lieben Onkel Lou. Der ehemalige Kopf von Velvet Underground ist eigentlich über jeden Zweifel erhaben. Dennoch: den unbestechlichen ME/Sounds-Kritiker Severin Mevissen beschlich beim allzu soliden Set des einstigen "Rock'n'Roll Animal" das ungute Gefühl, von einem Routinier abgezockt worden zu sein.

„Wenn die Leute von einem meiner Auftritte nach Hause kommen, möchte ich, daß sie nicht mehr dieselben sind“, hat Lou Reed einmal gesagt. Und wirklich. Für einen Augenblick war ich nicht mehr derselbe. Ich war viel, viel durstigerer als zuvor. Das kommt davon, wenn man sich in weiser Voraussicht und in Anbetracht des Rauchverbots im ehrwürdigen Wiltern Theater vor der Show das Rohr gibt, um dann entsetzt festzustellen, daß der Veranstalter den Laden auch noch mit einem Bierbann überzogen hat. Später – ein paar schnelle, wunderbare Helle später – war ich wieder hergestellt, scheinbar ganz der Alte. Dabei hielt Lou Reed nicht zurück. Nicht, daß er hier irgendetwas zu beweisen gehabt hätte: Die 1.500 Gäste des Abends (aufgrund des Eintrittspreises von 35 Dollar und aufwärts handelte es sich bei ihnen vorwiegend um die zahlungsfähigen, eher gesetzten Typen) halten wahrscheinlich auch dann noch schön blöd gejohlt, wenn Reed alle Saiten gerissen wären. Aber vielleicht ahnte Lou, daß nicht nur treueste Fans im Publikum saßen. Velvet Underground waren mir von jeher zu depri, gut nur wegen der Banane auf dem Cover, die man abkratzen konnte. Und sein Solozeugs? „So ausgekocht widerlich, daß man physisch Rache nehmen möchte“, hatte damals ein Kritiker befunden – solch klaren Worten möchte ich nicht widersprechen. Gut, nun tönt Vox Populi, ist er (wieder?) da, frühestens seit ‚New York‘, spätestens aber seil dem letzten Streich, ‚Set The Twilight Reeling‘ – zugegebenermaßen ein Meisterwerk simpler, lauter Rockmusik. Reed und Band (Fernando Saunders, Bass; Tony „Thunder“ Smith, Drums; Mike Rathke, Gitarre) bedienten sich während der zwei Stunden ausgiebig bei dem neuen Material. Angefangen beim ersten Song ‚Egg Cream‚, über ‚Trade In‘, ‚Hang On To Your Emotions‘, bis hin zum — textlich groben — Anti-RepublikanerSong ‚Sex With Your Parents (Motherfucker), Part II‘. Lou Reed und Co., bereits auf ihrem live eingespielten Album in ungewohnter Harte präsent, legten beim Auftritt noch an Dynamik und Drive zu. Generell gingen sie die Songs tastend an, fast so, als ob sie erst ihre Instrumente warmspielen oder sich gegenseitig aufgeilen müßten. Dann, manchmal bereits nach einigen Sekunden, manchmal auch erst ein paar Minuten, trafen sie sich zu rhythmuslastigen, brutal treibenden Jam-Strecken, bei denen man am liebsten jubelnd aufgesprungen wäre und sein – nicht vorhandenes – Bier in die Luft geworfen hätte. Reed bewies – von mir bislang ungeahnte -— Qualitäten an zig hundsgemein klingenden E-Gitarren, die ein devoter Roadie aus einem schier unerschöpflichen Vorrat hinter der Bühne hervorzauberte. Aber warum sprang niemand auf, warum entzündete niemand den ersten Spliff, obwohl der da vorne über die „Old Fucks“ sang, die einem vorschreiben „You Can’t Smoke This, You Can’t Snort That“. Zweifel wurden stärker in Passagen, in denen Reed alte Velvet-Songs wie ‚Sweet Jane‘ und ‚Wailing For The Man‘ ableierte. Erst recht aber nachdem der bucklige Zuhörer glaubte, eine Regel in der anfänglich so begeistert aufgenommenen Dynamik, im immer wiederkehrenden Crescendo zum Songende hin, in der wiederholten Climax erkannt zu haben: „Oana geht noch, oana geht noch nei…“, klingelte es im Kleinhirn. Das zwiespältige Vergnügen —- einerseits Bewunderung für die gebotene Qualität, andererseits das Gefühl von einem Routinier abgezockt zu werden – hielt bis zum Schluß, zuletzt mit Tendenz zum negativen „Das war’s dann doch nicht“-Gesamteindruck. Speziell nachdem als letzte Zugabe ‚Walk On The Wild Side‘ gespielt wurde — wie abgeschmackt. Lou Reed ist kein „Rock’n’Roll Rambo“, wie tags darauf die Los Angeles Times lobhudelte, Lou Reed ist lauter und älter geworden, sein Publikum fauler und älter.