Viva kommt — MTV – geht in die Vollen
1994 wird das Schicksalsjahr für MTV. Auf dem wichtigsten Markt in Europa entsteht dem Euro-Musikanten mit Viva ein Konkurrent, der über beachtliches Potential verfügt. Viva wird zwar zunächst nur ein Schmalspurprogramm anbieten, doch hinter dem neuen Musikkanal stecken bekanntlich potente Geldgeber.
Deren Engagement hat auch schon in der werbetreibenden Industrie Aufmerksamkeit geweckt. 35 Millionen Mark Werbeeinnahmen im Jahr brauchen die Macher in Köln, um ihr Baby großzuziehen, exakt dieselbe Summe, die MTV heute einnimmt. Für den Betrieb benötigen die MTV-Macher jedoch gut das Doppelte.
Seit über einem Jahr sucht MTV Europe deshalb fieberhaft nach zusätzlichen Einnahmequellen. Zwei Möglichkeiten kommen in Frage: Man nehme Gebühren vom Kabelnetzbelreiber oder Gebühren vom Zuschauer, also Pay-TV. Seit einigen Wochen hat MTV alle Hände voll damit zu tun, Gerüchte über eine bevorstehende Verschlüsselung zu dementieren. O-Ton London: „Solange die geschäftlichen Aspekte und die technischen Gegebenheiten in Europa nicht definitiv geklärt sind, wird MTV noch keine Entscheidung bezüglich der Verschlüsselung treffen.“
Was da so verwaschen mit „geschäftlichen Aspekten“ bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein Rechenexempel. Verschlüsselt MTV sein Sendersignal, entfallen Werbeeinnahmen; dieses Finanzloch muß durch Gebühren wieder gestopft werden. Und niemand konn zur Zeit absehen, ob das anvisierte Pay-TV-Paket von British Sky Broadcasting auch in Deutschland ein Erfolg wird. Ab April 1994 soll das Programmbündel hierzulande vermarktet werden. Eigens zu diesem Zweck gründete Sky-Boss Rupert Murdoch gemeinsam mit Pro 7 eine neue Firma namens Selco in München.
1994 werden voraussichtlich nur Spartenkanäle mit Kindersendungen, Dokumentationen und Country Music über British Sky zu sehen sein. Bei diesem begrenzten Angebot ist es für Selco um so wichtiger, daß mit MTV ein in Deutschland bereits bekannter Sender vermarktet werden kann.
Doch MTV ist gerade hierzulande in einer Zwickmühle: Verschlüsselt man das Signal, verliert man nicht nur 4 Millionen deutsche Satellitenhaushalte, sondern wird auch von der Telekom aus den Kabelnetzen geworfen. Hinter den Kulissen von MTV wird daher an eine Doppelstrategie gedacht:
1. Das Signal wird europaweit verschlüsselt. 2. In Deutschland jedoch, dem mit 11 Millionen Kabelhaushalten wichtigsten Sendegebiet, verhandelt MTV unter Hochdruck über eine Sonderregelung mit der Telekom. Sie soll das codierte Signal wieder entschlüsseln und wie bisher in die Kabelnetze einspeisen.
Gleichzeitig versucht MTV, aus dieser Taktik Kapital zu schlagen. Seit über einem Jahr liegt der Sender mit der Telekom im Clinch, weil er hartnäckig den Plan verfolgt, amerikanische Verhältnisse auf Deutschland zu übertragen. Im Mutterland des Fernsehens nämlich ist es durchaus üblich, daß der Kabelbetreiber dem Programmanbieter Geld dafür gibt, daß er den Sender einspeisen und so ein attraktives Paket vermarkten kann. Dafür, daß die Telekom behaupten kann, das ansonsten verschlüsselte MTV-Programm sei sozusagen gratis im Kabel erhältlich, will der Sender mindestens 10 Pfennige pro Kabelhaushalt und Monat – das wären immerhin 16,8 Mio. Mark im Jahr. Nicht genug, um die bei Codierung entfallenden Werbeeinnahmen auszugleichen. Doch mit einem kleinen technischen Kunstgriff kann MTV die Kuh von zwei Seiten melken: Man denkt daran, demnächst statt eines Signals zwei oder mehr in den Äther zu schicken.
Das erste bestünde dann aus werbefreiem Programm und würde europaweit als Pay-TV angeboten. Das zweite enthielte Werbung und würde nur in Deutschland uncodiert im Kabel zu sehen sein. Mit dieser Lösung könnte MTV auch endlich einen langgehegten Wunsch der werbetreibenden Industrie erfüllen: Nationale Tarife.
Dieser Schritt ist längst überfällig, denn nur wenige Firmen sehen ein, Preise zu zahlen, die auf der Basis eines gesamteuropäischen Publikums errechnet werden. Noch absurder wird dieses Modell, wenn der deutsche Konkurrent Viva mit günstigeren und gezielt berechneten Werbe-Preisen aufwartet. MTV hat mittlerweile bereits für die technischen Voraussetzungen gesorgt, um das Programmangebot in drei Richtungen auszuweiten: 1. Zuerst denkt Viacom, die Muttergesellschaft von MTV, dabei an bestehende Spartensender aus den USA, wie VH-1, ein Musiksender für die Zielgruppe der 25- bis 49jährigen.
2. Außerdem könnte MTV nationale Fenster öffnen und so auf die Konkurrenten in Deutschland (Viva), Frankreich (MCM), Italien (Videomusique) oder Schweden (ZTV) reagieren.
3. Und schließlich denkt man bereits an neue Programme. Seit Bertelsmann ankündigte, in den USA eine neuartige Kombination aus Musik- und Tele-Shopping-Kanal aufzubauen, steht diese Idee auch bei Viacom auf dem Plan.‘.MTV Express‘, so der Arbeitstitel, soll die Zuschauer nicht nur zum Sehen, sondern auch zum Kaufen animieren. CD’s, Videos und andere Fan-Artikel können per Telefon bestellt werden.
Fazit: MTV hat die Gefahr erkannt, die Viva darstellt. Die Bedrohung auf dem wichtigsten Zuschauer- und Werbemarkt, Deutschland, fällt in eine Zeit, in der MTV Europe verzweifelt nach zusätzlichen Einnahmen fahndet. Doch falls die Telekom mitspielt, kann MTV die kritische erste Phase der neuen Konkurrenzsituation meistern.
Ach ja: Trotz aller Beteuerungen, daß Viva keine echte Konkurrenz sei, ist MTV fleißig dabei, seine Deutschland-Aktivitäten auszubauen. Nachdem mit Ingo Schmoll ein zweites germanisches Gesicht in den Tele-Olymp aufsteigen durfte, will MTV in Süddeutschland einen Scout einsetzen, der die neuesten Trends nach London meldet. Nur Spötter folgern aus diesen Anstrengungen, daß es in nicht allzu ferner Zukunft ein „MTV Bavaria“ geben wird …