Gemeingut


Ist ihnen denn gar nichts mehr heilig auf dieser Welt? Schlimm genug, daß der arbeitskraftzersetzende Virus namens ,Rock und Roll“ schon wesentliche Lebens-Adern von Frühsport (Walkman) bis Kuhstall (milchleistungsfördernde Musik-Beschallung) durchdrungen hat — jetzt greift er sogar die letzte Intim-Bastion des deutschen Mannes an: den Morgen-Keck. Das Unheil tauchte erstmals in Hamburg auf. Dort ist es ein für allemal vorbei mit der für dieses Geschäft so wichtigen Ruhe in den Stillen Örtchen, denn der Verein Musizierende Toiletten hat die Mucker-Interessen gegen die Lobby der urinierenden Krabbenpuhler politisch durchgesetzt: Andreas, Tony und Stefan, die Vereinsgründer, konnten 69000 Mark Senatsgeld lockermachen, mit dem sie und ihre rockenden Freunde nun die baufälligen Volks-Klos Hamburgs zu dringend benötigten Proberäumen umbauen. Schon stehen in drei renovierten WCs Klampfen statt Keramik und der Verein hofft, daß dieses Beispiel auch in anderen Städten Schule macht. Nicht chancenlos, denn der Slogan der Klo-Rocker trifft alle Nachwuchsmusiker:

, Lieber einen beschissenen Proberaum als gar keinen.“

Ziemlich verkotet findet dagegen Britanniens PolitBarde Billy Bragg die Verlogenheit der Gesellschaft. Seine Blöße bei einer Benefiz-Veranstaltung zugunsten der AIDS-Hilfe ausschließlich mit einem überdimensio-

nalen Feigenblatt (Foto) bedekkend, kommentierte er

verargert den Zusammenhang zwischen Fußball und Homosexualität in seiner aktuellen Single „Sexuality“: ,Es ist doch ärgerlich, daß in unserer angeblich so aufgeklärten Welt der Fußballplatz noch immer der einzige Ort ist, an dem Männer in der Öffentlichkeit sich gegenseitig berühren, streicheln und küssen dürfen.“

Damit rennt er bei seinem Kollegen Elton John offene Argumentations-Türen ein, der hält Ball und Leder schon immer gut zusammen. Reumütig kehrte Elton nach zwölfmonatiger Abstinenz wieder in den Kreis der Fußball-Förderer zurück. Der Sänger hatte seinem Verein Watford die 14jährige Treue gekündigt, doch nach dem Verkauf der Spitzenspieler Paul Gascoinge und David Platt an italienische Vereine dreht Elton den Geldhahn wieder auf: hervorragende Spieler sollten auch hervorragend bezahlt werden, zumal eine Karriere nur ein paar Jahre lang sein kann. Ich finde es unerträglich, daß wir unseren besten Jungs nicht angemessene Gagen bezahlen, so wie es uns die Italiener vormachen.“

Andersherum funktioniert’s auch: Die weltweit anerkannte Sänger-Niete Roger Waters leistet sich für ihr drittes Solo-Album AMUSED TODEATH für ein angemessenes Salär jenen Produzenten, der schon Modonnas vokale Schallereignisse in Gesang verwandelt hat — Pat Leonard. Der hatte vor Jahren der US-Fachzeitschrifl .Recording World“ verraten, wie das geht: ,lch zeichne den Gesang mit dem Synclavier auf, setze mich an den Computer und nach drei Stunden Rumfummeln klingt’s total geil.“

Darüber kann Amerikas VorzeigeLinkerMichael

Stipe nur lachen. Bei ihm wird nicht einmal gefummelt, wenn er (wie zuletzt für Billy Bragg) Background-Vocals einsingt. Ungeschminkt wie beim Frühstück (Foto) zeigt er sich denn auch im Video »This Film Is On“, mit dem REM ,ein Trostpflaster für die Fans, die uns gerne live gesehen /lä/fen“ geben will.

Noch ist es eine recht junge Wissenschaft, die Hitlologie, aber schon wirft sie die ersten Erkenntnis-Erträge ab: „Es existiert eine signifikante Korrelation“, so die jüngste Publikation eines führenden amerikanischen Hitforschungsinstituts, „zwischen den quantifizierbaren Umsatz-Variablen und dem emotionalen wie soziokulturellen Identifikationsgrad des Darbietenden mit dem Gegenstand des Dargebotenen.“ Übersetzt in normale Sprache verliert diese Studie natürlich genauso schnell ihren Glanz wie alle anderen intellektuellen Worthülsen, denn das kennen wir schon lange: Wer weiß, wovon er singt, fährt die meiste Kohle ein. Deutsche Scorps singen vom Mauer-Fall, Berufs-Trinker beschwören das „Bacardi Feeling“, Marc Cohn schlurft durch Memphis und die New Yorker Bewährungshelferin Chrystal Waters lernt ihren Hit-Refrain von einer Klientin: „Es war eine alte obdachlose Frau, die vor dem Mayflower-Hotel vor sich hinsummte“, und die sicher nicht die richtigen Anwälte kennt, um sich das ihr zustehende Tantiemen-Stückchen von „Daridiedarida“ abzuschneiden. Waters, mittlerweile auch im Hauptberuf Sängerin, sieht sich nicht erst nach ihren Foto-Posen (mit Pailetten-Fummel im Abbruch-Haus) von Vorwürfen bombardiert, die Obdachlosen-Problematik („She’s Homeless“) schamlos kommerziell auszuschlachten: „Aber ich wollte doch nur den armen Menschen helfen“, verteidigt sie sich, „und ich habe tagelang versucht, meine ,Cypsy Woman‘ wiederzufinden. „

B Kaum wiederzuerkennen war dagegen im August einige Tage lang die Innenstadt von Köln. Die mehr als 4000 Besucher der Musik-Messe PopKomm verunsicherten vor allem in den Abendstunden die braven Bürger der Stadt mit ihrem unangemessen aufgedrehten Verhalten.

Teilschuld trägt sicher der Rummel um den ME/Sounds-Sampler GOSSENHAUER (siehe auch S. 25). Verantwortlich war vielmehr ein skrupelloses österreichisches Fanzine, dem es gelungen war, eine in Deutschland verbotene Ösi-Droge auf das Messegelände zu schmuggeln: etliche Paletten mit „Red Bull“-Dosen, ein „Erfrischungsgetränk“ mit 100 Milligramm des tückischen Stoffes Taurin pro Dose.

Auch Rod Stewart ist so ein alter Suchtlinger, seine Droge ist blond und langbeinig, doch nicht minder wirklichkeits-entrückend. Stundenlang schmuste denn auch der in seinen sonstigen Sinneswahrnehmungen benebelte Rod mit mit seinem langmähnigen Stoff, der auf den Namen Rachel hört, vor den zahlreichen Augen der restlichen Gäste am Pool des Nobel-Hotels „Cervo“ auf Sizilien herum. „Wir sind eigentlich ein sehr tolerantes Haus“, schimpfte Hotel-Manager Enrico Varelli, nachdem die Knuddelszene als Foto in der örtlichen Lokalzeitung erschienen war, „aber wenn ich an diesem Tag Dienst gehabt hätte, wäre das nicht passiert.“ Frau Hunter-Stewart kümmert das wenig, sie hat im Moment genug mit ihrer eigenen Band „The Modells“ zu tun, die sie gemeinsam mit zwei anderen Foto-Models gegründet hat. ¿ Er dagegen hätte es sich nie träumen lassen, einst für ein Bauch-Bild Modell zu stehen: Motörhead-Chef Lemmy hatte Tränen der Rührung in den Augen, als Kathy Arden, Mitbesitzerin eines Tätowierungs-Shops am Londoner Kings Cross, ihm backstage nach einem Konzert den Bauch entblößte — geschmückt von einem farbig tätowierten Portrait ihres Stars. Doch das Bild hatte, wie Lemmy blitzeschnell feststellte, einen Fehler — seine Warzen waren nicht zu sehen. Kathy klärte ihn auf: „Wir haben stundenlang experimentiert, aber es gibt keine Technik, mit der man diese Dinger auf die Haut bekommt.“