Dieter Meier: Mensch Meier


Monatelang jettete Dieter Meier verdächtig oft nach Polen. In der sozialistischen Traumfabrik von Breslau drehte das Schweizer Multitalent den Fantasy-Film "Snowball". ME/Sounds-Redakteur Manfred Gillig jettete mit.

Sanft neigt sich die zweistrahlige Tupolew im Zielanflug auf Zürich-Kloten in eine weit geschwungene Rechtskurve. Die rehäugige Stewardess wünscht mit schüchternem Lächeln eine gute Landung. Dieter Meier erzählt noch schnell die Story, wie er vor ein paar Monaten zusammen mit dem polnischen Präsidenten Jaruzelski und dem Regierungschef Mazowiecki nach Genf flog: „Ich unterhielt mich drei Stunden lang angeregt mit den beiden über die Vor- und Nachteile meines Landes. Jaruzelski hat mich zwar am Anfangein bißchen mißtrauisch beäugt – ein Rockmusiker und dann noch unrasiert und mit langen Haaren. Aber als er merkte, daß ich in ökonomischen Dingen nicht unbeschlagen bin und mit Mazowiecki gut diskutierte, taute auch er bald auf. „

Dieter Meiers gute Beziehungen zur polnischen Regierung machen sich angenehm bemerkbar. Wir sitzen in einem Spezialjet der Armee, den die Russen in geringen Stuckzahlen für die höchsten Parteispitzen des Ostblocks bauten. Diese Tupolew 40 ist mit zwölf Sitzplätzen und einem Komfortabteil, das mit Tischen und Bänken an ein Zugrestaurant erinnert, bequem eingerichtet. Und sicher ist sie obendrein: „Diese Maschinen wurden in Handarbeit zusammengenietet“, begeistert „sich Herr Meier. „Sie kann im langsamen Gleitflug notlanden, selbst wenn beide Triebwerke ausfallen. Schließlich wurden damit die höchsten Ränge der Partei und der Regierungen befördert.“

Jetzt sitzt eine erfahrene Crew der polnischen Luftwaffe im Cockpit. Sie bringt Dieter Meier und seine Freunde sicher – und vor allem schnell – von Breslau nach Zürich. Meier ist unrasiert und hat seine Haare im Nacken zum Zöpfchen gebunden. Er sieht müde aus. Kein Wunder: Er hat eine harte, intensive Woche hinter sich. Und dennoch wirkt er gleichzeitig auch erleichtert und gelöst – als habe er Spannungen und Streß mit dem Entern dieses exklusiven Tupolew-Jets von sich abgestreift, der mit Sondergenehmigung auf dem kleinen Flugfeld von Wroclaw, wie Breslau korrekt in Polnisch heißt, starten und landen darf.

Dieter Meier hat seit einem Jahr seinen zweiten Wohnsitz in Wroclaw. Und die meiste Zeit davon ist er mit Leidenschaft in einer riesigen Höhle untergetaucht. „Das ist hier wie in einem Mutterschoß.“

Die Höhle besteht aus Holz und Pappmache. Dieses von außen verwirrende Geflecht aus Bohlen und Brettern füllt einen riesigen Saal fast bis zur Decke aus. Wir befinden uns in den „Wroclaw Feature Filmstudios“, in einem kaum genutzten Studio-Komplex in Breslau. „Das war ein unglaublich glücklicher Zufall“, schwärmt der Dieter. „Dieses Studio ist zwar veraltet, hat dadurch aber eine sehr geheimnisvolle Atmosphäre. Ich habe es für ein ganzes Jahr gemietet. So kann ich wie ein Maler arbeiten, der jahrelang in einer Kirche an einem Fresko pinselt.“

Meier pinselt einen abendfüllenden Kinofilm mit dem Titel „Snowball“. In Breslau hat er dafür die idealen Arbeitsbedingungen gefunden. „Ich kann doch nichtßr sechs Monate die Pinewood-Studios in Hollywood oder Cinecittä mieten. Also mußte ich eine andere Lösung finden – entweder in 76 Millimeter drehen oder aber aus Kostengründen nach Polen gehen.“

Und deshalb mutierte Meier in Breslau zum Höhlenmenschen. Denn sein „Snowball“ ist ein großer Kristall, der in der Unterwelt immer dann anfängt zu leuchten, wenn ein genialer Virtuose in seiner Nähe musiziert. So kommen Licht und Phantasie ins Höhlenreich. Beides braucht der Fürst der Dunkelheit wie ein Vampir das Blut, und deshalb wird auch der Geiger Rumo Ranieri, gespielt vom polnischen Kinostar Zbigniew Zamachowski, in die Höhle entführt. Der Virtuose befreit sich und die anderen Gefangenen des Reichs der Dunkelheit, indem er mit seiner Geige eine Melodie spielt, die die Herrschaft der Phantasielosigkeit beendet.

Meiers Höhlengleichnis hat Märchen-Charakter; die Story erinnert ein bißchen an Orpheus in der Unterwelt und ein wenig an den Rattenfänger von Hameln. Und selbstverständlich an Meiers Lieblings-Zeitvertreib während der vergangenen zehn Jahre – an Yello. Denn zusammen mit seinem Partner Boris Blank, der am liebsten im Tonstudio neue Sounds kreiert, demonstrierte er mit Yello oft genug die Macht der Musik. Blank ist nicht mit nach Polen gekommen; er bastelt zuhause in der Schweiz am Soundtrack zum Film, der rechtzeitig zum Kinostart – spätestens bis Ende dieses Jahres – fertig sein soll.

„Ursprünglich war ‚Snowball‘ das Libretto für einen Live-Auftritt“, erklärt Dieter. „Das ließ sich aber nicht realisieren, weil wir sonst mit noch mehr Zirkus-Equipment als eine Heavy-Metal-Band unterwegs gewesen wären.“ Also wollte Meier, der Märchenerzähler, schon vor drei Jahren in der Schweiz seine Idee als Film umsetzen. Doch das ging gründlich schief: „Es war die schwierigste Zeit meines Lebens.“ Er arbeitete mit Filmprofis zusammen, „die Hornhaut ums Herz haben. Es war grauenhaft.“ Doch Meier, der „nicht dauernd den Regisseur spielen will“, ließ nicht locker und fand schließlich in Polen den richtigen Platz und begeisterte Mitarbeiter für sein Projekt. „Einen Film dieser Größenordnung könnte ich in keinem westeuropäischen Land und schon gar nicht in Amerika drehen. Das würde zehn- bis fünfzehnmal mehr kosten. Auch so schon ist der Gesamtetat in Höhe von 2,8 Millionen Franken kein Pappenstiel.“

Kompagnon Boris hatte lange ein gespaltenes Verhältnis zu „Snowball“: „Erst fand er das Libretto sehr spannend. Als er aber sah, in was fiir eine Situation ich mit der Schweizer Filmindustrie gekommen bin, hat er mir dringendst abgeraten, es noch mal zu versuchen. “ Doch Sätze wie „Man muß einfach mal einsehen, daß etwas nicht geht“ bewirkten lediglich, daß sich Dieter Meier noch mehr engagierte. Und mittlerweile liebt auch Boris wieder das „Snowball‘-Projekt. „Er ist sowieso auf den Geschmack gekommen und geradezu versessen darauf, Filmmusik zu machen. „

Der Weg führt den Besucher der „Wroclaw Feature Filmstudios“ durch unübersichtliche und verwinkelte Korridore, treppauf, treppab und durch unzählige Schwingtüren. Der ausgedehnte Studiokomplex hat kafkaeske Dimensionen. Holzverstrebungen und metallene Leitern umgeben das imposante Bauwerk, das polnische Handwerker in mühevoller, monatelanger Arbeit hier errichtet haben; die fahlen Lichtkegel von vielen Scheinwerfern erleuchten wie der Widerschein untergegangener Himmelsgestirne die weit entfernte Decke des Gewölbes. Ein dunkler Pfad fuhrt ins Innere des Mutterschosses.

Drinnen herrscht staubtrockenes Klima. Das farbige Licht der Scheinwerfer illuminiert eine täuschend echte Höhlenwelt; Stalagmiten und Stalaktiten aus Pappe wuchern in der Kulisse, Gipsfelsen teilen die verschiedenen Räume voneinander ab. In dieser Ur-Höhle brütet Meier wie in einem kreativen Känguruh-Beutel sein Film-Märchen aus. Und deshalb herrscht hier reges Leben: Malgorzata Potocka, die polnische Hauptdarstellerin und Co-Produzentin, steht gerade mit opernhafter Pose vor der Kamera, während der Ton-Mann Boris Blanks Musik per tragbarer Nagra-Tonbandmaschine einspielt. Unter dem bauschigen Glockenrock der rothaarigen Schönheit wuselt und wichtelt es. Plötzlich öffnet sich der Tüll einen Spaltbreit, eine kleine Hand wird sichtbar, und schließlich erblicken zwei Liliputaner das Licht der Welt.

Die beiden haben sich – wie seinerzeit Oskar der Blechtrommler in den Unterröcken seiner Großmutter – unter dem Kleid der Herrscherin der Dunkelheit häuslich eingerichtet. Als prototypische Kapitalisten inspizieren sie das Höhlenreich, um es zur Touristen-Attraktion auszubauen und damit Geld zu scheffeln. Deshalb haben sie eine Foto-Ausrüstung dabei und knipsen, knipsen, knipsen, was das Zeug hält.

Die Szene wird wiederholt, und auch nach dem zweiten und dritten Mal ist Regisseur Meier noch nicht zufrieden. Mit volltönender Stimme und lebhaften Gesten gibt er seine Direktiven, und manchmal muß die Dolmetscherin hart kämpfen, um den SchauSpielern seine Erklärungen schnell und korrekt zu vermitteln. Er stapft im Filmkostüm durch die Kulissen und sieht dabei aus, als habe er seit Jahrzehnten nichts anderes getan, als sich als Charakter-Darsteller in Rollen von Dr. Faust bis Frankenstein Junior zu profilieren.

Meier hält sich nicht an einen starren Fahrplan, er improvisiert und arbeitet intuitiv. Er probiert verschiedene Varianten einer Szene aus, setzt spontane Ideen sofort um und fragt auch die Darsteller nach ihren Vorstellungen.

„Ich habe keine Angst, ein Idiot zu sein. „So definiert er sein kreatives Credo. „Ich versuche mit allem, mir den Emst des Kindes beim Spielen zurückzuerobern. Deshalb empfinde ich eine ziemlich große Abenteuerlust. Wenn du diese Lockerheit, diese Unverkrampfiheit erst einmal erreich! hast, kannst du alles mögliche angehen. So lief ja auch bei mir immer alles parallel – die Schreiberei, die Filmerei und andere Dinge wie die Musik.“

Abends im Projektionsraum sehen wir die Ausbeute vergangener Tage – zwei, drei Szenen in immer neuen Variationen. Manche Bilder erinnern in ihren strengen Schwarzweiß-Kontrasten und mit ihren raffinierten Lichteffekten an berühmte Stummfilme wie „Nosferatu“ von Friedrich Murnau. Meier läßt seiner Begeisterung freien Lauf: „Fantastischne! Fantastischne!“ ruft er immer wieder. Ein paar polnische Worte hat er eben auch schon aufgeschnappt. – Manche Sequenzen erinnern auch an eine Inszenierung von den Waper-Festspielen in Bayreuth. Was ist „Snowball“ eigentlich? Eine Rock-Oper? Oder eine Wagner-Inszenierung? „Das Ganze ist ein Libretto für Klang und Licht“, erklärt Meier daraufhin ebenso sinnlich wie vielsagend. „Wie das zum Schluß dann genau aussieht, weiß ich zum Glück aber auch noch nicht. „

Auf dem Flug nach Zürich bringt er die Sache dann auf den Punkt: „Eigentlich bin ich ein reiner Geschichtenerzähler. Seit ich ganz klein war, beginne ich einen Satz und fabuliere dann weiter, ohne zu wissen, wie er endet. Dieses Fabulieren nimmt verschiedene Formen an. Schreiben ist am präzisesten, weil du hundertprozentig Herr deiner Produktionsmittel bist. Film ist die mühsamste Art, weil so ein großer Apparat mit drinhängt.“

Und während die zweistrahlige Tupolew im Landeanflug auf Zürich-Kloten sanft an Höhe verliert, fängt er schon wieder an: „Da muß ich dir schnell noch erzählen, wie ich zusammen mit meinem Bruder das Astrolabium fürs Handgelenk erfunden habe…“

Aber das ist nun wirklich eine andere Story.