Lou Reed
Großstadt-zombies, Drogen-Wracks, Transsexuelle - je extremer, desto lieber. Der Flirt mit dem New Yorker Zwielicht bestimmte seit den frühen Tagen von Velvet Underground die Arbeit des 46Jährigen Rock'n'Roll-Literaten. Doch plötzlich ist der Rausch vorbei. ME/ Sounds-Mitarbeiter Steve Lake wollte wissen warum.
Noch vor … noch vor fünf Minuten wäre es mir schwergefallen, einen zynischeren Zeitgenossen zu finden als Lou Reed. Seine Gleichgültigkeit, das Fehlen jeglicher Emotion trug er jahrelang demonstrativ zur Schau und schrieb (im Velvet Underground-Klassiker „Heroin“) so gänzlich unsentimentale Zeilen wie „/ really don’t care“, wenn erst einmal „the smack begins to flow“.
Seitdem, man kann es nicht anders sagen, hat es sich Lou Reed anders überlegt. Auf seinem neuen Album NEW YORK überrascht er uns plötzlich als singender Sozialarbeiter, der mit ausgestrecktem Finger auf die „moralischen Grenzgänger“ zeigt – genau jene Leute also, die er früher so wortreich verklärte. Seiner Heimat New York, einst die faszinierende Geliebte, schlägt er inzwischen alles andere als Komplimente um die Ohren. Ein „walk on the wildside“, so sagt er uns, ist nicht mehr ein glamouröser Flirt, sondern die Verzweiflungstat von Verrückten. Wach auf. Komm zu Sinnen! ruft der alte Zyniker New York, den USA – und nicht zuletzt auch sich selbst zu.
Im Gespräch ist er, man registriert es fast mit Erleichterung, immer noch der verbockte Knöterich. Und er bestreitet auch gleich, sich auch nur die Bohne verändert zu haben. Grimmig blickt er mich durch seine James Joyce-Brille an, die die neue Seriosität nur zu unterstreichen scheint.
„Du behauptest also, es sei meine Perspektive, die sich geändert habe. Nein. Acht Jahre Reagan haben das Rückgrat der Stadt gebrochen. New York hat sich verändert, nicht ich.“
Man könnte mit ihm lange darüber diskutieren, doch das würde einen ausführlichen Abstecher in sein Privatleben bedeuten – und das ist tabu. Ein Vertreter der Plattenfirma, der bei unserem gesamten Gespräch anwesend ist, hat mich zu Beginn über die REGELN aufgeklärt, unter denen dieses Interview stattzufinden hat. Die REGELN lassen selbst die Zehn Gebote verblassen: Du sollst nicht sprechen über Reeds Privatleben, nicht über Velvet Underground, Andy Warhol, Nico, AIDS und Drogen. Unterm Strich bleibt nur die neue LP, doch da sich diverse Songs spezifisch um AIDS, Drogen und Andy Warhol drehen, weiß man nicht so recht, wo man überhaupt ansetzen soll.
Soviel ist klar: Lous neues soziales Bewußtsein hat ihn nicht unbedingt glücklicher gemacht. Im Gegenteil: Er ist paranoider denn je. Tina Weymouth, deren Tom Tom Club unlängst gemeinsam mit Lou Reed auf der Bühne stand, gab mir eine bezeichnende Einschätzung: “ Wir spielten im CBGB’s – und Lou hatte panische Angst, weil das Publikum so nah an der Bühne stand. Er ist inzwischen total straight, hat seit zwei Jahren keinen Drink mehr angerührt. Und er hat Schiß vor den Leuten, die er im Lauf der Jahre beleidigt hat. Er befürchtet, es könne ihm genauso ergehen wie John Lennon. „
Daß Reeds Abrechnung mit New York auf einem gehobenen literarischen Niveau stattfindet, versteht sich von selbst. Der Schüler der amerikanischen Literatur-Legende Dellmore Schwartz jongliert mit literarischen Querverweisen, u.a. auf T.S. Eliot. „Strawman“ z.B. bezieht sich auf T.S. Eliots „The Hollow Men“ – eine Anspielung, die dem deutschen Übersetzer völlig entgangen ist. Stattdessen unterstellt er (Spex-Chefredakteur D. Diederichsen -Red.) in einer wenig glücklichen Fußnote, der Song beziehe sich auf Sandinista-Führer Daniel Ortega.
Darauf angesprochen, wird Reed aschfahl. „Fußnote??!! Was für Fußnoten?! Wer hat hier Fußnoten autorisiert?! Wer wagt… Sag mir bitte, daß es nicht wahr ist. Oh Scheiße!“
Sein Gesicht verzieht sich, als kämen ihm gleich die Tränen. „Da versuche … da gebe ich mein Bestes, ich zahle die Übersetzungen obendrein noch aus meiner eigenen Tasche – und dann passiert so was!“
Sein Ärger steigert sich zu blankem Haß. „Wie kann die deutsche Plattenfirma so etwas durchgehen lassen?! Warum, zum Teufel, hat mich niemand gefragt?! Wer erlaubt es einem Übersetzer, meine Texte nach Belieben zu interpretieren?!“ Eine unglaubliche Schweinerei. Er will die Übersetzung zurückziehen lassen, will Sticker auf die Alben kleben lassen, daß sich Lou Reed von den Übersetzungen distanziert.
Als er sich schließlich beruhigt, versucht er seinen Ärger mit einem gequälten Lächeln zu überspielen. “ Weißt du, was Warhol in dieser Situation gesagt hätte? . Oh, diese Version ist doch viel interessanter als das, was ich schrieb!‘ Der Punkt ist nur: Es ist nicht interessanter, es ist Quark!“
Sowohl Warhol als auch Velvet Underground haben seine Gedanken in jüngster Zeit verstärkt beschäftigt. Trotz aller Versuche, die Vergangenheit zu verdrängen, kann er eine gewisse Nostalgie nicht abschütteln. „Dime Store Mystery“ etwa ist eine Meditation über den Tod, in dem Reed assoziative Parallelen zieht zwischen Christus‘ Tod und den letzten Stunden von Andy Warhol.
Besagter Song wiederum war das Vorspiel zu SONGS FOR DRELLA, einem Requiem für Warhol, das Reed und sein alter Velvet-Partner John Cale im Januar in New York aufführten. („Drella“, die Kurzform von Cinderella/Aschenputtel, war Warhols Spitzname.) Beide hören nicht auf, Warhols Großzügigkeit zu unterstreichen – eine Eigenschaft, die man gemeinhin dem Pop-Art-Guru nicht gerade attestiert hat.
Reed jedenfalls ist sich der Schuld nach wie vor bewußt, fragt sich aber gleichzeitig, ob seine Hörer Statements wie diese überhaupt registrieren. „Niemand hört den Texten in der Rockmusik überhaupt noch zu, ist es nicht so? Andererseits: Wenn ich nicht mein Bestes gebe, hasse ich mich selbst. Ich habe mein Talent oft genug in den Schmutz gezogen, indem ich Material veröffentlicht habe, das die Veröffentlichung nicht verdiente.
NEW YORK hat erstmals die durchgängige Qualität, die ich mir für meine Platten immer gewünscht habe. Die Worte haben wirklich Substanz und Bedeutung. Und die Musik ist wunderbar rauher Rock’n’Roll. „
Was uns zu der Frage bringt, ob Rock’n’Roll wirklich in der Lage ist, komplexe Texte umzusetzen?
„Das ist natürlich die große Frage. Ich bin noch immer ein Fan der drei Akkorde. Die Einfachheit der Musik hat dem, was ich mit Worten mache, immer gut zu Gesicht gestanden. Doch je intensiver die Worte werden, desto größer wird auch die Gefahr, daß die Musik die Texte nicht mehr trägt. Aber das ist ein kleiner privater Kampf, den ich mir ständig selbst liefere.“
Er seufzt. „Letztlich mache ich meine Platten sowieso nur für mich. Denn niemand scheint die Platten zu machen, die ich gerne höre.“