Gegen Den Strom
Mit „Such A Shame“ landeten sie 1984 einen Riesen-Hit, jetzt schafften Talk Talk den Sprung vom Wegwerf-Pop zur Avantgarde. Steve Lake lockte Mark Hollis aus dem Elfenbeinturm.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß sich Gruppen, die in den Genuß von Hit-Singles kamen, nicht überschätzen und nach höheren künstlerischen Werten streben sollten. Wenn sie es doch und womöglich auch noch erfolgreich tun, sind die Kritiker schlichtweg platt.
Zu unserem Glück passiert sowas nicht allzu oft: Der letzte, der erfolgreich den Sprung aus den Teeny-Zeitschriften in künstlerischere Sphären schaffte, war wohl David Sylvian. Talk Talks plötzlicher Wandel von einer Popgruppe zum kreativen Mini-Orchester wirkt allerdings noch erstaunlicher—hier muß heftig umgedacht werden.
Vor SPIRIT OF EDEN, ihrem neuen und entwaffnend brillanten Album, hatte ich Talk Talk kaum bewußt wahrgenommen. Ich wußte zwar, daß sie Hunderttausende von Platten verkauft hatten, kannte auch das eine oder andere Video, fand aber, daß sich dieser kleine Typ mit den großen Ohren reichlich verklemmt darum bemühte, hinter seiner Sonnenbrille irgendwie geheimnisvoll zu wirken. Viel Substanz schien dahinter nicht zu stecken.
Seit dem neuen Album sieht das alles ganz anders aus. Besonders die erste Seite klingt wirklich außergewohnlich: eine großangelegte Collage von Stimmungen und Atmosphären, mit spannender Verwendung von Klang und Stille. Die Dynamik fällt bis zu einem kaum hörbaren Flüstern, rast bis zum Kreischen einer Feedback-Gitarre, um dann zum sanften Seufzen einer gedämpften Trompete zurückzufallen. Jazz wird mit Folk-Rock verflochten, es finden sich aber auch dissonante Momente, die darauf hindeuten, daß man sich auch mit Avantgarde-Kompositionen auskennt, und pastorale Holzbläser, die direkt aus dem Impressionismus stammen könnten…
Nach meiner ersten Begegnung mit ihm fällt es mir allerdings immer noch schwer, in Mark Hollis den Schöpfer dieser Musik zu sehen.Er wirkt bescheiden bis gar nicht vorhanden, seine Stimme ist ein langsames Genuschel. Mundfaul verschluckt er die Konsonanten am Ende der Worte, dehnt die Vokale ins Endlose und ist alles in allem kein sonderlich dynamischer ^ Gesprächspartner (kein v Wunder, daß er für seine Platten immer länger als ein Jahr braucht).
Kommt die Rede auf zeitgenössischen Pop, gehen ihm fast gänzlich die Worte aus: „Interessiert mich nicht … nein, nein … ich höre gar kein Radio mehr, nein …“
Wenn man aber die richtigen Namen ins Spiel bringt, ist er plötzlich Feuer und Flamme. Erwähnt man Delius, Bartok oder Janacek, reagiert er sogar regelrecht begeistert:
Janaceks Solo-Piano… yeahl“
Dieselbe Reaktion bekommt man auf die Erwähnung von Miles Davis oder des kürzlich verstorbenen Arrangeurs Gil Evans. Hollis nennt das alte Davis/Evans-Gemeinschaftswerk SKETCHES OF SPAIN als wichtigen Einfluß auf SPIRIT OF EDEN, „insofern als sich auch die Art, wie Evans an sowas herangegangen ist — seine gewissenhafte Sorgfalt — deutlich von dem unterschied, was andere Jazzmusiker zu seiner Zeit gemacht haben.“
Schön zu hören, wie Hollis i sich in solche Sachen einfühlt und eher intuitiv arbeitet als intellektuell. Er erinnert an Rockmusiker der 60er, als sich noch keiner irgendwelche Schranken auferlegte und Popmusik ein offenes Buch war ¿ (und keine Industrie mit festen Regeln), in das man einfach alles hineinschreiben konnte.
Um seine Musik in den Griff zu bekommen, hat Hollis mit Produzent und Co-Komponist Tim Friese-Greene neben den festen Mitgliedern Paul Webb (b) und Lee Harris (dr) eine durchwachsene Besetzung zusammengestellt. Für den Miles Davis-Part wurde Henry Lowther engagiert, der mit Bluesmann John Mayall gespielt hat und jetzt ergreifende Trompeten-Figuren beisteuert Avantgarde-Komponist Hugh Davis, ein Weggefährte von Stockhausen, spielte ein selbstgebautes elektronisches Instrument namens Shozyg. Mit der 12-Saitigen reicherte schließlich Pretenders-Gitarrist Robbie Mclntosh die Gitarren-Strukturen von Hollis und Friese-Greene an.
Außerdem war Pentangle-Bassist Danny Thompson dabei, und ein Drei-Mann-Holzbläsersatz, der immer wieder versuchte, die Dissonanzen zu korrigieren, die Mark in die Partitur geschrieben hatte, weil sie ihn für ein fehlgeleitetes Pop-Bürschchen hielten, der einfach „keine ¿
Ahnung hatte“. Nicht zu vergessen: der Kirchenchor von Chelmsford („meine Heimatstadt, ich bin jast stolz“).
Ohne daß es jemandem aufgefallen wäre, ist Talk Talk offenbar gar keine Band mehr. „Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir Planen mit Musik herausbringen, die unmöglich live gespielt werden kann, also habe ich auch gar kein Interesse daran, es zu versuchen. Deshalb ist Talk Talk keine kleine geschlossene Einheil mehr, sondern eher ein umfassender Begriff, der das gesamte Projekt beschreibt: alle, die mitmachen.“
Wenig später möchte sich Mark am liebsten aus der ME/Sounds-Fotosession davonstehlen und versucht den Fotografen davon zu überzeugen, einfach eine der Freundinnen der Band zu fotografieren („Sie kann doch auch Talk Talk sein — warum nicht?‘ 4 ).
Mark murmelt noch etwas von seinem Desinteresse an Marketing-Strategien, dann versuche ich es mit einer Frage nach seiner Stimme, aber das scheint ihn noch weniger zu interessieren. Hatte er Vorbilder?
„Nee, nee. Aber Leute, die einen beeindrucken, hinterlassen natürlich irgendwelche Spuren. Ich denke da an die 60er, an die Small Faces und Steve Marriott, der in den höchsten Höhen seiner Stimme sang. Damals habe ich gedacht , Gott, singt der toll — sowas will ich auch mal machen …'“
Ein ganz schön weiter Weg — von den Small Faces zu Bartok.
Ja, und zu meiner Mod-Zeit hätte ich mir für kein Geld der Welt klassische Musik angehört. Daraufhat mich erst Fnesc-Greene gebracht, als er mir mit dem englischen Komponisten Delius kam. Trotzdem hätte ich nie den Mut gehabt, heute solche Musik zu machen, wenn es nicht dazwischen den Punk gegeben hätte. Da hieß es plötzlich: Jeder kann Musik machen, wenn er das will. Das war echt befreiend, sowas müßte mal wieder passieren.
Heute rennen die Plattenfirmen bloß Trends hinterher, und das ist doch absolut langweilig.“