Rare Rillen – Von Jägern und Sammlern
Wahre Sammler sind eine seltsame Sorte Mensch. Die letzten Groschen werden in die verbissen gejagte Rarität investiert, die freien Wochenenden auf Plattenbörsen und Flohmärkten verbracht. Wer in der geschlossenen Gilde der Oldie-Gelehrten bestehen will, muß ebenso informiert wie beinhart sein. Martin Reichold, selbst Sammler aus Leidenschaft, gibt einen Einblick in das Geschäft mit den raren Rillen.
Sie zahlen über 100 ,-DM für eine rare Plattenhülle der Beatles, über 600.- DM für ein seltenes Cover von David Bowie: Wahre Sammler müssen für ihre Leidenschaft oft genug bluten.
Für Helmut aus Kiel begann die Sucht 1956, Martin aus Düsseldorf fing 1962 das Fieber, Manfred aus München schließlich drehte 1962 durch. Die Gründe: „Jailhouse Rock“, „Love Me Do“ und „Der Kommissar“.
Alle drei sind seitdem rettungslos ihrem Hobby verfallen, auch wenn -— oder gerade weil -— die breite Öffentlichkeit sie für ebenso verrückt erklärt wie Briefmarken-oder Bierdeckel-Sammler. Wenn es um ihre geliebten Perlen aus Vinyl geht, stehen an den Plattenkästen einer Schallplattenbörse der 45jährige Zahnarzt neben dem 17jährigen Lehrling. Alters- oder soziale Unterschiede gibt es nicht, entscheidend ist nur ihre gemeinsame Leidenschaft für den King of Rock ’n‘ Roll, für die Fab Four oder die Glimmer Twins.
Und so unterschiedlich wie die Sammler selbst sind auch die Objekte ihrer Begierde. Für Otto Normalverbraucher sind Platten eben Platten, für den Sammler aber beileibe nicht: Da gibt es z.B. Promo-Platten — Platten also, die von einer Plattenfirma zu Werbezwecken veröffentlicht und an Medienleute verschickt werden. (In den USA haben sie auf der Vorderseite einen Papierstreifen, auf dem die einzelnen Songs mit Zeitangabe abgedruckt sind, den sogenannten Timestrip; in Deutschland besitzen die Platten meist nur einen Aufdruck oder Aufkleber auf der Rückseite der Plattenhülle. In die Sparte der Promo-Platten fallen auch von Radiostationen hergestellte Platten, meistens Mitschnitte von Sendungen.) Dann gibt es die ebenso beliebten wie gehaßten Flexi-Discs, die als Beilagen zu Zeitschriften, regulären LPs oder ähnlichem erscheinen; weiterhin das weite Feld der Picture-, Color- und Shape-Discs, Platten also, die entweder als Bildplatte, Tonpostkarte (eine Spezialität der polnischen Staatsfirma Tonpress) oder mit farbigem %
Vinyl erscheinen. Ein echter Sammler will aus dem Gebiet, auf das er sich spezialisiert hat. natürlich möglichst alles.
Klar, daß es bei einer solchen Jagd auf Platten auch Stücke gibt, die für den 17jährigen Lehrling nicht mehr erschwinglich sind: So gehen bei den Auktionen von“.Oldie-Markt“. Europas größter Fachzeitschrift für Plattensammler, allmonatlich 30000 bis 40000 Platten über den Tisch, darunter viele Exemplare für drei- und vierstellige Preise.
Was bekommt man für diese horrenden Summen? Das berühmte „Butcher-Cover der Beatles etwa, das Preise von 1000.- DM und mehr erzielt, weil es nur für kurze Zeit auf dem amerikanischen Markt erhältlich war. (Moralapostel liefen damals Sturm, als sich die Vier auf der Plattenhülle von YESTERDAY & TODAY zusammen mit rohem Fleisch und zertrümmerten Spielzeugpuppen ablichten ließen. Folge: Die Hülle wurde sofort aus dem Handel gezogen und teils überklebt, teils eingestampft.) Ähnlich erging es dem sogenannten „Drag-Cover“, das in Europa für die Bowie-LP THE MAN WHO SOLD THE WORLD vorgesehen war und den guten David als ausgewachsene Tunte zeigt. Zwar ließ Bowie damals gerne offen, welchem Geschlecht denn nun seine Zuneigung galt, aber dieses Foto war seiner Firma 1970 denn doch zuviel: Die Hülle wurde eingestampft und durch eine neue, unverfänglichere ersetzt. Preis heute: über 600.- DM.
Den Vogel aber schießt gegenwärtig in Deutschland eine Presley-Platte ab, die zum deutschen Filmstart von „Blaues Hawaii“ veröffentlicht wurde. Der King of Rock ’n‘ Roll ist nämlich auch in den Preislisten der Köonig: Ein Sammler löhnte für das seltene Stück exakt 5008.- DM und einen Pfennig! (Die oft ungeraden Preise ergeben sich aus dem Mittelwert der drei höchsten Angebote im „Oldie-Markt.) Die Mehrzahl der Platten aber, die monatlich von „Oldie-Markt z.B. versteigert werden, gehen zu zivilisierten Preisen zwischen 10 und 25 Mark weg. Denn sammeln kann man auch, ohne das nötige Kleingeld für Spitzenpreise zu haben.
Unter den Sammlern kann man vier Typen unterscheiden: Da wäre zum einen der Nostalgiker, der heute etwa 32 bis 42 Jahre alt ist und alles haben will, was ihm mit 16 Jahren in der Discothek oder auf Parties gefiel. Ein -— unter Sammlern bekanntes -— Beispiel dafür ist Martin aus Düsseldorf, der sich Anlang der 60er Jahre für die Beatmusik begeisterte und seitdem alles, was in diesem Zeitraum veröffentlicht wurde, seiner Plattensammlung einzuverleiben versucht. Die großen Namen hat er längst, jetzt sucht er die unbekannten Gruppen und die kleinen Label. Denn die Flops von gestern sind die Raritäten von morgen. Und so jagt er nach deutschen Bands wie den Beathovens oder den Boots aus Berlin.
Ähnlich liegt der Fall bei Hans-Jürgen aus Essen, der mit der psychedelischen Musik der späten 60er Jahre groß wurde und heute verzweifelt nach Platten von Gruppen wie Shadrack Chameleon, Merkin, Hunger oder Mystic Siva sucht. Sein Problem: Die Platten erschienen nur bei winzigen US-Firmen und sind unter 500.—- DM kaum zu haben.
Der zweite Typ wird am besten charakterisiert durch Helmut aus Kiel. Er ist -— im übertragenen Sinne —- das Groupie eines Künstlers oder einer Band und will alles, wirklich alles in seinem Plattenschrank stehen haben, was sein Liebling je veröffentlichte. Und so hat Helmut seit der schicksalhaften Stunde, als er zum erstenmal Elvis Presley hörte, bis heute über 3000 Platten nur von Elvis in seiner Sammlung. Alles was der King je öffentlich von sich gab, muß Helmut besitzen -— ganz egal ob die Platte in Thailand oder Indien erschien. Das Ding muß her!
Sammler-Typ Nr. 3 läßt sich am besten als Optiker umschreiben, denn für ihn wird es erst interessant, wenn die Platten eine ausgefallene optische Form haben! Ein schönes Beispiel für diese Sammlergruppe ist Peter aus Hamburg, der seit 1978, als erstmals Bildplatten in größerem Umfang auf den Markt kamen, rettungslos den Picture- und Shape-Discs verfallen ist — Platten also, die anstelle des schwarzen Vinyls unter der durchsichtigen Folie ein Foto haben — oder aber in einer Form erscheinen, die sich gravierend von den regulären Scheiben unterscheidet. Rund sind sie nie, sondern viereckig, achteckig oder herzförmig, eben in der Form (Shape), die ihr Urheber für sie ausgetüftelt hat. Seit der ersten Shape Disc, einer amerikanischen Weihnachtsplatte aus dem Jahre 1948, sind speziell in den späten 70ern eine Vielzahl dieser Exoten auf den Markt gekommen. Manche weisen schon durch ihre Form auf den Inhalt hin (so erschien der Toto-Hit „Africa“ in der Form des afrikanischen Kontinents), andere geben die Silhouette des jeweiligen Künstlers wieder. Regeln gibt es keine, immerhin aber zwei Bücher, die diese Sonderlinge unter den Schallplatten vorstellen: Zum einen das „Gimmi.v Book Of Records“ (Edition 01ms, Zürich), zum anderen „The Book Of Shapes“, erschienen bei Peter Bastine in Hamburg.
Das Problem für Peter und seine Kollegen: Shapes oder Picture Discs werden selten weltweit aufgelegt, sondern meistens nur punktuell für ein Land. Und außerdem in einer Auflage, die normalerweise zwischen 5000 und 10000 liegt — und entsprechend schnell vergriffen ist. Deswegen heißt es für Peter: gut informiert sein und schnell zuschlagen, sonst ist schon wieder eine Rarität produziert worden, von der man erst erfahrt, wenn es (fast) schon zu spät ist.
Der letzte Typ, der Nummern-Freak, sammelt alles, was ein einzelnes Label während seiner Existenz veröffentlicht hat. Josef aus München beispielsweise wurde an seinem 10. Geburtstag mit einer Single von Freddy Quinn auf dem „Sternchen-Label“ von Polydor überrascht. Er stürzte sich speziell auf diese Reihe des Marktriesen Polydor. Alle Polydor-Sternchen-Platten (deshalb so genannt, weil auf dem Innenlabel der Singles Sternchen abgebidet waren) möchte Josef besitzen; auf Plattenbörsen erkennt man ihn und seine Kollegen deswegen recht einfach, weil sie sich praktisch nur in Zahlen unterhalten. Da geht es dann um die Nummern, die ihnen noch zum vollständigen Glück fehlen. (Entsprechend verhalten sich Sammler der Beatles-Firma Apple, der Rock ’n‘ Roll-Geburtsstätte Sun oder des Punk-Labels Stiff.) Ein Platten-Freak, der heute mit Sammeln anfangt, hat’s allerdings wesentlich leichter als seine Kollegen vor zehn oder mehr Jahren. Die Zeit der heroischen Einzelkämpfer ist vorbei.
Dazu haben mehrere Faktoren beigetragen: Zum einen gibt es heute in allen größeren Städten Gebrauchtplattenläden, ausgehend von dem 1973 vom ehemaligen Schauermann Ronald Schwarz in Hamburg gegründeten „Oldies Record Shop“. Und Hamburg ist bis heute die feinste Adresse für Plattensammler geblieben, zumindest was die Gebrauchtplattenläden angeht. Die hanseatische Domäne ist natürlich kein Zufall: Hamburg, nicht zuletzt durch seine Nähe zur Pop-Metropole London, war Rest-Deutschland musikalisch immer schon einen Schritt voraus.
Angefangen hatte das 1961, als im „Star Club“ eine bis dahin unbekannte Combo namens The Beatles ihre ersten Sporen verdiente. Später wurde dasOnkel P. für viele angelsächsische Gruppen das Sprungbrett nach Deutschland. Außerdem sitzen in Hamburg die Medienkonzerne Polygram (mit vlcn Sub-Laheln Metronome. Phonogram und Polydor), die Teldec, die RCA und die WEA.
So gibt es heute neben dem „0ldie Record Shop“ in Hamburg noch „Paulingos Plattenrille“ und „Ingos Plattenkiste“, der sich selbst als größter Gebrauchtplattenladen Europas bezeichnet. In Berlin heißt das Gegenstück dazu „Top-Shop“, und im Süden Deutschlands gehen die Sammler in die „Münchener Schallplatten-Zentrale“.
Der zweite Vorteil für die Sammler von heute sind die regelmäßigen Plattenbörsen. Sie fanden erstmals 1977’78 in der Bundesrepublik statt: damals gab es im Jahr höchstens 20 Veranstaltungen, heute sind es jährlich über 200. Hier können sich die Sammler informieren, preisgünstig einkaufen oder auch nur mit Gleichgesinnten reden.
Allerdings hat die Flut der Börsen auch ihre Nachteile: Früher waren es zwar nur wenige, aber die waren dann wirklich zentrale Veranstaltungen, bei denen sich die gesamte Szene traf. Inzwischen sind die meisten Börsen relativ lokale Treffs, zu denen sich kaum mehr als 200 Sammler einfinden. Nur noch wenige Börsen haben überregionale Bedeutung, wie etwa die zweimal jährlich stattfindende Siegener Börse des rührigen Sammler-Ehepaares Rosenkranz, das seinen Besuchern meist als Abschluß noch ein Live-Konzert bietet. (Beim letztenmal waren es beispielsweise die Byrds.) Oder im Süden der Bundesrepublik die Karlsruher Börsen des Schallplattenzubehör-Händlers Ludwig
Reichmann, ebenfalls zweimal im Jahr.
Die dritte große Hilfe für den Plattensammler ist eine Zeitschrift, die 1977 von drei Studenten in Mannheim gegründet wurde. Zunächst nannte man sich „Ringtausch Report“, später „Chatterbox“ und heute firmiert die Publikation unter dem Namen „Oldie-Markt“. Der „Oldie-Markt“, von vielen seiner alten Leser immer noch „Chatterbox“ genannt, ist heute die größte Sammlerzeitschrift in Europa mit über 12000 Lesern in den USA, Kanada, Brasilien. Japan und allen Ländern Westeuropas. Und damit auch Sammler, die neu im Geschäft sind, nicht von den alten Hasen übers Ohr gehauen werden, veröffentlicht der „Oldie-Markt“ jedes Jahr einen Preiskatalog, in dem die Preise von über 30000 LPs und Compact Discs angegeben sind.
Wer keine Sammlerpreise zahlen will, für den springen kleine Firmen in die Bresche, die gesuchte Stücke wiederveröffentlichen und zu erschwinglichen Preisen zugänglich machen.
Den Anfang machte „Uns Uwe“ 1976 in Hamburg. „Uns Uwe“, darunter verstehen Plattensammler nicht etwa Uwe Seeler, sondern Uwe Tessnow, der sein Label „Line Records“ mit der Absicht gründete, vor allem gute und rare Platten, die in den normalen Läden nicht mehr zu finden waren, wieder auf den Markt zu bringen. Line, das heute vom Stuttgarter Intercord Record Service vertrieben wird, ist auch heute noch sehr aktiv und brachte erst vor kurzem 12 Platten des „Starclub“-Labels zur Feier des 25jährigen Bestehens des Hamburger Musikclubs heraus (der ja jetzt einem Hotelneubau weichen mußte).
Für Country-, Rock ’n‘ Roll- und deutsche Rock ’n‘ Roll-Fans ist seit 1975 in Bremen Richard Weitze mit seiner Firma „Bear Family Records“ unermüdlich tätig. Auch er warf dieser Tage eine 10-LP Box mit alten Aufnahmen des Rock ’n‘ Rollers Jerry Lee Lewis auf den Markt, die nur schwer zu übertreffen ist.
in England bildete sich der Anfang der 80er Jahre ebenfalls eine Firma, die seitdem alles herausbringt, was gut und teuer ist: Edsel nennt sich das Unternehmen, das vom Teldec Import Service in Hamburg vertrieben wird und bisher vor allem für Freunde der Westcoast-Musik und der amerikanischen Rockmusik der 60er Jahre viel Hörenswertes brachte.
Und auf den immer größer werdenden Sammlermarkt reagieren auch die Großen im Geschäft: Polydor veröffentlichte kürzlich eine 5-LP-Kassette mit Aufnahmen der legendären Velvet Underground mit Lou Reed und John Cale. Die Hamburger KolJegen von WEA schlugen gleich zweimal zu: Einmal mit einer 4-LP-Box der US-Firma Elektra, ELEKTROCK. die die 60er Jahre dieses Labels behandelt, auf dem Gruppen wie die Doors, The Stooges und Love ihre Platten veröffentlichten. Und als zweiten Großangriff auf die Sammlerszene brachte das A in WEA, Atlantic Records, unter dem Titel THE ATLANTIC RHYTHM AND BLUES YEARS 1947-1974 sieben Doppel-Alben im Schuber heraus, die die glänzende Geschichte der legendären Firma auf diesem Gebiet dokumentieren.
Für den harten Kern der Sammler sind solche Re-Issues natürlich nichts, man tut alles, um die Originale im „Minf‘-Zustand (also möglichst neuwertig) aufzutreiben. Allerdings gehen nur wenige soweit wie der Kollege Klaus aus Mannheim, der seine Platten nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes in Watte eingepackt, sondern sie auch nur mit weißen Seidenhandschuhen anfaßt. Als er einmal umzog, dauerte alleine der Transport der Platten mehrere Tage, da er seine Edelsteine nur einzeln befördern wollte.
Aber das sind natürlich Ausnahmen, genauso wie Josef aus München, der, als er erfuhr, daß sein Idol Freddy Quinn seine Hausbar verkaufen wollte, seine gesamte Plattensammlung versilberte und sich Freddys Hausbar zulegte. Heute kauft er wieder all jene Platten, die er damals losschlug, und tröstet sich abends mit einem Schluck aus der Hausbar. Ein Sammlerschicksal.