Die Dissidenten
Es geht auch anders. Wer die ausgetretenen Trampelpfade der westlichen Popmusik verlassen möchte, sollte sich vielleicht am Beispiel dieser Gruppe Wientieren. Die Dissidenten suchen seit Jahren ihre Inspiration in der Begegnung mit exotischen Musikkulturen. Tourneen durch Afrika und Indien haben den deutschen Nomaden kreative Anstöße gebracht, von denen andere nur träumen können. Kara Ben Nemsi, sattel die Kamele!
Heimat ist, wo mein Kopf ist“, sagen die Dissidenten, die in Friedland im selbstgewählten Exil leben. Dort, genauer: in Niedernjesa, ließen sich Frido Josch und Uve Müllrich 1980 nieder; von dort aus planen die Dissidenten seit nunmehr vier Jahren ihre abenteuerlichen Ethno-Beat-Projekte, die sie rund um die Welt führten und bislang u.a. mit dem südindischen Karnataka College of Percussion, der National Dance Company of Zimbabwe und den „marokkanischen Beatles“ Lern Chaheb zusammengeführt haben.
Vor allem im arabischen Sprachraum werden sie geschätzt, weil sie keine Museumsmusik für Ethnologen machen, sondern der neuen arabischen Tanzmusik in Europa das Feld bereiten. In Afrika ist man nämlich der Meinung, daß die alten Musikkulturen nicht in Naturschutzreservaten bewahrt werden sollten, sondern nur überleben können, wenn sie mit anderen populären Musikformen derartig furiose Fusionen eingehen, wie es die Dissidenten gemeinsam mit Lern Chaheb riskiert haben.
“ Wir gehen da natürlich einen gefahrvollen Weg“, meint Frido. Im Gegensatz beispielsweise zu Brian Eno und David Byrne, die auf LIVE IN THE BUSH OF GHOSTS ihren Computer-Discobeat im Studio mit einem Korangesang kombinierten, legen sie selbst größten Wert auf eine direkte menschliche Kommunikation. Und im Gegensatz auch zu Malcolm McLaren, der sich nicht um die soziale Bedeutung und die gesellschaftliche Funktion von Musik kümmert, sondern lediglich die Sounds aus Soweto für den westlichen Popmusik-Markt aufbereitet, respektieren die Dissidenten die Traditionen und Gebräuche jener alten Kulturen, mit denen sie auf ihren Reisen durch Asien und Afrika konfrontiert werden. Hervorgegangen waren die Dissidenten 1980 aus der Münchner Jazz-Rockband Embryo, die sich am Ende einer einjährigen Asien-Tournee (festgehalten auf einer sehr schönen Platte und in dem Spielfilm „Vagabundenkarawane“) aufsplittete. Michael Wehmeyer, Frido Josch und Uve Müllrich machten sich schon bald darauf erneut nach Indien auf, getreu der Devise der Bremer Stadtmusikanten, die da lautet: “ Was besseres als den Tod finden wir immer!“
Drei Monate lang tourten sie gemeinsam mit dem Karnataka College of Percussion durchs Land, eine ebenso lange Tournee in gleicher Besetzung durch Europa schloß sich an.
1983 folgten sie einer Einladung zu einem viertägigen Workshop nach Bonn, wo sie auf die National Dance Company of Zimbabwe trafen.
Mit einer speziellen Genehmigung des Ministers ging es schließlich gemeinsam ins Studio, die Verhandlungen über eine Zimbabwe-Tournee ziehen sich hingegen bis heute hin, da man wohl auch in diesem jungen sozialistischen Staat mit dem Bandnamen nicht so recht etwas anzufangen weiß.
Nach einer weiteren Tournee mit dem Karnataka College, die durch über 50 deutsche Städte führte, war es dann so weit: „Die Inder“ wurden „bewältigt“ -und der Kunstanspruch, demzufolge die Musik möglichst schwierig zu (begreifen) sein müsse, ad acta gelegt. Vor allem Frido und Uve wollten keine „Umsonst & Draußen-Opas“ werden, stattdessen lieber die krampfhafte und typisch deutsche Trennung von guter und kommerzieller Musik aufheben. Anders als die musikalischen Fundamentalisten von Embryo, die einfach ihre langen Haare wie einen Vorhang von der Bühne runterhängen ließen und spielten, so daß dem Publikum nichts anderes übrig blieb, als ergeben zu lauschen, orientierten sich die Dissidenten zusehends an der einfachen marokkanischen Volksmusik.
Seit 1980 waren sie immer mal wieder in Marokko gewesen, wo sie in Tanger die Bekanntschaft mit Sheik Abdul Al Rashid gemacht hatten, einer legendären Gestalt innerhalb der arabischen Musik. Tanger, der nördlichste Zipfel Afrikas, war bis 1962 Freihandelszone gewesen und ist auch heute noch ein magischer Anziehungspunkt für Dealer, Freaks und Außenseiter jeglicher Couleur. Der Black Power-Führer Eldridge Cleaver lebte dort eine Zeit lang im Exil, ebenso Jack Kerouac und William Burroughs. Und Alan Ginsberg, Timothy Leary oder Duke Ellington waren von Sheik Abdul, einem Förderer der einheimischen Musik und Inhaber eines Jazz-Clubs, ähnlich beeindruckt wie Frido und Uve.
Über ihn erhielten sie Kontakt zu Lern Chaheb, einer arabischen Kultgruppe, die das Banjo in die marokkanische Musik eingeführt, die verschiedensten Elemente der Volksmusik miteinander verbunden hatten und einen vergleichbaren Stellenwert in der arabischen Hemisphäre besitzen, wie in Westeuropa die Beatles oder die Stones. Der Infiltration durch westliche Popmusik begegneten Lern Chaheb, indem sie sich auf ihre Ursprünge besannen; in ihren Texten drücken sie das aufbegehrende Lebensgefühl der jungen Araber aus.
In einer Garage in Chadilamrani kommt es zu ersten Sessions zwischen ihnen und den Gnaua-Musikern. die von Sheik Abdul mitgeschnitten werden und später die Grundlage der LP SAHARA ELEKTRIK sowie der 3-Track-Maxi „Casablanca“ bilden werden.
Mitte 1983, die Indien-Phase ist endgültig überwunden und ihr Label Exil-Musik zu etwas Geld gekommen, reist Uve Müllrich dann erneut nach Tanger und versucht sechs Wochen lang vergeblich, die Gruppe außer Landes zu schleusen. Die besitzt allerdings keine Pässe und Uve weiß nicht, wem er das Bakchich unterzuschieben hat.
Das Projekt scheint zum Scheitern verurteilt, das Studio ist bereits gebucht, aus Frankreich und Belgien liegen Zusagen vor, die anvisierte LP zu veröffentlichen, als es Frido schließlich gelingt, die mittlerweile in Paris lebenden Lern Chaheb aufzutreiben.
Die Aufnahmen geraten äußerst chaotisch – und als dann auch noch Cherif Lamani, das Oberhaupt der Gruppe, ein ihm zum Geschenk gemachtes Mastertape für lumpige 7000 Mark in Paris an Araber aus der Hai-Fi-Branche verhökert, stehen die Dissidenten kurz vor der Pleite. Denn aus den Deals mit den französischen und belgischen Plattenfirmen wird nun nichts mehr, da denen das Band inzwischen für nen Appel und en Ei angeboten wurde.
Zufällig erfährt jedoch der EfA-Vertrieb von dieser Platte und dort zeigt man sich spontan begeistert von diesem ersten Aufeinandertreffen einer westlichen Rockband mit arabischen Musikern und fühlt sich von der angenehmen Relaxtheit an die frühen Bob Marley-Platten erinnert. EfA überlegt nicht lange. SAHARA ELEKTRIK erscheint im Februar 1984 und besticht mit ihrem rhythmisch s(z)wingendem Ethno-Beat und den kehligen arabischen Gesangsstimmen.
Die LP erzielt in Deutschland einen Achtungserfolg und erhält ausgezeichnete Kritiken, wird bei weitem nicht so enthusiastisch bejubelt wie im Ausland. Vor allem in England stößt sie hingegen auf die offenen Ohren eines John Peel und wird von der „Sounds“-Redaktion unter die 20 wichtigsten LPs des Jahres gewählt. Inzwischen kursieren auch in der arabischen Welt über 100000 Raubcassetten und der mediterrane Sender „Radio Midi“ spielt die Platte nunmehr schon seit Monaten Tag für Tag.
Aufgrund der negativen Erfahrungen mit Cherif Lamani sehen sich die Dissidenten daraufhin in Paris und Berlin nach neuen arabischen Musikern um – vergebens. Dank der Hilfe von Erin Lindbergh, einer Enkelin des Ozeanfliegers und Freundin der Band, gelingt es schließlich im Sommer 1984. den Kontakt zu El Housseine Kili (Gesang, Gitarre) wiederherzustellen, und vor der eigenen Tür, in Göttingen, wird man kurz darauf auf den Algerier Hamid Baroudi (Gesang, Gitarre) aufmerksam.
Als Drummer stößt erneut Marion Klein (ex-Missus Beastly, ex-1.FC) dazu – und in der südlichen Sahara trifft man auf Dr. Hose Sauerbruch. Der ist es leid, länger den Tropenarzt zu spielen und übernimmt kurzerhand die Keyboards. Komplettiert werden die Dissidenten schließlich durch eine stadtbekannte Kasseler Größe: Sandrino Sandinista bearbeitet die Synthidrums und kehrt fortan live den in die Jahre gekommenen lederschwulen Motorrad-Rocker hervor.
Uve Müllrich, der einst als Fähnleinführer dem Pfadfinder-Pimpf Manne Praeker (Spliff) die ersten Baßläufe beigebracht, dann mit Bommi Baumann die erste Band gegründet, später in der Kaderband Lokomotive Kreuzberg gespielt hat und auch mal als Bassist von der Nina Hagen-Band umworben wurde, erinnert sich nun wieder an seine Vorliebe für Mod-Musik und drängt darauf, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die früher nie in Betracht kamen.
Gemäß dem Motto “ Wenn Du eine Bude auf dem Markt hast, mußt Du auch schreien“ und gemeinsam mit Frido, der die geschäftlichen Fäden in der Hand hält, machen sie sich Gedanken über Bühnenpräsentation, Styling und die Form ihrer Presse-Infos. Zwar will man auch weiterhin nicht in Routine erstarren oder jeden Abend die gleiche Story runterrattern, doch die Band wird nunmehr als lebendiger Organismus und nicht wie früher als musizierende Hippie-Kommune begriffen.
Doch zurück ins Jahr Orwells. Mit der neuen Besetzung ging es im letzten Herbst auf eine umfangreiche Deutschland-Tournee, in deren Rahmen die Dissidenten ausgerechnet auf einem Fest gegen Lehrerarbeitslosigkeit die Tänzerinnen von Banat Assahara (Die Wüstentöchter) kennenlernten. Die wurden auf der Stelle für eine kurz darauf stattfindende Rockpalast-Aufzeichnung engagiert – und gehören seitdem zur Gruppe.
Mit dieser Konstellation möchte Frido, der früher bei der Acid-Rockband Xhol rumhing (von deren Radikalität er noch immer schwärmt), später in verschiedenen Formationen Musik zwischen Marx und Jazz-Rock machte und live wie ein Derwisch über die Bühne fegt und ein ultra-schräges Saxophon spielt, am liebsten im August einen Trip durch die Maghreb-Staaten unternehmen. „Um in dem ganzen Business hier nicht den ,headspace‘ zu verlieren.“
Hoffen wir, daß es dazu kommt. Denn ohne die bunten musikalischen Lebensläufe der Dissidenten wären einige der wichtigsten Kapitel deutscher Rockgeschichte nicht geschrieben worden.