Das Ende der Experimente?


Der Schallplatten-Branche bläst der Wind ins Gesicht. Sinkende Umsätze haben dafür gesorgt, daß sich die Firmen in ihrer Veröffentlichungs-Politik beschränken: Chancen haben (naturlich) nach wie vor jene Platten, die kommerzielle Gewinne versprechen. Problematischer aber wird’s bei den unkommerziellen Außenseitern. Werden bald nur noch „sichere“ Platten veröffentlicht? Ist die musikalische Vielfalt in Gefahr?

ME/Sounds ging der Frage nach.

In Los Angeles, wo die meisten amerikanischen Plattenfirmen beheimatet sind, kursiert seit geraumer Zeit folgender Branchen-Witz. Frage: Warum richten sich die Plattenbosse trotz der schönen Hochhäuser mit fantastischem Blick aus dem 30. Stock ihre Büros heutzutage im Parterre ein? – Antwort: Damit sie beim Aus-dem-Fensterspringen nicht so tief fallen!

Fürwahr, ein recht düsterer Scherz, aber wenn man sich vor Augen hält, daß Gruppen, die drüben vor wenigen Jahren noch mit Leichtigkeit Vier- bis Sechs-Millionen-Seller schafften, es heute nur mit Ach und Krach auf eine Million verkaufter Exemplare bringen, dann kommt einem dieser Humor nicht mal so schwarz vor.

Und wenn der Präsident der RIAA (Recording Industry Association of America), Stanley Gartikov, sagt: „Es gibt kein Allheilmittel für die Krankheit, an der die Musikindustrie momentan leidet Keine noch so ausgefallene Kur wird uns das Goldene Zeitalter der Schallplatte zurückbringen“, dann klingt das kaum übertrieben.

Aber in Deutschland, denkt der Leser, da sieht’s doch besser aus, da haben die Umsatzrekorde der NDW doch den Herstellern die Kassen gefüllt.

Daß dem jedoch nicht so ist, belegen wiederum die Schlagzeilen des Branchen-Fachblatts „Der Musikmarkt“. Da heißt es z. B. „Industrie klagt: Handel ordert nur noch Bestseller“. Schon mehren sich Stimmen, die prophezeien, daß im Laufe der nächsten Jahre die Plattenveröffentlichungen radikal zusammengestrichen werden – und daß dabei vor allem jene Alben auf der Strecke bleiben, die nicht von vorneherein die kommerziellen Erwartungen zu erfüllen scheinen. Mit anderen Worten: Wird künftig nur noch „Mainstream“ -Musik veröffentlicht? Haben Außenseiter keine Chance mehr?

Doch trotz der Kassandrarufe der Fachpresse ergeht sich die hiesige Industrie zur Zeit noch in Zweckoptimismus. Dieser Tenor jedenfalls war bei allen Gesprächen mit leitenden Angestellten einiger großer Plattenfirmen herauszuhören.

Thomas Stein, Geschäftsführer der Teldec zu ME/Sounds: „Die Risiko-Freudigkeit mag zwar reduziert worden sein, aber das Risiko selbst, d.h. der Versuch, in neue Namen zu investieren, muß und wird es immer geben. Wir versuchen uns dabei natürlich auf Platten zu beschränken, die in absehbarer Zukunft einen gewissen Erfolg versprechen.“ Jochen Kraus, Direktor der EMI International: „Sicher, heute überlegt jeder drei Mal, bevor er Geld aus dem Fenster wirft. Der Spielraum ist kleiner geworden, es wird nicht mehr nach dem Gießkannen-Prinzip verfahren, es werden Platten nicht mehr so wahllos veröffentlicht wie früher. Eine ernsthafte Gefahr für die musikalische Vielfalt sehe ich trotzdem nicht.“ Jörg Larsen, Geschäftsführer der CBS in Frankfurt, sagt es sogar noch diplomatischer:

„Sparmaßnahmen sollten nie die Folge haben, ein vielversprechendes Produkt aus Kostengründen nicht zu veröffentlichen. Jeder Star von heute war der Outsider von gestern. Deshalb werden momentane Außenseiter bei uns immer gute Chancen haben, wenn uns das Produkt als solches interessant erscheint. Von einer Gefährdung der musikalischen Vielfalt kann keine Rede sein. “ Manfred Zumkeller schließlich, Geschäftsführer der WEA in Hamburg: „Daß eine bewußte Orientierung auf ,Mainstream‘-Musik m eine Sackgasse führt, beweist ja ein Blick auf den amerikanischen Markt. Bei dem Versuch, nur das zu produzieren, was gerade in den Radiostationen gespielt wird, hat sich was die Umsätze betrifft – die Katze m den Schwanz gebissen. Wenn wir so verfahren, graben wir uns selbst das Wasser ab.“ Allein Friedel Schmidt, Geschäftsführer der Ariola und gleichzeitig Vorsitzender des deutschen Phono-Verbandes, scheint den Optimismus seiner Kollegen nicht ganz zu teilen:

„Natürlich muß man experimentieren. Wenn man das nicht täte, gäbe es viele der heute erfolgreichen Acts nicht Aber eine Gefährdung dieser Experimente ist momentan sicher gegeben.

Lassen Sie mich kurz einen Abschnitt aus dem Wirtschaftsbericht 1982 der Phono-Industrie zitieren, der in Kürze veröffentlicht wird. Da heißt es: Gegenüber 1981 hat sich die Zahl der Neuerscheinungen wie auch das Gesamtangebot verringert. Bei sinkendem finanziellen Spielraum sind es vor allem die risikoreichen Produktionen mit speziellen Musikrichtungen für ein begrenztes Liebhaber-Publikum, die nicht mehr mitgetragen werden können. Gerade private Mitschnitte (Home) des populären und erfolgreichen Repertoires sind für diese kaufmännisch unvermeidlichen Abstriche mitverantwortlich. Denn sie drücken die Auflagen-Höhe dieser Produktionen, deren Ergebnisse den erforderlichen Spielraum für die breite Repertoire-Pflege schaffen könnten. Negative Auswirkungen auf die Vielfalt des musikalischen Angebotes können so nicht verhindert werden.‘ Ihre Frage ist also hier bestätigt. Das Problem hegt und das haben wir oft betont, bei den privaten Mitschnitten bzw. bei der geforderten Cassetten-Abgabe. Wenn einer heute sagt, er will nicht ein paar Groschen mehr zahlen für diese Abgabe, dann muß er auch damit rechnen, daß die Vielfalt verloren geht und daß er am Ende gar nicht mehr hat, was er mitschneiden könnte.“ Eine Überlegung, die wiederum Uwe Tessnow, Inhaber des kleinen Line-Labels, weit von sich weist: „Daß die meisten Firmen in einer Krise stecken, liegt doch auf der Hand, denn die LP-Preise sind seit Jahren nicht gestiegen, dafür aber die Vinyl-, die Personal- und die allgemeinen Herstellungskosten. Nun muß also das böse Hometaping herhalten.

Zudem stellen die meisten Firmen, die von sich behaupten, sie hätten ihre Veröffentlichungen nicht reduziert, doch nur eine negative Situation positiv dar. Die haben nämlich vor Jahren Verträge mit ausländischen Partnern abgeschlossen, die sie verpflichten, die Platten ihres Partners – koste es was es wolle – bis zum Ablauf der Verträge zu veröffentlichen. “ Uwe Tessnow allerdings hat gut lachen, da bei seinem „Familien-Unternehmen“ die immensen Kosten für Personal, Produktion und den gesamten Apparat eines großen Plattenkonzerns nicht zu Buche stehen.

Wie also sieht es aus mit der musikalischen Vielfalt auf dem Platten-Sektor? Schenkt man den Aussagen der deutschen Platten-Bosse Glauben, so ziehen zwar dunkle Wolken am Horizont auf, eine ernsthafte Gefährdung des musikalischen Spektrums aber ist zur Zeit (noch) nicht gegeben.

Hoffen wir im Interesse aller, daß es dabei bleibt.