Orchestral Manoeuvres In The Dark
"Ich bin wohl wieder der falsche Mann für diesen Job" gestand Steve Lake, nachdem er sich Paul und Andy zur Brust genommen hatte. Indes - die Einsicht kam zu spät...
So, da hängst du nun mit diesem widerlichen Schuldgefühl im Bauch. Der einzige, der im Theatre Royal in der Londoner Drury Lane sitzengeblieben ist. Alle anderen tanzen – in Ekstase. Du hast Gewissensbisse wegen der hübschen jungen Dame von Virgin, die dir im Auftrage der Ariola 20 Minuten auf ihrem Interview-Zeitplan eingeräumt hat … Seltsam, daß die meisten Zeitgenossen eine berufsmäßige Abneigung gegen die Leute von Schallplattenfirmen hegen. Immerhin, wer hat einem sonst schon so viele Platten geschenkt, einen jemals so oft zum Essen eingeladen, Drinks, Hotels oder Auslandtrips spendiert? Und du – du undankbares Stück – kannst dich nicht einmal dazu aufraffen, Orchestral Manceuvres In The Dark wenigstens ein bißchen gut zu finden? Kannst du dir nicht etwas Mühe geben, zumindest einzusteigen?
Um ganz offen zu sein: Nein, ich glaube nicht, daß ich das könnte. Ich bin wohl mal wieder der falsche Mann für den Job. Die alte Antipathie gegen elektronische Popmusik kommt da wieder hoch. Alles, was im Fahrwasser von Kraftwerk nach oben gespült wird, produziert anscheinend nur die oberflächliche Musik – oberflächlichste selbst gemessen am Maßstab der Popmusik.
Ich sage Euch auch, warum. 95 Prozent der jungen Männer, die heutzutage Synthesizer spielen, tun das, weil sie keines der konventionellen Rock-Instrumente beherrschen. Das zeigt sich beispielsweise, wenn Andy McClusky bei den lebhafteren Nummern zwischendurch mal flüchtig mit Baß und Gitarre hantiert. Die Songkonstruktionen, mühsam mit einem Finger auf dem Synti ausgetüftelt, kommen kaum über das Niveau von Weihnachts- oder Kinderliedern hinaus. Obwohl man – hört man nicht so genau zu – leicht von der spacigen Atmosphäre eingelullt werden kann. Aber diese Special effects bei der Elektronik sind letztlich doch billige Effekthascherei.
Es sind die beunruhigend simplen Melodien von OMITD, die mich immer tiefer in meinen samtbezogenen Sitz hineinrutschen lassen. Das und die Bemühungen der Band, uns sowas wie Spielfreude und Hingabe vorzugaukeln. Für mich gibt es nichts Alberneres als Leute, die hinter ihren Synthesizern tanzen. Als ob man sich mit einer Reihe von Knöpfen und Schaltern auf eine physische Art einlassen könnte!
Dann sehe ich mir das Publikum an. Frisch, sauber, nett. Die könntest du direkt einladen – ohne Angst zu haben, daß sie dir das gute Chinaporzellan kaputtmachen oder sich auf deinem Teppich übergeben. Genau wie Paul Humphreys sehen alle wie Bankangestellte aus. Aber Humphreys hat den Vorteil, daß er auf der Bühne so aussieht, als arbeite er tatsächlich bei einer Bank. Mit einem kleinen Lächeln. Hinter seinem Schreibtisch. Tanzend hinter seinem Schreibtisch. Und da mir Bankangestellte – im Gegensatz zu Leuten von Plattenfirmen – selten nennenswert Gutes getan haben, wirkt dieses Spektakel, genau wie die Musik, höllisch deprimierend auf mich.
Was bleibt mir anderes, als ins Blake’s Hotel nach South Kensington zurückzufahren und den Haus-Rekord im Konsumieren von Tequila zu brechen. Der Mann hinter der Bar ist voller Verständnis und schiebt mir noch Stunden, nachdem der Laden geschlossen ist, Drinks herüber. Im Morgengrauen gefällt er mir sogar immer noch, obwohl er mir gesteht, daß er ein Jünger Bhagwans sei. Niemand ist eben vollkommen.
Was mit Graus-Drinks in unbeschränkter Menge immer einhergeht, ist – natürlich – ein Graus-Kater unbeschränkten Ausmaßes. Am nächsten Tag ging’s mir zu dreckig, um überhaupt mit jemandem zu reden, geschweige denn mit irgendeinem Synthesizerspieler. Also mußte ich mein Interview auf die kommende Woche verschieben. Die Jungs kamen nach München, um ihren Senf zur „Classic Rock Night“ zu liefern, dem TV-Coup von Oberlangweiler Eberhard Schoener.
Paul Humphreys ist nervös. In seinem Hotelzimmer schreitet er ununterbrochen auf und ab. Andy McCluskey steckt in Liverpool noch im Schnee, die Gruppe konnte für die Show nicht ihre volle technische Ausrüstung benutzen (alles ist von Tangerine Dreams Gerätschaften überschwemmt), ihr Soundman darf das Mischpult nicht berühren und obendrein hat die Band nur die Erlaubnis, magere 20 Minuten zu spielen.
„Wir werden nur unsere Hits spielen“ erklärt Paul. „Das wird vielleicht ein Desaster.“
„Mach dir nichts draus“, antworte ich. „Die Show geht doch nur an 120 Millionen Leute in elf Ländern.“
„Danke für den Hinweis“ sagt er.
Nicht genug der Kränkungen, jetzt werde ich auch noch beleidigend, indem ich meinen Vorbehalten gegenüber OMITD Luft mache. Aber Humphreys, der entweder ungewöhnlich höflich oder vielleicht geschickter ist als ich, gibt mit ständig recht. Schwer, so eine Auseinandersetzung in Gang zu halten, wenn nur einer streiten will.
Zum Beispiel, was das Manceuvres-Konzert betrifft, das ich in London gesehen habe und anscheinend eines der schlechtesten war, das sie je gegeben haben. „Das hat uns auch mächtig gestunken,“ nickt Paul.
„Mir kam es seltsam vor,“ fahre ich fort, „daß das Publikum bei den ersten sechs Nummern so ruhig war, bis Andy sagte: „Wenn ihr da den ganzen Abend sitzenbleiben wollt, verdient ihr’s auch nicht besser, als euch zu Tode zu langweilen.‘ Und plötzlich sprangen alle hoch und fingen an 201 toben, als ob sie auf ein Signal gewartet hatten.“
„Richtig,“ stimmt Paul zu. „Da war ein riesiger Abstand zwischen uns und dem Publikum. Wir brauchten Platz für die Leinwand, dann der Graben für die Fotografen … dazu kam, daß wir an dem Abend gefilmt haben und zu viel Licht in der Halle war. Es ist ein Jammer, daß du am nächsten Abend nicht dabei sein konntest. Wir haben die Bühne nach vom hin ausgebaut, es war dunkler, und wir hatten mehr Atmosphäre – und das Publikum hat gleich von Anfang an mitgetanzt. Aber ich weiß nicht … liest du englische Zeitungen ?“
Oh Gott, nein! Ich schreibe zwar für diese Perversen, aber verlang‘ nicht noch von mir, daß ich die auch noch lese.
„Naja, Dave McCulloch von Sounds kam, als wir im Hammersmith Odeon spielten, und ging nach drei Nummern wieder raus. Er schrieb dann, daß die ganze Idee, Orchestral Manceuvres auf die Bühne zu bringen, ein einziger Witz sei. Und dabei steht er wirklich auf unsere Musik! Ich glaube, daß er vielleicht recht hat. Vielleicht müssen wir gar nicht live spielen. Kann doch sein, daß es sich dabei noch um so ein übriggebliebenes Klischee aus der Rocktradition handelt. Wir haben das schon oft durchdiskutiert, sind aber noch zu keinem Schluß gekommen.
Darum ist auch das nächste, was auf dem Terminplan steht, Urlaub. Seit einer Ewigkeit nehmen wir uns wieder mal ein paar Wochen frei. Ich fliege mit meiner Frau nach Los Angeles und nehme alle-unsere Platten mit. Ich werde sie in Ruhe durchhören und genau unter die Lupe nehmen, was wir in den vergangenen zweieinhalb Jahren fabriziert haben. Vielleicht erkenne ich daraus die Richtung, die wir einschlagen sollten.“
Irgendwas zum neuen Album ARCHITECTURE AND MORAUTY zu sagen, fühlt Paul sich außerstande. Er und Andy seien so beschäftigt gewesen, daß sie gerade Gelegenheit gehabt hätten, die Platte einmal anzuhören.
„Ich habe trotzdem den Eindruck, daß dies das in sich geschlossenste Album ist, was wir je gemacht haben, obwohl ich sogar meine, daß einige Songs in die Hose gegangen sind. Aber diesmal haben wir uns im Studio eindeutig wohler gefühlt als während der Aufnahmen zu ORGANISATION. Die Platte finden wir ziemlich steril.“
Paul ist des Lobes voll für den neuen Produzenten Richard Manwaring, bestens bekannt durch seine Arbeit mit Fischer Z. Er hat Mike Howlett aus dem Herzen der Band verdrängt.
„Richards Arbeitsstil liegt uns sehr, was beispielsweise bedeutet, daß wir sämtliche Ideen spontan festhalten, auch wenn sie zunächst noch im Rohzustand sind Ich bin der Meinung, daß Mike gutes kommerzielles Gespür besitzt, er machte unsere Singles erfolgreich. Aber bei ihm hat es immer einen ganzen Tag gedauert, den verdammten Snare-Drum-Sound hinzukriegen. In der Zwischenzeit bist du hinten im Studio schon längst eingeschlafen. Und ich glaube, daß man es auch merkt, daß ORGANISATION so entstanden ist. Es ist zu sauber, viel zu penibel. Du spürst überhaupt keine Begeisterung. Alle Emotionen wurden rausgefiltert.“
Natürlich hat Howletts Arbeitsweise der Band auch ein weitläufiges Publikum eingebracht. „Enola Gay“ zum Beispiel hielt sich fast ein Jahr lang in den italienischen Charts. In Humphreys und McCluskeys regt sich langsam das Gefühl, daß sie ihrem Status als Popstars mehr soziale Verantwortung verleihen sollten versuchen sollten, Dinge zu artikulieren, die auch von Bedeutung sind.
Bis jetzt waren ihre Songtexte meist ziemlich tief im Sound vergraben. Konnte man sie doch dechiffrieren, waren sie irgendwie obskur. „Und wir wollen keine Textbeilagen, weil wir Gedichte hassen,“ meint Paul plötzlich ungewohnt heftig. Ich bin direkt schockiert.
„Ihr haßt Gedichte?‘ frage ich. „Oder könnt ihr nur nicht auf Songtexte, die auf Poesie getrimmt sind?‘ Er lacht: „Na gut, von mir aus so rum. Das ergibt mehr Sinn.“
Er wird dann wieder ernst. Wir sind uns darin einig, daß nur ein kleiner Prozentsatz derer, die „Enola Gay“ gekauft haben, sich bewußt sind, wonach der Song benannt war: Nämlich nach dem Flugzeug, das die Atombombe auf Hiroshima geworfen hat. (Das Flugzeug wiederum war nach der Mutter des Piloten benannt). Eine Absurdität, die McCluskeys Sinn für Humor traf, allerdings kam dieser Punkt nicht klar genug heraus.
„Ich glaube, das es Zeit ist, die Dinge deutlicher beim Namen zu nennen. Nicht unbedingt auf politischer Basis, aber doch insofern, daß wir uns wichtigeren Themen zuwenden.“
Ich gestehe ihm, daß mir kein Popsong mit einer Moral einfällt, die jemals wirklich über das Hantieren mit irgendwelchen Schlagworten hinausgingen. (Rückblickend sind mit einige eingefallen. Liste auf Anfrage).
Und nochmal stimmte Paul Humphreys zu: „Das ist doch der Punkt, oder? Wir müssen es richtig anfassen. Aber selbst dann lohnt es sich überhaupt? Die Welt wirst du damit nicht verändern, was? Aber wenn wir vielleicht damit einigen die Augen öffnen können, nur ein paar von unseren Hörern dazu kriegen, über Dinge nachzudenken, mit denen sie sich früher nie beschäftigt haben, dann war’s der Mühe wert.“