Neue Welle ade?


Dreihunderttausendmal Ideal beispielsweise mit der 1. LP; nimmt man noch die 150 000 ERNST DES LEBENS dazu, die in den ersten acht Wochen an den Mann gebracht wurden, so überschreitet die Berliner Band wohl in Kürze die halbe Million. Ihr „Berlin“ ist ein Hit, Fehlfarbens ,Es Geht Voran“ schon jetzt ein Evergreen, zudem noch als Kampflied in Berlin und Wiesbaden im Einsatz. Nichts, der KFC oder Abwärts nehmen zur Zeit bereits ihre zweiten LPs auf. Die Debütalben verzeichnen mittlerweile Verkaufszahlen, die ihnen vor Jahresfrist niemand zugetraut hätte.

Das Wort „Welle“ hat sich als falsch erwiesen. Wellen kommen und gehen, die neue deutsche Welle bleibt. Sie hat sich etabliert. Was das heißt, sollte klar sein: Die Spitze der Erneuerung läuft Gefahr, stumpf zu werden – falls sie es nicht schon ist.

DAF gaben seinerzeit den Startschuß. Sie buhlten offen um die Aufnahme im Club der Großen, konnten überzeugen und sind heute Clubmitglieder. Nicht zu vergessen die Fehlfarben, die schon viel früher Aufnahme fanden und heute mit MONARCHIE UND ALLTAG bei 180 000 verkauften LPs liegen.

Die Bands dürfen sich die Hände reiben, die großen Plattenfirmen hingegen müssen sich sagen lassen, daß die Propheten unter uns Schreibern damals recht hatten. Peinlich für die, die damals DAF oder Ideal als unverkäuflich abwiesen und heute dafür anderen deutschen Bands die Tür einrennen. Soviel Aufmerksamkeit schmeichelt natürlich. Warum also nicht weich werden und unterschreiben? Erfolg ist schließlich eine feine Sache und Geld stinkt auch nicht. Die alte Regel Erfolg/Geld, die gilt auch heute noch. Und was andere können, das . ..

Mit anderen Worten: die neue deutsche Welle wird umgarnt, die Plattenindustrie zeigt sich inzwischen interessiert. Wer 10 000 Platten ohne große Firma im Rücken absetzen kann, ist sicherer Heiratskandidat. Sofern er will. Und einige Bands haben zehntausend(e) Schallplatten unters Volk bringen können. Abwärts z.B. liegen mit ihrer ersten LP über 20 000, Nichts bei 40 000, Neonbabies bei 16 000, der KFC bei 30000, Xao Seffcheque bei 12 000, die Krupps mit zwei Maxis bei 10 QQO.

Was sie außer der hunderttausender Grenze von Fehlfarben, DAF oder Ideal unterscheidet, ist der Vertrag, den sie unterschrieben haben. Die drei Großen bindet er an große Firmen, die anderen an zahlreiche kleine. Das bedeutet unter anderem einen unterschiedlichen Weg ihrer Platten in den Schallplattenladen. Es gilt die Faustregel: Große Firma – viele Läden, kleine Firma – weniger Läden.

Im Branchendeutsch heißt sowas Vertrieb. Klar, daß jede Band, die von einer großen Firma vertrieben wird und damit in jedem Laden steht, mehr verkauft als z.B. Abwärts, die bei ZickZack waren und über den jungen, damals noch unerfahrenen Rip Off-Verlag verkaufen mußten – das allerdings auch wollten. Daß sie bis heute über 20 000 verkauft haben, zeigt aber, daß es auch ohne große Firma geht.

Aber… hier, genau hier, liebe Kinder, beginnt unsere eigentliche Geschichte. Denn sie konnten das nur, weil das Image der „neuen“ deutschen Welle damals kräftig mitgeholfen hat. Heute ist wie schon gesagt – die Spitze / Bewegung etwas stumpf geworden. Eine Sättigung ist erreicht, die vor lauter Angebot das Kaufen schwer macht und den Musikern die Ideen langsam aber sicher ausgehen lässt.

Es gibt aber noch einen anderen Weg, um zum Erfolg, sprich: zu möglichst zahlreichen Hörern und Käufern zu gelangen. Den professionell arbeitenden Großhändler nämlich. Der hat Geld, kann damit den Bands die fertige Produktion abkaufen, kennt viele Einzelhändler und kann so für eine große Verteilung sorgen. Nichts oder der KFC beispielsweise haben so ihre Platten verkauft Boots, so heißt der Händler, war damit zu einer Konkurrenz von Rip Off geworden. Die Unabhängigkeit, das Zauberwort, von vielen Musikern und Fans zu Recht ganz groß geschrieben, schien damit untergraben. Denn Unabhängigkeit, heißt soviel wie selber bestimmen, welche Musik, wie produziert und wie verpackt, in welche Länder kommt.

Deutsche Bands am Scheideweg Was vor rund einem Jahr von Unverbesserlichen immer noch mit einem spöttischen Lächeln als kurzlebige Welle abgetan wurde, hat sich bis Ende 81 endgültig zur Sturmflut entwickelt. Mehr deutsche Bands als je zuvor haben Platten oder Cassetten veröffentlicht — ermutigt durch den Erfolg einer Schar von Vorreitern, die inzwischen bis zu 300 000 Platten verkauften.

Waren DAF, die Fehlfarben oder Ideal, die erst mit ihrer zweiten Platte zur Industrie wechselten, deshalb Verräter? Oder Palais Schaumburg, früher auf Zick-Zack, die gleich mit ihrer ersten LP zu einem Konzern gingen? Haben sie ihre Unabhängigkeit aufgegeben? Wohin geht die Entwicklung? Muß Rip Off zumachen, weil der mächtige Boots besser ist und alle kleinen Firmen schluckt? Verkauft sich die neu(e) deutsche Welle ganz an die Industrie? Fragen an die Spitzenreiter.

Zum Beispiel Nichts. Die Band ist nach der Trennung des KFC, also dieses Jahr, entstanden. In nur drei Monaten verkaufte sich ‚ihre Debüt-LP MADE IN EILE fast 40 000 Mal. Ihre Schallplattenfirma Schallmauer vertreibt das Album über Boots. Von der neuen deutschen Welle möchte Micki von Nichts nichts mehr wissen: „Was mit dem KFC geendet hat, hat für mich die ndW beendet.“

Er rechnet seine Band stattdessen heute zum Hard Rock Lager.

„Warum nicht, wir spielen schnell und machen mehr Hard Rock als jede andere deutsche Band.“ Wichtig auch für ihn, die Fäden selbst in der Hand zu halten. Das heißt in ihrem Fall, das Verhandeln ihrer kleinen, unabhängigen Plattenfirma Schallmauer zu überlassen. Nichts, die momentan ihre zweite Platte aufnehmen, erscheinen damit und wahrscheinlich auch mit der übernächsten LP wieder auf Schallmauer. Sie sind und bleiben auf ihrem Label, weil —- so Micki: „Wir hier mehr Einfluß haben. Der Lothar (Schallmauer-Chef) weiß unsere Fähigkeiten genau einzuschätzen. Und vor allem nimmt er sich keine Sachen raus, die sich ne große Firma ohne weiteres rausnehmen würde. Wir meinen, daß die Industrie alles kaputt macht. Die kaufen alles ein, ohne den Durchblick zu haben. Die CBS beispielsweise. Die denken jetzt, wir wären bei denen, nur weil wir da ne Single rausgebracht haben. Dabei halten wir gar nichts von denen.“

Wer die Vertriebsrechte für die nächste Nichts-LP bekommt, steht noch nicht fest. „Sicher ist nur“, so Lothar, der Labelchef, „daß es diesmal wahrscheinlich ein großer Industrie-Vertrieb wird. Es ist mittlerweile eine Größenordnung entstanden, die man mit einem großen Vertriebsnetz einfach besser in den Griff bekommt. Aber die Band bleibt weiterhin auf unserem Label.“

Die Single „Radio“ auf CBS war nur ein kurzes Zwischenspiel. Auf Anraten des Musikverlags der Firma Boots entschlossen sich die Band und Schallmauer, die Single rechtzeitig zur „Bananas“-Fernsehsendung über CBS zu vertreiben. Und immerhin sind bis heute davon 10.000 abgesetzt.

Die Krupps, eine Düsseldorfer Band, sind nach dem Split von Male entstanden. Die Male-Hälfte Jürgen Engler und Bernhard Malaka haben in der Hauptsache zusammen mit Ralf Dörper, zwei Maxis auf dem Hamburger Zick-Zack-Label veröffentlicht, das über den Rip-Off-Vertrieb Schallplatten verkauft. Ein neues Album ist für nächstes Jahr geplant, eine neue Krupps-Single steht kurz vor der Fertigstellung. Weitaus rhythmischer vor allem tanzbarer als ihre eher experimentelle Debüt-Platte STAHLWERKSINFO-NIE.

Dazu Jürgen Engler: „Mit der Stahlwerksinfonie zur Industrie zu gehen, hätte sowieso nichts gebracht. Die war ziemlich unkommerziell. Aber wir haben ne Entwicklung durchgemacht — mit der Maxi „Wahre Arbeit, Wahrer Lohn“ wäre es wahrscheinlich gegangen. Aber das war immer noch ein ziemlich rohes Ding. Jetzt wäre natürlich der Punkt da. Wir könnten es machen.“

Frage: Ist das nicht eine grundsätzliche Entscheidung?

Ralf Dörper: „Nee, eigentlich nicht. Ich sehe da keinen Unterschied, ob man eine Platte alternativ rausbringt oder bei der Industrie, es geht immer um dieselbe Sache. Es geht um ein Produkt, das verkauft werden soll. Und auch die alternativen Vertriebe haben mittlerweile genau denselben Markt wie die anderen. Die benutzen mittlerweile die gleichen Läden, weil sie auch am dem Produkt, an der Gruppe Geld verdienen wollen. Ich sehe da keinen Unterschied.

Ein Problem entsteht aber dann, wenn ein alternatives Label eine Gruppe unter Vertrag hat, die sich in einer Art und Weise entwickelt, daß sich ein nationaler und internationaler Erfolg anbahnt. Ein Erfolg, den das Label vorher noch nicht gehabt hat, womit es keine Erfahrung hat. Nimm beispielsweise uns. Wir brauchen jetzt Kontaktleute in Japan, England und Australien. Wir brauchen Kontaktleute, die Verhandlungen führen können. Das ist ein ganz neues Gebiet für Rip Off, die haben da noch keine Kontakte. Wir wissen, wie das Interesse in diesen Ländern ist. Wir haben auch schon konkrete Angebote bekommen — aus England beispielsweise.

Ein anderes Problem ist, daß ein alternatives Label ein bestimmtes Programm hat, mit bestimmten Gruppen, die das Label tragen und dadurch andere Sachen ermöglichen. Jetzt ist es aber so, daß mitunter eine Gruppe auftaucht, die soviel Investitionen erfordert, daß die kleinen Sachen nicht gemacht werden können. Da können Konflikte entstehen. Denn Verhandlungen im Ausland kosten Geld.“

Ein Problem, über das sich Tommi Stumpf vom KFC momentan keine Sorgen macht. Die zweite KFC-Platte ist fertig und bald in den Läden, damit aber das Thema KFC vorerst begraben. Eine Tour oder Live-Auftritte hat er mit Freund und Mitstreiter Käpt’n Nuss zunächst nicht geplant. Und das, obwohl sie von ihrer LP LETZTE HOFFNUNG immerhin 30.000 verkaufen konnten.

Tommi über seine Erfolgserlebnisse: „Bevor wir zu Schallmauer gegangen sind, haben wir ein Demoband gemacht und es an verschiedene Plattenfirmen geschickt. Aber die haben nicht das geringste Interesse gezeigt. Wir haben dann die Platte bei Schallmauer gemacht, und die hat sich ja auch gut verkauft. So 30.000 mal. Ja, und lustigerweise kamen dann so ein paar Firmen und haben uns vorgeschlagen, ein Tape zu machen und dieses und jenes. Auch die Musikverlage zeigten sich interessiert. Jetzt bei den Aufnahmen in Conny Planks Studio kamen dann auch wieder Leute von den gleichen Firmen, denen ich vorher das Demoband gegeben hatte. Und als ich die dann fragte: ‚Warum habt ihr denn damals nicht… ?“ Na da hieß es: ‚Dies und jenes, blah, blah…‘ Und wenn ich heute Ja sagen würde… Du, das ist so eine riesige Kette von Schmarotzern, die sich da anstellt, da hab ich überhaupt kein Interesse, das nervt mich. Sieh dir Ideal an, die wollte vorher keiner haben, jetzt werden sie zurückgekauft. Das ist doch der reinste Hohn.

Die Neonbabies aus Berlin waren vor mehr als einem Jahr die zweite Berliner Band, die eine Platte in eigener Produktion fertigstellte. Ihre LP auf dem Berliner Mini-Label Good Noise verkaufte sich im Boots-Vertrieb immerhin 16.000 mal. Und doch sind sie damit nicht recht zufrieden, es hätten durchaus mehr sein können. Nikolaus Polak, ihr Gitarrist:

„Wir waren eigentlich nie ideologisch so festgelegt. Good Noise hat damals gesagt, wir machen die Platte mit euch — und daraufhin haben wir einen Vertrag für eine Platte unterschrieben. Aber jetzt werden wir zur Industrie gehen. Der Grund dafür aus meiner Sicht ist: Die kleinen Labels haben heute dieselben Knebelverträge wie sie die Industrie gehabt hat. Die binden dich an das Label, man kann nicht wieder weg. Was ja aus der Sicht der Kleinen durchaus verständlich ist. Die bluten ja viel mehr, und das wollen die natürlich nicht. Vor allem wenn sie eine Gruppe groß rausbringen — und die dann weggeht.

Also, die Verträge, soweit sie mir von den Kleinen gegeben wurden, sind nicht viel besser. Wohingegen die Industrie — und wir haben mit fast allen Kontakt gehabt— durchaus bereit ist von ihren Knebelverträgen abzurücken. Das bedeutet nicht, daß man ohne weiteres aus einem Vertrag rauskommt, aber das bedeutet schon, daß die Firmen bereit sind, einem die künstlerische Freiheit bei dem Produkt zu überlassen. Das war früher nicht so, das geben sie auch offen zu. Vor allem, weil sie mit neuen Gruppen gute Erfahrungen gemacht haben, sind sie bereit, einem da nicht reinzureden. Sie wollen zwar diskutieren, wenn ihnen was nicht gefällt, aber die Entscheidungsfreiheit haben wir.“

Den Schritt zur Industrie haben Palais Schaumburg bereits getan. Ihren Start hatten sie mit mehreren Singles auf dem Hamburger Zick-Zack-Label im Rip Off-Vertrieb. Ihre erste Langspielplatte ist im November bei der Phonogram erschienen und hat binnen drei Wochen schon 10.000 verkauft. Holger Hiller, Sänger bei Schaumburg, sagte an anderer Stelle als Begründung für den Schritt zur Industrie, die Band wolle möglichst viele Leute erreichen. Dazu Thomas Fehlmann, Synthi-Spezialist der Gruppe:

„Wichtig ist, daß wir immer noch unabhängig sind. Wir haben denen unser Band vorgespielt, als alles schon fertig war. Da lief überhaupt nix vorher. Da ist kein Typ ins Studio gekommen und hat gesagt: ‚Macht das so und so.‘ Wir haben die Platte so verkauft wie sie war. Wir haben auch im Vertrag keine Klausel, die denen irgendeine Mitsprache ermöglichen würde. Andererseits gibt es einen fixen Soll-Plan. Die Firma hat eine Option für eine Platte, die nach unserem Gusto produziert wird, ob denen das gefällt oder nicht.“

Der hier festgehaltene Querschnitt ist sicherlich nicht repräsentativ. Doch läßt sich feststellen, daß die neue deutsche Welle sich nicht nur etabliert hat, sondern auch ein gutes Stück klüger geworden ist. Der spontane Elan der Gründerzeit ist wohl dahin, aber das, was eine Gegenbewegung leisten sollte, ist immerhin ansatzweise geschafft: Eine Veränderung ist in Gang gekommen. Auf künstlerische Freiheit wird nicht mehr so einfach zu Gunsten eines obskuren Plattendeals verzichtet. Man hat gelernt zu (ver)handeln. Daß künstlerische Unabhängigkeit nicht unbedingt mit dem Gang zur großen Plattenfirma zu Grabe getragen wird, ist erst eine frische Erkenntnis. Ob es dabei bleibt, ist abzuwarten und sollte von jungen deutschen Bands gründlich überdacht werden.