Sex Pistols – Stoßtrupp der Punk-Revolte


In Amerika waren Anfang und Mitte der siebziger Jahre immerhin Leute wie Johnny Winter und Bob Seger, Steve Miller und die Band Steely Dan populär; die US-Rockszene lebte. In Deutschland schufen Udo Lindenberg und Tangerine Dream, Can und Kraftwerk originelle Musik und hatten Erfolg. Aber in England? Ein halbes Jahrzehnt lang sackte das Niveau der wirklich populären Musik auf dem Inselreich immer tiefer ab. Gut, in den LP-Charts stieß man mal auf Paul McCartney und auf Pink Floyd, auf Roxy Music und Rod Stewart. Aber bei den Singles, die ja vor allem über Rundfunk und Fernsehen verbreitet werden und den Musikgeschmack der Teens nachhaltig beeinflussen, da sah es finster aus. Das Land, das die Beatles und Rolling Stones hervorgebracht hatte, gebar als Popmusik in den siebziger Jahren vornehmlich das peinliche Gesäusel von Witzfiguren wie den Bay City Rollers oder den Brotherhood Of Man und ein Endlosband dümmlichster Disco-Scheiße.

Jahr um Jahr wurden me-Kids von zehn bis zwanzig damit gefüttert; was an kreativem Rock in Großbritannier existierte, erreichte dagegen nie das Massenpublikum. Frankie Miller, Dr. Feelgood, Ace und Be Bob Deluxe zum Beispiel sind Interpreten der siebziger Jahre; entdeckt wurden sie indes bestenfalls von Rock-Freaks, die in den sechziger Jahren groß geworden waren und sich ihre Musik in größerer Unabhängigkeit von den Medien suchten. In die Hitparaden drangen all diese echten Rockinterpreten bis Ende vergangenen Jahres nicht vor – bis zu jenen zwei Wochen im Herbst 1976, in denen die LP „Stupidity“ der New Wave-Band Dr. Feelgood an die Spitze der Charts raste. Damals brach ein Damm, füllte sich ein Vacuum: eine ganz neue Rock-Generation entdeckte, daß man sie jahrelang beschissen hatte, daß sie von der BBC mit musikalischem Valium gefüttert worden war in daß man ihr die Musik, lie ihre tatsächlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse ausdrückte, vorenthalten hatte. Die Antwort der Kids war Wut und Zorn, die sich paarten mit der allgemeinen Unzufriedenheit über die Lebensbedingungen in der Großstadt, über den Streß in der Schule, über den gewaltigen Mangel an Ausbildungsplätzen und Arbeitsstellen, über eine miese Gegenwart und eine verlorene Zukunft also.

Die Kids entdeckten, daß nicht nur der staatliche Rundfunk Beruhigungspillen verabreichte: Sie stießen auf eine Erwachsenen weit, die ihnen Hilfe und Solidarität verweigerte, sich nicht um Probleme kümmerte, sondern die große, ein Jahr lang dauernde Show des 25. Krönungsjubiläums einer nutzlosen Königin bejubelte. Die Kids fühlten sich verraten und verkauft und rebellierten. Und plötzlich entdeckten sie in ihrer Mitte einen wilden, rotzigen Typen, der haargenau und klar verständlich ausdrückte, was sie empfanden: Er machte mit seiner Band laute, aggressive, wütende Rockmusik und sang dazu „Gott segne die Königin. Sie is kein menschliches Wesen, um England hat keine Zukunft!“ Klar doch: Johnny Rotten mußte einfach innerhalb kürzester Zeit ein Rockheld, ein Idol werden. Der Punk-Rock hat im Sommer ’77 England erobert; ob er die kulturelle Szene auf Dauer so nachhaltig revolutionieren wird wie der Beat in den frühen sechziger Jahren, bleibt abzuwarten. Welche Sprengwirkung aber hinter dieser Musik steckt, konnte man gerade in Juli oder August gut verfolgen als in den britischen „Top Twenty“, die ja auch hierzulande über den BFBS und andere Sender ausgestrahlt werden, „Peaches“ von den Stranglers und „Pretty Vacant“ von den Sex Pistols notiert wurden: zwei Singles, die inmitten des Schnulzen- und Disco-Breis schwammen wie zwei Haie im Goldfischteich. „Pretty Vacant“ ist die erste Single der Pistols, die im britischen Rundfunk läuft; die Discjockeys legen sie mit knirschenden Zähnen auf, um nicht scharenweise‘ Hörer zu verlieren. Trotz des Sieges im Kampf um den Rundfunk gelten die Sex Pistols im Vereinigten Königreich noch immer als Staats-, feinde. Nach wie vor sind sie die Buhmänner der großen Tages-Zeitungen. Man muß sich das mal vor Augen halten: In England Berichtet speziell die Boulevardpresse in einem Umfang üben die Rotten-Band, der durchaus Schritt hält mit den Reportage-Orgien, die in Deutschland in Sachen Sylvias Baby und Ingrid van Bergen abgelassen wurden. Der Tenor dieser Berichte ist immer der gleiche und meist erlogen: Die Sex Pistols sorgen für Unruhe auf dem Flughafen Heathrow, zerschmettern einem, braven Fotografen die Kamera, spucken in die Gegend, gebrauchen schweinische Ausdrücke, verderben die Jugend. Nach jenem legendären Interview im britischen Fernsehen im Dezember 76, in dessen Verlauf Moderator Bill Grundy Johnny Rotten gebeten (!) hatte „ein paar grobe Ausdrücke zu gebrauchen und dann auch voll auf seine Kosten kam („You dirty fucker“), nahm die Kampagne gegen die Band vorübergehend sogar die Form einer nationalen Hysterie an. Der Lastwagenfahrer James Hohnes, 47, war laut „Daily Mirror“ so erbost über Rottens Schimpfworte, daß er den Bildschirm seines Fernsehers eintrat. „Ich bin nicht gewalttätig“, erklärte er, „aber ich will nicht, daß solch ein Dreck zur Teestunde in meine Wohnung dringt!“ Für die Kids setzte Johnny Rotten mit seinen starken Sprüchen natürlich genau den richtigen Hebel an. Er provozierte die Erwachsenen weit, rüttelte an Tabus, entlarvte die verlogene Scheinwelt, in der die Nation lebt: Was sind schon Arbeitslosigkeit, schlechte! Wohnungen und eine verdreckte Umwelt; Hauptsache, zur Teestunde sagt niemand „Scheiße“; oder „Ficken“. Eine Menge Typen in der Rockbranche, die längst vergessen haben, warum ein Mick Jagger vor 14 Jahren in ähnlicher Weise schockierte, denken genauso wie Lastwagenfahrer James Holmes; Proteste von etablierten Superstars und einflußreichen Geschäftsleuten führten ja bekanntlich dazu, daß die Plattenfirma EMI und A&M Verträge mit den Pistols nach kurzer Zeit wieder kündigten. Aber mit Künstlern wie [Rick Wakeman, der nicht für die gleiche Firma wie Johnny Rotten arbeiten wollte, hat der Sänger der Sex Pistolen ohnehin nichts gemein: Ei will, wie es das Punk-Magazin „Sniffin‘ Glue“ formulierte, die Kids zum Denken bringen und etwas über ihr Leben in den Wohnblocks ausagen; die Fantasiewelten der meisten Rockstars interessieren ihn nicht.

Die Sex ristols kommen aus dem Milieu, für das ihre Songs bestimmt sind. Gitarrist Steve Jones, Drummer Paul Cook und Baßmann Glen Mattlock übten ‚zusammen in irgendeinem gammeligen Keller im Londoner

Stadtteil Hammersmith, um mal eine Rockband zu werden. Viel Hoffnung hatten sie allerdings nicht. Dann trafen sie Malcolm McLaren, dem in der

King’s Road ein Sex-Laden gehörte. Er hatte mal die New York Dolls gemanagt und wollte sich nun um die Sex Pistols kümmern. McLaren stieß in seinem Geschäft eines Tage auf Johnny Rotten, der offenbar nicht so recht wußte, was

er mit seiner Zeit anfangen sollte. Das Angebot, mal mit den Pistols zu singen, nahm er dankend an.

Im Frühjahr 1976 hatte die Gruppe eine lokal begrenzte Anhängerschar, die aber rasch wuchs. Ähnlich wie andere Gruppen, die zur gleichen Zeit auftauchten – die Clash, die Damned oder die Buzzcocks – spielten die Pistols simple, laute, – aber aufrichtige Musik, die bei Halbwüchsigen ankam. Und weil die Gruppe kein Blatt vor den Mund nahm und sich reichlich frech und wild gebärdete,, konnten sie längst nicht in jedem Club auftreten:im „Marquee“, „Nashville“ oder „Dingwalls“ wurden sie auf die schwarze Liste gesetzt, ständige Konzerte waren bald nur noch im „100-Club“ möglich. Während Abba und Boney M. im Verlauf des Jahres 1976 noch die Hitparaden beherrschten, erhielt die Punk-Szene immer stärkeren Zulauf. Die Musikpresse entdeckte die Revolte im Untergrund. Im September dann lief im „100-Club“ ein verhängnisvolles Festival. Die Pistols traten auf und spielten besser denn je. Am nächsten Tag rockten die Damned, und während ihres Auftritts flog plötzlich ein Glas‘ durch den Raum. Es zerschelltest an einer Säule, ein Splitter drang in das Auge eines Mädches und ließ es erblinden.Dieser Zwischenfall hätte bei jedem Konzert, bei jeder Fußballveranstaltung passieren können. Aber weil etliche Boulevard-Zeitungen die Punk-Bewegung bereits als dankbares Objekt für Horror-Berichte entdeckt hatten, wurde das Unglück als beispielhaft für die Folgen von Punk-Musik und Punk-Konzerten dargestellt, wurden Punk und Gewalt auf einen Nenner gebracht. Die Nation geriet in Auffuhr, das Fernseh-Interview mit Bill Grundy und die erste Sex-Pistols-Single, die zeitgleich bei EMI mit dem schönen Schocktitel „Anarchy In The UK“ erschien, gaben ihr den Rest.

„Anarchy“ ist Fluch und Drohung – eine Kampfansage an die Gesellschaft, die den Teens die Jugend versaut hat. „Destroy!“ (Zerstöre!) schreit: Johnny Rotten, und die Pistols} inszenieren dazu ein akustisches Inferno. Man darf diese Aggression nicht in falschem Licht sehen: Sie fördert keine Gewalttätigkeit, sondern befreit von Zwängen und schlägt einer neuen Kreativität den Weg frei. Die – moderne Psychologie arbeitet heute bei Verhaltensstörungen mit vergleichbaren Methoden (Die „Urschrei-Therapie“ ist ziemlich bekannt geworden);und welcher Jugendliche, der in der Schule runtergeknüppelt wird und in einer seelenlosen Betonwelt aufwächst, ist heutzutage nicht verhaltensgestört?

In der britischen Gesellschaft hat sich über Jahre hinweg sozialer Sprengstoff angesammelt, den der Punk-Rock nun ! an die Oberfläche trägt. Gewaltsame Entladungen gibt es da immer wieder im abgelaufenen Sommer gehörten in London zum Beispiel Straßenschlachten zwischen Punks und Teddie-Boys, genau so wie vor zehn Jahren zwischen Mods und Rockern, zum Alltag. Die Pistols fördern solche Entwicklungen nicht, sondern zeigen eher Alternativen: Wut wird kreativ umgesetzt, verwandelt sich in Musik, die wiederum die sozialen Verhältnisse reflektiert, die sie hervorgebracht haben. Kommunikation kommt in Gang, und die betroffenen Kids fühlen sich endlich mal verstanden und haben ein Sprachrohr.

Drei Singles haben die Sex Piistols mittlerweile herausgebracht, und ihre Musik wird immer besser, präziser, packender. „We’re so pretty vacant, but we don’t care!“ heißt es in ihrem jüngsten Song. Frei übersetzt bedeutet das: „Wir haben mit euch Typen (den Erwachsenen, den Spießern) nichts zu tun, und das stört uns überhaupt nicht!“ Genau das haben – mit anderen Worten – auch vor einem Jahrzehnt die Who in „My Generation“ formuliert. Aber für die nachgewachsene Rockgeneration sind die Who Opas, deren Musik inzwischen viel zu brav klingt. Die Zeiten sind rauher als in den sechziger Jahren, die Probleme drückender, und deshalb wirkt auch die Musik der Sex Pistols auf den ersten Blick so grob. Aber wäre sie nicht ehrlich, hätte sie nicht eine solche Resonanz – in England, wo „God Save The Queen“ Platz eins der Hitparade erreichte; in Skandinavien, wo die Pistols (mit ihrem neuen Bassisten Sid Vicious) vor wenigen Wochen im Zuge einer Tournee überraschende Erfolge feierten; in Deutschland, wo sie immer mehr Platten verkaufen, weil hier die Probleme der Zehn- bis Zwanzigjährigen nicht viel anders aussehen als in England.