Zwangsurlaub nach der Schule
Martina (17) macht gerade Urlaub. Unbezahlten Urlaub zu Hause. Tagsüber beschäftigt sie sich mit Hausaufgaben für ihren Steno- und Schreibmaschinenkurs. Ansonsten überlegt sie, wie sie die Zeit bis zum Antritt einer Ausbildung sinnvoll totschlagen könnte. Martina gehört zu den zahlreichen Realschulabgängern, die keine Ausbildungsstelle für den gewünschten Berufszweig erhielten. Martina hat sich für eine kaufmännische Lehre entschieden und ist nach wie vor nicht bereit, ihre Ansprüche herabzuschrauben, um erst einmal "versorgt" zu sein. Beim Arbeitsamt ließ sie sich darum in eine Warteliste eintragen. Jetzt kann es unter Umständen noch bis zum Dezember dauern, ehe wieder Angebote von den Firmen vorliegen.
Warteliste – das dürfte zur Zeit wohl einer der häufigsten Begriffe sein, mit denen die Schulabgänger in diesem Jahr konfrontiert werden, ganz gleich, ob es sich um Hauptoder Realschüler handelt, oder ob sie vom Gymnasium kommen. Die ungewöhnlich hohe Zahl von Schulabgängern der Jahre 1974/1975 und die verminderte Aufnahmefähigkeit der Betriebe trafen verhängnisvoll aufeinander. Beim Sturm auf die Ausbildungsplätze bleiben die auf der Strecke, die sich nicht rechtzeitig (das heißt Ende des vergangenen Jahres) darum bemühten.
„Sie kommen viel zu spät“
Martina war ganz einfach zu spät zum Arbeitsamt gegangen. „Ich dachte, das sei sowieso nur die letzte Rettung, falls ich nichts finden sollte“, erklärt sie. „Erst einmal habe ich mich natürlich selbst umgesehen. Aber als ich dann immer nur negativen Bescheid bekam, habe ich mich schließlich doch bei der Beratungsstelle angemeldet.“ Sie hatte immerhin das Glück, innerhalb von vier Tagen einen Termin zu bekommen. Ihre Freundin, die als Abiturientin im selben Dilemma steckt, mußte zwölf Wochen auf ein Gespräch warten.
Noch zuversichtlich marschierte Martina also zur Beratungsstelle für Realschulabgänger. Doch hier: Freundliches, aber bedauerndes Lächeln. „Tut mir leid, Sie kommen viel zu spät – aber ich kann Sie natürlich vormerken …“
„Zensuren sind fragwürdig“
Vormerken! Martina hatte sich von diesem Termin noch einige neue Orientierungshilfen versprochen. Bürokaufmann, Industriekaufmann – in diese Richtung gingen zwar ihre Vorstellungen, aber wie bei vielen Schulabgängern in ihrem Alter sind ihre Ideen von einer beruflichen Zukunft noch nicht so fest umrissen, „Ich habe gedacht, ich würde noch zusätzlich einige Tips bekommen. Aber das Einzige, nach dem mich die Beraterin fragte, waren meine Zensuren.“
„Schulnoten sind nicht immer richtige Aussagen über unsere Leistungen und Fähigkeiten“, las sie später in der Testbroschüre „Step“ nach, die das Arbeitsamt speziell für Realschulabgänger bereithält. Nach ausführlicher Anleitung kann sich hier jeder selbst unter die Lupe nehmen, bevor er mit dem auf Merkbögen festgehaltenen Ergebnissen beim Arbeitsamt vorspricht. So etwas erleichtert natürlich beiden Seiten – Beratern und unentschlossenen Schulabgängern — Arbeit und Entscheidung. Auch die Fragwürdigkeit von Schulzensuren wird hier untersucht. Denn schlechte Noten können auch durch schlechtes Verhältnis zum Lehrer, ungenügende Arbeitsbedingungen zu Hause oder durch fehlende Hilfe der Eltern entstehen. Doch um Begabung und Anlagen des Einzelnen herauszufinden, gibt es noch ein gesondertes Testverfahren.
Insofern scheint das Problem der Berufswahl also erheblich erleichtert. Doch in der gegenwärtigen Situation erweist sich diese Hilfestellung nur in der Theorie als positiv. Wem nützt die Gewißheit, den idealen Bankkaufmann oder Schlosser abzugeben, wenn keine Ausbildungsplätze frei sind?
Martinas Note in Mathematik ist mangelhaft, also schlicht und einfach Fünf. Bedenkliches Stirnrunzeln der Beraterin: „Wenn Sie sich auch für die Arbeit bei einem Steuerberater interessieren, dürfte das mit Ihrer Zensur allerdings schwierig werden. Und das ist natürlich eine weitere Konsequenz. Wer unter den Ausbildern die Wahl hat. sucht sich seine zukünftigen Mitarbeiter heute natürlich erst recht nach den Schulnoten aus. Wer in seinem Zeugnis schwache Stellen in den entscheidenen Fächern hat, fällt durch. Außerdem greifen jetzt zahlreiche Abiturienten auf Berufe zurück, die früher in der Hauptsache von Realschülern in Anspruch genommen wurden. Als Folge davon schnappen die „Einjährigen“ jetzt den Hauptschulabgängern die Stellen weg. Das Nachsehen haben Jugendliche ohne Hauptschulabschluß und Sonderschüler. Für beide Gruppen gibt es Förderprogramme. Doch die Erfolgsquote bewegt sich hier nur in Dunkelziffern. Wie viele dieser Jugendlichen ins reguläre Berufsleben eingegliedert werden konnten, ist nirgendwo registriert. Absolventen entsprechender Aufbaukurse sind heute mehr denn je gezwungen, ohne Rücksicht auf körperliche Verfassung das zu nehmen, was da ist – Hilfsposten im günstigsten Falle mit Aussicht auf eine Lehrstelle nach einem Probejahr.
Nummer soundsoviel auf der Warteliste
Doch zurück zu Martina. Die Fünf in Mathematik – so erfuhr sie bei dem Beratungsgespräch – könnte auch bei der Aufnahme in die höhere Handelsschule eventuell ein Störfaktor sein. Aber der Anmeldetermin war sowieso schon überschritten. Sie könnte sich natürlich auch für den Einzelhandel entscheiden, empfahl ihr die Beraterin, obwohl hier nicht der Realschulabschluß verlangt wird. Dafür bieten sich hier natürlich Aufstiegschancen: Als Substitutin könnte sie sich nach der Ausbildung auf den Posten eines Abteilungsleiters vorbereiten.
Martina hat es schließlich doch vorgezogen, Nummer soundsoviel auf der Warteliste zu werden. „Eine Ausbildung um jeden Preis will ich nicht“, erklärt Martina über ihre Zeitung gebeugt. „Ich kümmere mich jetzt erstmal intensiv um Steno und Schreibmaschine. Vielleicht kann ich zur Uberbrückung irgendwo als Schreibkraft arbeiten. Über diesen Umweg rechne ich mir ehrlich gesagt noch die größten Chancen aus, eines Tages einen angemessenen Ausbildungsplatz zu bekommen“, meint sie zuversichtlich und vertieft sich wieder in die Rubrik „Stellenangebote“.