Genesis Rock-Oper


„Unser Held kommt die U-Bahn-Rolltreppe herauf ans Tageslicht. Unter seiner Lederjacke hält er eine Spraydose, die gerade die Nachricht R-A-E-L in Großbuchstaben auf der Tunnelwand hinterlassen hat. Für Euch mag das keine Bedeutung haben, aber für Rael ist es ein Schritt weiter auf dem Weg, der dahin führt, sich einen Namen zu machen.“ Diese Worte verewigte Peter Gabriel auf der Hülle des neuen Genesis-Albums. Sie beschreiben den Anfang der Geschichte von Rael, der Hauptfigur des neuen Genesis-Acts „The Lamb Lies Down On Broadway“. Ende Februar konnte man diese ungewöhnliche Rockshow hierzulande erstmals in Berlin und Hannover auf der Bühne erleben, bevor Genesis sich im April auf eine ausgedehnte Deutschlandtournee begab.

DAS AUFREGENDSTE ROCK-WERK DES JAHRES?

Die Geschichte vom Lamm, das sich auf dem Broadway niedergelegt hat, ist für alle, die die Konzerte verpaßt haben, auch auf dem neuen Genesis-Doppelalbum festgehalten, das schon jetzt von Kennern als eines der aufregendsten Rockwerke dieses Jahres gepriesen wird. Und wie Tony Banks, der Organist der Gruppe, in einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift „Rolling Stone“ ganz treffend bemerkte, kommt „The Lamb Lies Down On Broadway“ eher dem lyrischen Inhalt der Who-Oper „Tommy“ als, wie oft behauptet, dem Yes-Album „Tales Of Topographie Oceans“ gleich.

Schon jetzt ist abzusehen, daß Genesis sich mit diesem, ihrem siebten Album und mit der gerade abgeschlossenen Tournee in Deutschland als eine der beliebtesten Gruppen etablieren wird. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in England und in den Vereinigten Staaten ab. Mit dem Album „Selling England By The Pound“, und mit der damit verbundenen Bühnenshow hatte die Band es bereits im letzten Jahr geschafft, aus ihrer Außenseiterposition herauszubrechen. Doch wer hätte es schon für möglich gehalten, daß eine Gruppe mit derart komplizierter Musik und mit einem beinahe unbegreiflichen Stageact eine Breitenwirkung erreichen würde, die nur mit dem Erfolg von Yes oder Pmk Floyd zu vergleichen ist. Lutz Wauligmann begleitete Genesis auf ihrer Tour durch Deutschland und berichtet:

WELTFREMDE TRÄUMER?

Mich beeindruckte als erstes, wie diszipliniert sich die Musiker verhielten. Sie zeigten sich als brave Familienväter beziehungsweise als freundliche Mitmenschen, die gar nicht erst versuchten, sich durch irgendwelche Starallüren von ihren Mitreisenden abzukapseln. Als wir die Grenze zur DDR passierten, unterbrach Tony Banks das Gespräch, das ich gerade mit ihm führte und griff stumm zur Kamera, um die Stacheldrahtverhaue im Bild festzuhalten. Ein paar Minuten später verriet er mir dann, daß er zum erstenmal nach Berlin fahre. Tony, der wohl am meisten für die Genesis-Musik verantwortlich ist, obwohl er darauf besteht, daß die Gruppe alle Stücke gemeinsam komponiert, machte auf mich einen introvertierten, beinahe schüchternen Eindruck. Ob er wohl ein weltfremder Träumer ist, der sich mit wirklichkeitsbezogenen Problemen nicht gerne herumschlägt? Die Antwort auf die Frage, ob Genesis auch am Single-Plattenmarkt interessiert sei, belehrte mich schnell eines Besseren. Tony: „Wir sind zwar eine Band, die ihre Musik für LP’s konzipiert, aber warum sollten wir nicht mal mit ner Single in den Hitparaden erscheinen? Dadurch würden wir vielleicht eine Menge Leute auf uns aufmerksam machen, die bisher noch keinen Draht zu dem gefunden haben, was wir machen.“ Tatsächlich ist in diesen Tagen eine neue Single mit dem aus der Doppel-LP ausgekoppelten Titel „Counting Out Time“ erschienen.

Abends beim Gig in der Eissporthalle durfte ich mich davon überzeugen, wie perfekt die Dia-Show arbeitete und wie treffend sie die Musik und die von Gabriel gesungenen Texte illustrierte. Da wechselten sich eindrucksvolle Stimmungsfotos mit New Yorker Motiven ab; mit surrealistischer Malerei und psychedelischen Lichtreflexen, während Peter G. alias Rael flötespielend, tanzend und singend über die Bretter hastete. Erst am Ende der Show versteckte er sein wahres Gesicht hinter einer irre grünen Maske. Kein Zweifel – Peter ist Genesis, so gut seine Freunde in der Band auch immer sein mögen. Peter: „Ich bin nun mal der einzige in der Gruppe, der sich schauspielerisch betätigt. Die anderen haben dafür keine Zeit, weil sie sich vollkommen auf die Musik konzentrieren müssen.“

Für die Besucher in der Berliner Eissporthalle hatte sich der Abend gelohnt. Begeistert forderten und bekamen sie zwei Zugaben – „Musical Box“ und „Watcher Of The Skies“ – die beiden einzigen Kompositionen bei diesem Auftritt, die nicht vom „Broadway“-Album stammten.