Aus der Musikexpress-Ausgabe 2011: This is who the fuck I am


Lady Gaga feiert heute ihren 26. Geburtstag. Anlässlich ihres Ehrentages haben wir für euch einen Artikel aus unserem Musikexpress-Archiv herausgesucht, in dem unter anderem die gebürtige Stefani Germanotta selbst zu Wort kommt.

Schon vor einem Jahr widmeten wir Lady Gaga unsere Titelgeschichte. Damals näherten wir uns dem Phänomen Gaga von der Außenperspektive, weil wir fanden, dass der Aufstieg der katholischen Privatschülerin zum größten Popstar unserer Zeit eine Betrachtung wert sei. Heute, während die ganze Welt gespannt darauf wartet, wie Gagas zweiter Akt aussehen wird, erklären wir, warum man sie nicht mehr erklären muss und lassen sie selbst zu Wort kommen.

Sie ist der erste wirkliche Popstar des digitalen Zeitalters: 268 Millionen Hits bei Google, 1,89 Milliarden Views auf YouTube, die meisten Downloads in der Geschichte der digitalen Musik – kein Star vor Lady Gaga wusste, wie man die digitale Klaviatur wirklich spielt.

Also war es nur konsequent, dass Stefani Germanotta ihr längstes Interview vor der Veröffentlichung von Born This Way ihrem mächtigsten Verbündeten, dem Suchmaschinen-Konzern Google, gab. Über 54.000 Fragen reichten Gagas Monster ein, eine Viertel Million Fans stimmten darüber ab, welche Fragen Gaga beantworten solle. Dies beeindruckte uns so sehr, dass wir die Rolle des Interviewers bereitwillig Euch, den Fans, und der ersten Frau von Google, Marissa Mayer, übergeben haben.

Lady Gaga: (Klettert auf einen Stuhl) Uh, die Stühle bei Google sind ein wenig hoch. (Winkt ins Publikum) Hey, hallo. (Zeigt auf jemanden aus dem Publikum) Bist du gerade aus dem Knast entlassen worden? Ich auch!

Marissa Mayer: Wir freuen uns sehr, dass Sie bei uns sind.

Lady Gaga: Oh, es ist eine große Ehre. Alle meine Schulfreundinnen wollten hier einen Job haben. Und ich habe immer versucht, so zu sein wie sie.

Marissa Mayer: Am nächsten Montag feiern Sie Ihren 25. Geburtstag.

Lady Gaga: Kann ich nicht einfach weiterhin behaupten, ich sei 24?

Marissa Mayer: Wir werden Sie nicht verraten. Google schon, wir nicht. Aber nun zu den Fragen der kleinen Monster: „Gaga, wann war der Moment, in dem Du wusstest, dass Du ein großer Superstar bist?“

Lady Gaga: Ich fühle mich immer noch nicht, als wäre ich ein Superstar. Ich weiß, es hört sich absurd an. Aber zum Beispiel heute morgen noch wollte ich twittern, dass ich hier bin. Und ich habe sicherlich fünfzehn aufgeregte E-Mails bekommen: „Twitter das nicht, die bei Google wollen nicht, dass irgendjemand weiß, dass du da bist.“

„Wann hast Du das erste Mal einen Deiner Songs im Radio gehört?“

Lady Gaga: Das war in Kanada. Ich habe so sehr auf diesen Moment hin gearbeitet, drei Shows am Abend gespielt, den Tag über bei Radiosendern verbracht, dazu noch Telefoninterviews gegeben. Ich war sehr müde und musste bald auf die Bühne. Als ich dann meinen Song im Radio hörte, habe ich angefangen, zu weinen. Mein Tour-Manager David fragte mich, wie sich das anfühlt. Ich habe nur gesagt: „Es wird verdammt noch mal endlich Zeit!“

„In der Schule warst Du nicht besonders beliebt. Hat sich, jetzt da Du berühmt bist, je jemand Deiner alten Mitschüler entschuldigt?“

Lady Gaga: Eines der unangenehmsten Dinge, die mal jemand zu mir gesagt hat, war: „Sieh an, sieh an, wie sich der Spieß umgedreht hat.“ Aber ich bin nicht rachsüchtig. Ich war immer der Loser, und das hängt mir noch an. Aber möchte ich irgendjemanden dafür verantwortlich machen? Nein, ich möchte einfach nur Musik machen.

„Nimmst Du eigentlich immer noch Klavier- und Gesangsstunden?“

Lady Gaga: Wenn ihr diese furchtbaren Fotos von mir seht, auf denen ich aussehe, als wäre ich betrunken in einer Piano-Bar, probe ich in Wirklichkeit gerade. Ein paar Martinis, ein paar Paul-Carter-Songs, so lerne ich gerne. Aber geht ja weiter zur Schule!

„Wie kannst Du Dich bei den vielen Klamotten, die Du hast, entscheiden, was Du trägst?“

Lady Gaga: Das ist gar nicht so schwer, wie man vielleicht denkt. Bestimmte Teile plane ich über Monate. Zum Beispiel das Gefäß von Hussein Chalayan für die Grammys – obwohl es als das „Ei“ bekannt wurde, möchte er, dass ich daran erinnere, dass es ein Gefäß ist. Die Konzeption hat Monate gedauert. Und ja, ich verstehe das Gefäß als ein Kleidungsstück. Aber heute trage ich das gleiche schwarze Kleid, das ich auch in dem Ankündigungsvideo für dieses Interview trage. Branding.

„Warum sind all Deine Tattoos auf Deiner linken Körperhälfte?“

Lady Gaga: Mein Vater bat mich, wenigstens auf einer Seite etwas normal zu bleiben. Ich glaube, er sieht, dass das meine Marilyn-Monroe-Seite ist und die andere meine Iggy-Pop-Seite.

„Wie kommst Du eigentlich auf die Ideen für Deine Videos?“

Lady Gaga: Das Wichtigste ist, dass man seine Ideen niemals ignoriert. Man muss sie ehren. Man darf seine Kreativität nicht von den gesellschaftlichen Konventionen beeinflussen lassen. Ich weiß noch, wie ich einmal meinen Manager Troy Carter aus Amsterdam anrief: „Pass auf, ich wäre gerne in einem von der Regierung eingenommenen Alien-Territorium. Außerdem will ich meinen eigenen Kopf gebären.“ Ich hörte nur noch das Rauschen der Leitung und dann: „Warum?“ Ich antwortete: „Wenn ich mich selbst und meine Fans betrachte, fühlt es sich so an, als hätte ich sie geboren und sie mich.“ Später habe ich ihm Bilder von Francis Bacon gezeigt, aber er hat mich nicht verstanden. (lacht) Wenn ihr denkt, ich sei schlimm, wir haben ein Video mit Nick Knight gedreht und er ist einfach … whooo. So schlau. Ich liebe ihn, aber ich verstehe ihn einfach nicht. Was ich sagen will: Gerade letzte Nacht hatte ich eine Idee für ein Outfit. Ich bin aufgestanden, hab es schnell aufgemalt und bin wieder schlafen gegangen. Wenn Gott anruft, geh verdammt noch mal ran.

„Welches ist Dein Lieblingsvideo auf YouTube, das nicht von Dir ist?“

Lady Gaga: (lacht) Das ist mir unangenehm. Der Junge im Auto, der gerade vom Zahnarzt kommt. (lacht) Immer wenn ich vor der Show müde bin, weil ich seit 30 Stunden wach bin, frage ich: „Is this real life?“ Und alle so: „Ja, ist es.“ Ich liebe das Video. Der arme Junge.

„Bitte mach doch mal wieder eine Folge von Gagavision, wir haben die Videos so sehr geliebt.“

Lady Gaga: Ich habe mittlerweile einfach so viel um die Ohren, dass es wirklich schwierig ist, noch eine weitere Kamera in meinem Gesicht zu haben. Mein ganzes Leben ist eine Performance, ich brauche keine Kamera, um das Gefühl zu haben, dass ich ein Kunstwerk bin. (Bei Redaktionsschluss gibt es bereits drei neue Folgen von Gagavision.)

„Gibt es auch Zeiten, in denen Dich die Paparazzi in Ruhe lassen?“

Lady Gaga: Ganz ehrlich, Leute, die behaupten, sie könnten den Paparazzi nicht entkommen, labern Scheiße. Ich gebe kein Geld für Häuser oder viele Autos aus, ich stecke mein Geld in meine Bodyguards.

„Welcher Ratschlag war der beste, den Du jemals bekommen hast?“

Lady Gaga: Wenn du keine Schattenseite hast, stehst du nicht im Licht. Das sage ich mir jeden Tag.

„Wenn Du Dein neues Album in drei Wörtern beschreiben müsstest, welche wären das?“

Lady Gaga: In drei Wörtern … Da kann man mal sehen, wie schlau meine Fans sind. Ich würde sagen: Avantgarde-Techno-Rock. Es hat starke Rockeinflüsse. Dennoch ist es eine Erkundung der elektronischen Musik und von Technoakustik. Ich habe ein eigenes Genre kreiert: Es heißt Metal-Dance. Techno-Pop mit hymnischen Rock-Elementen.

„Wie findest Du, dass die Radiosender in Malaysia die Zeile „no matter gay, straight or bi …“ aus „Born This Way“ zensiert haben?“

Lady Gaga: Selbstverständlich bin ich damit überhaupt nicht einverstanden, sonst hätte ich nicht diese Worte für einen Song gewählt, von dem ich wusste, dass er in Top-40-Radios laufen wird. „Born This Way“ handelt davon zu sagen: „This is who the fuck I am!“ Ich kann den jungen Menschen in Malaysia nur sagen: Wenn ihr wollt, dass das Stück im Radio läuft, dann ist es eure Aufgabe oder sogar eure Pflicht, dafür zu sorgen, dass man eure Stimme hört. Ich glaube nicht an Gewalt, ich glaube nicht an das Schlechte, es gibt keine Gründe, andere Menschen herabzuwürdigen. Ihr müsst friedlich protestieren. Ich weiß nicht, wie oft mein Telefon klingelt und mir jemand sagt, sie wollten diese oder jene Szene aus dem Video schneiden. Wenn sie es nicht spielen wollen, dann müssen sie es nicht. Basta.

„Was machst Du, wenn Du nicht im Rampenlicht stehst? Und was trägst Du dabei?“

Lady Gaga: Ich gehe oft zu diesem verrückten Yoga in einem 38 Grad heißen Raum. Es ist das Einzige, in dem ich wirklich schlecht sein kann, und niemand sieht es. Das ist das Problem, wenn du berühmt bist: Du machst einen Fehler, und Google kriegt es gleich mit. Ansonsten liebe ich es, mich mit meinen Freunden zu betrinken und AC/DC zu hören. Was ich anziehe? Meine Fans sind mittlerweile ziemlich blind für meine Outfits, sie sind daran gewöhnt, sie sehen nur mich. Mit dem neuen Album wird die gesamte Welt sich weniger Gedanken darum machen, wie ich aussehe, wenn ich mir meine Zähne putze. Ich sehe genau so aus wie jetzt. Ich habe nur wahrscheinlich ein T-Shirt an, und in meinem Bett liegt ein gut aussehender Mann.

„Kennst Du das Video „Friday“ von Rebecca Black?“

Lady Gaga: Nein.

„Sie ist die neue Internetsensation, und eine Menge Leute machen sich lustig. Sie ist erst 13 Jahre alt und sie wird dafür kritisiert, dass ihr Song mies und kitschig ist. Ist er auch, aber sie ist doch erst 13. Wie schätzt Du die Funktion von YouTube für junge Künstler ein?“

Lady Gaga: Ich finde es fantastisch! Ich würde sagen, Rebecca Black ist ein Genie, und jeder, der ihr sagt, sie sei mies, redet totalen Blödsinn.

(Ein Fan im Publikum mit einem eigenwilligen, selbst gebastelten Hut steht am Saalmikrofon.)

Lady Gaga: Entschuldigung, ich will gar nicht lachen. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen ähnlich reagieren, wenn ich den Raum betrete. Schöner Hut!

„Danke sehr. Wir haben jetzt über Ihren Ruhm geredet, aber was ist denn mit Stefani, wie schaffst Du es, Stefani zu bleiben …?“

Lady Gaga: … oh, ich liebe diese Frage. Wonach sucht ihr denn? Hier bin ich doch! Ich bin auch Stefani. Gaga ist nur mein Spitzname.

„Du veröffentlichst Akustikversionen Deiner Songs, die in musikalischer Hinsicht das Gegenteil der Originale sind. Wie bildest Du die zwei Stücke aus denselben Noten, denselben Akkorden und demselben Text?“

Lady Gaga: Ich schreibe meine Songs meist am Klavier. „The Edge Of Glory“ etwa. Es entstand, als mein Großvater vor fünf Monaten starb. Mein Vater und ich saßen mit einer Flasche Tequila am Klavier und tranken Shots. Der Song erzählt vom letzten Moment, den man auf der Erde hat, dem Moment der Wahrheit. Wir haben ihn später zu einer riesigen Techno-Rock-Nummer vertont. Bruce Springsteen in tanzbarer Geschwindigkeit. Meiner Meinung nach kann jede gute Musik auf dem Klavier gespielt werden und klingt immer noch nach einem Hit.

„Du hast eine sehr positive Einstellung zum Leben, woher kommt das?“

Lady Gaga: Ich habe eine sehr gute Mutter. Und ich weiß nicht, ob jemand hier im Raum religiös ist. Ich fühle mich immer etwas unwohl, wenn ich über meinen Glauben spreche, ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich würde jemandem etwas aufdrücken wollen. Aber ich glaube, dass Gott uns in vielerlei Form begegnet. Ich sehe Gott in meinen Fans. Ich bin verdammt stolz auf meine Leistungen als Musikerin. Ich glaube, Frauen in der Popmusik haben einen sehr schlechten Ruf, und man hat sich angewöhnt, wenig von uns zu erwarten. Ich, meine Titten, mein Arsch und mein Gehirn sind sehr stolz darauf, heute hier zu sein. Was ich sagen will: Zu wem du betest, muss keine Religion oder ein bestimmter Gott sein. Vielleicht spreche ich gerade in meiner eigenen Gaga-Sprache, aber ich bete meine Fans an. Sie sind meine Religion.

 

Von einer enttäuschten Liebe

Kaum ein Popkritiker der Republik war so sehr begeistert von der Erscheinung Lady Gagas wie Harald Peters. Doch nun, kurz bevor er Born This Way endlich hören darf, überkommen ihn Zweifel. Das Geständnis eines Gaganisten.

Ich wünsche mir, dass Born This Way nicht erscheint, dass Lady Gaga die Welt via Twitter knapp davon in Kenntnis setzt, dass ihr neues Album in den Archiven verschwindet, und zwar auf nicht absehbare Zeit. Anschließend würde Lady Gaga ihren Twitter-Account kündigen und auch ihren Facebook-Auftritt schließen. Sie würde Urlaub machen oder zumindest für mindestens zwei Jahre nicht öffentlich in Erscheinung treten. Es wäre besser für sie, es wäre besser für mich.

Aber weil sie meine Wünsche nicht hört und nur ein veritabler Weltuntergang den Lauf der Dinge zum Halten bringt, werde ich mindestens ab einer Woche vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin mit heißen Augen die einschlägigen Seiten ansteuern, weil Born This Way selbstverständlich schon vor dem eigentlichen Veröffentlichungstermin erscheint. Dann werde ich mir das Album anhören und ich werde versuchen, es gut zu finden. Ich werde es mir ein zweites und ein drittes Mal anhören, aber es ist vergebliche Liebesmüh, es wird mir nicht gelingen. Ich weiß das, weil es mir bereits mit den Singles „Born This Way“ und „Judas“ so gegangen ist, zwei Lieder, die zwar nach mehrfachem Hören nicht wieder aus dem Kopf gehen, was ein gutes Zeichen sein könnte, aber leider kein gutes Zeichen ist. Das Albumcover, das Gaga als Harley-Davidson zeigt, werde ich versuchen zu ignorieren. Mühelos dürfte es als eines der scheußlichsten Cover in die Geschichte der Popmusik eingehen, wobei nicht die konkrete Scheußlichkeit das eigentliche Problem ist, sondern das nicht zu übersehende Bemühen, in Sachen Scheußlichkeit Außerordentliches zu leisten.

Lady Gaga hat ihre Leichtigkeit verloren. Als Sonderfall und Ausnahmeerscheinung hat sie ihre Karriere begonnen und ist jetzt auf dem besten Wege, zu einem Problemfall zu werden, wie die Popgeschichte sie schon ungezählte Male gesehen hat. Als etwa Michael Jackson die Idee verinnerlicht hatte, tatsächlich der King of Pop zu sein, war er vollkommen außerstande, einen halbwegs vernünftigen Song zu schreiben – die Angst, nicht an alte Erfolge anknüpfen zu können, machte ihn praktisch arbeitsunfähig. Als Marilyn Manson bemerkt hatte, dass er mit weitem Abstand der Einzige war, der in Michael Moores „Bowling For Columbine“ einen klugen Satz sagte, dachte er, seine Klugheit müsse auch in seinem künstlerischen Schaffen zum Tragen kommen, und fing an, Aquarelle zu malen und verquaste Konzeptwerke zu vertonen, in denen es um John F. Kennedy als Jesusfigur oder die Weimarer Republik ging. Fortan war er für den Pop verloren. Und als Madonna mit Songs wie „Like A Virgin“, „Like A Prayer“ oder „Erotica“ alle gängigen Reizthemen aus dem Bereich Sex & Religion erfolgreich abgehakt hatte und man sie nach all den Jahren im Geschäft zu einer Art Großkünstlerin erklärt hatte, fühlte sie sich plötzlich berufen, sich zu den drängenden Themen der Menschheit zu äußern, was in dem gegenwartskritisch gemeinten Werk American Life seinen unerfreulichsten Ausdruck fand.

Lady Gaga ist sozusagen die Fortsetzung von Michael Jackson, Marilyn Manson und Madonna mit anderen Mitteln. Sie hat den unbedingten Willen zum Erfolg, den Mut zur Hässlichkeit, ein Händchen für Provokation. Sie hat ungebremstes Mitteilungsbedürfnis und eine Meinung zu allen möglichen Dingen. Sie hat in den vergangenen Monaten so oft hören dürfen, wie ungemein relevant sie als Künstlerin sei, dass sie auf die unkluge Idee kam, ihre Meinung in ihrem künstlerischen Werk aufgehen zu lassen, worunter jetzt die Musik, die Botschaft und damit auch die Hörer leiden.

Es ist ein Unterschied, ob man einen Knaller wie „Just Dance“ auf den Markt wirft und anschließend in Interviews ohne einen Anflug von Ironie seinem verblüfften Gegenüber erklärt, der Song greife in Text und Musik die Lehren von Warhol, Bowie und Madonna auf. Oder ob man eine mediokre Komposition wie „Born This Way“ veröffentlicht, die schon mit der Absicht geschrieben wurde, weltverändernd zu wirken, tiefsinnig und kraftvoll, und leider all das nicht ist.

Elton John sagte über „Born This Way“, dass der Song Gloria Gaynors „I Will Survive“ als Schwulenhymne ablösen werde, und hat sich dabei gleich mehrfach geirrt. „Born This Way“ ist keine Schwulenhymne, der Song ist vielmehr der beispielhaft gescheiterte Versuch, eine klare Aussage zu treffen. Da wird die sexuelle Orientierung unnötigerweise in den Bezug zur Religion gesetzt („It doesn’t matter if you love him or capital H-I-M“), da finden, um niemanden zu vergessen, alle möglichen sexuellen Orientierungen Erwähnung („No matter gay, straight or bi, lesbian, transgendered life“), wie auch sämtliche Hautfarbigkeiten („You’re black, white, beige, chola descent, you’re Lebanese, you’re orient“) genannt werden, um dann zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass alles okay sei, weil Gott keine Fehler mache. Und man denkt: „Wieso eigentlich Gott?“

Abgesehen davon, dass sich umgehend Gruppen darüber beschwerten, in Gagas Aufzählung nicht vorzukommen, und andere sich wiederum darüber beschwerten, dass sie vorkommen (und zwar in verkürzter und unangemessen deterministischer Weise), muss gesagt werden, dass es „Born This Way“ auch an der notwendigen Dosis Herz und Gefühl mangelt, um sich als Hymne zu qualifizieren, weshalb „I Will Survive“ uns noch lange Zeit begleiten wird. Zumal „I Will Survive“ überhaupt nicht als Schwulenhymne gedacht war und ohnehin kaum ein funktionstüchtiger, identitätsstiftender Popsong je zum Zwecke der Identitätsstiftung geschrieben wurde. Mir fällt jedenfalls keiner ein.

Mit „Judas“ wird die Sache nicht besser. Der Titel und die Veröffentlichung zum Osterfest sind eine müde Provokation, die aber leider noch nicht müde genug war, um nicht irgendeinen ausgeschlafenen Christen einen Skandal wittern zu lassen. Bill Donohue, der kopfschräge Führer der amerikanischen Catholic League for Religious and Civil Rights, schlug wie auf Geheiß Alarm und Gaga ließ verlautbaren, dass sie doch nur ein einfaches katholisches Mädchen sei, dem jeder Provokationswunsch fern liege. Ach ja. Aber warum heißt der Song dann nicht „John“, „James“, „Andrew“ oder „Matthew“ (dass mir gerade nur biblische Namen einfallen, möge man verzeihen), könnte man fragen, was jedoch müßig wäre, denn selbst wenn „Judas“ anders hieße, wäre er nicht besser. „Judas“ klingt wie ein verunglücktes Mash-up von „Bad Romance“ und einem namentlich unbekannten Kindergartenlied, dass wir schon als Fünfjährige kaum ertrugen, es klingt wie eine Gaga-Karikatur. Es sind auch nicht religiöse Gefühle, die das Lied beleidigt, sondern ästhetische. Er lässt sich weder schönreden noch -denken.

Wenn zwei Singles des mutmaßlich erfolgreichsten und mit größter Spannung erwarteten Albums nichts taugen, dann lässt das nichts Gutes ahnen. Es scheint, als sei Gaga auf sich selbst hereingefallen. Früher hat sie gesagt, dass Pop Kunst sei, und so wie sie ihren Pop vermittelt hat, war es Kunst. „Just Dance“, „Paparazzi“, „Pokerface“, „Bad Romance“ und „Alejandro“ – jeder Song ein großer bewegender Wurf in Sachen hervorragender Sinnlosigkeit. Die Videos, die Kostüme, die unvermeidliche Teetasse – alles wunderbare Details, die weder auf eine falsche noch richtige Fährte führten, weil es keine falsche oder richtige Fährte gab. Gaga scheint Angst vor dem funkelnden Nichts bekommen zu haben, sie hat sich auf die Spur gesetzt und Bedeutung aufgeschaufelt, die nur belastet. Ihre neuen Songs sind eine schwerfällige Wiederholung ihrer alten, die ohne erkennbaren Inhalt so viel mehr sagten, als jene, die etwas sagen möchten, und weder den richtigen Ton noch die Wort finden. In ihrem Spiel mit Pop und Kunst hat Gaga das Gewicht verlagert und scheint nun auf beiden Gebieten zu scheitern. Ach, wie wünschte ich mir, dass Born This Way nicht erscheint und Lady Gaga nach zwei Jahren mit einer stillen Klavierplatte wieder auftaucht, als wäre nichts gewesen.

 

Die Fragen der anderen

Perez Hilton, Los Angeles, Blogger

Heute klingt Ihre Musik deutlich anders als früher, als Sie Ihre Karriere in New York City begonnen haben. An welchem Punkt haben Sie entschieden, Dance Music zu machen?

Lady Gaga: Ich habe sehr früh mit Musik angefangen, mit vier Jahren habe ich klassische Musik gespielt. Mit elf Jahren habe ich angefangen, Popstücke zu schreiben, habe mich aber auch mit Jazz und Ragtime beschäftigt. Später dann kam Folk, Bob Dylan, dann Queen und Bowie. Und dann Disco. Es war eine intellektuelle Entwicklung, meine Liebe zur Musik war geboren und entwickelte sich immer stärker. Als ich später alleine in Downtown Manhattan lebte, begann ich, in mich hineinzuhorchen und mich zu fragen: Muss ich Musik machen? Ich musste! Dann aber fragte ich mich: Warum? Ich verzichtete darauf, Musik zu machen, die ich selber hören wollte, von der ich dachte, sie sei großartig – und ich glaubte, dies sei eine bahnbrechende Idee. Indie war in New York damals die Norm und Popmusik wurde als kommerziell abgetan. Und in echter Gaga-Manier habe ich entschieden, Popmusik in einer Stadt zu machen, in der es keine gab.

Mario Testino, London, Fotograf

Ihre Outfits sind sehr extrem. Sind sie eine Reaktion auf irgendetwas? Stellen Sie damit den Status quo des weiblichen Stils infrage?

Lady Gaga: Ja, das tue ich. Ich bin Feministin. Ich lehne voll und ganz die Art und Weise ab, in der uns beigebracht wurde, Frauen wahrzunehmen, die Schönheit von Frauen, wie sie handeln oder sich benehmen sollten. Frauen sind stark und zerbrechlich. Frauen sind schön und hässlich. Wir sind zurückhaltend und laut, alles zur selben Zeit. Die Art, wie uns beigebracht wurde, mit Frauen umzugehen, hat etwas von Gedankenkontrolle. Meine Arbeit, musikalisch wie auch modisch, ist die Verweigerung gegenüber diesen Verhaltensmustern. Und eine Mission. All das ist sehr aufregend, denn all die verrückten Klamotten, die Musik und die Texte wurden damals als schockierend und inakzeptabel angesehen. Heute ist das normal. Stärke, Feminismus, Sicherheit, die Weisheit der Frauen: Lasst uns das zur Normalität erheben!

John Galliano, Paris, Designer

Wenn Sie durch die Zeit reisen könnten, wohin würden Sie reisen – vor oder zurück und warum?

Lady Gaga: Mein Instinkt würde mich zuerst in die Vergangenheit zerren. Ich würde gerne erfahren, was meinen Wortschatz beeinflusst und geformt hat. Trotzdem würde ich wahrscheinlich in die Zukunft reisen. Der Grund ist sehr selbstsüchtig: McQueen hat immer gesagt, man darf niemals zurückschauen, sondern muss immer nach vorne blicken. Ich würde in die Zukunft reisen, um meine eigene Arbeit zu verbessern und mich zu einer besseren Künstlerin zu machen, um für mehr Vorwärtsdenken zu sorgen und innovative, magische und poetische Kunst zu erschaffen, so wie er es getan hat.

Hedi Slimane, Paris, Designer/Fotograf

Lassen Sie uns über den Unterschied zwischen Ihrem privaten und dem Leben in der Öffentlichkeit sprechen. Wo ist die Grenze? An welchem Punkt schalten Sie um? Gibt es Momente, in denen Sie kurz durchatmen und dann vor die Menschen treten, oder fühlt sich Ihr gesamtes Leben an, als stünden Sie auf der Bühne?

Lady Gaga: Die Antwort besteht aus zwei Teilen. Erstens: der Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Leben. Ich glaube, für Künstler ist es ein elementarer Bestandteil der gesamten Ästhetik, dass sich ihr Privatleben in der Öffentlichkeit abspielt. Das ist die Botschaft. Trotzdem verbreite ich reichlich Lügen über meine persönlichen Beziehungen, um diese Ästhetik und Botschaft zu schützen. Heutzutage werden die Menschen von unwichtigen Dinge abgelenkt: Was für eine Diät mache ich gerade? Mit wem vögele ich? Der zweite Teil wäre die Frage danach, wann ich umschalte: Ich würde gerne sagen, jedes Mal, wenn ein Schwanz in mir ist, aber das stimmt nicht immer. Manchmal habe ich das Gefühl, mich die gesamte Zeit auf einer Bühne zu befinden. Mein Leben scheint nur eine Bühne für meine Kunst zu sein, egal ob ich tanze, singe oder Frühstück mache. Aber es gibt einen Moment der Freiheit, in dem die Bühne verschwindet: wenn ich weine. Das hat etwas sehr Ehrliches. Es hat nichts damit zu tun, dass ich meine Perücke abnehme oder den Lippenstift abwische. Es hat nicht mal damit etwas zu tun, ob ich einen Orgasmus habe. Es ist sehr viel bedeutender als das.

Jonas Åkerlund, Schweden, Regisseur

Wie würden Sie einen Film über ihr Leben nennen?

Lady Gaga: Born This Way.

Marina Abramoviæ, New York, Künstlerin

Wer gibt Grenzen vor?

Lady Gaga: Wir schaffen unsere eigenen Grenzen. Sie, Marina, sind jedoch ein Mensch ohne Grenzen. Sie sind so unglaublich. Ich war in Ihrer Ausstellung im MoMA und Sie haben keine Grenzen. Ich schaue Sie an und erkannte: Sie sind frei. In Ihrer Nähe spürt man, dass es für Sie keine Grenzen gibt.

Takashi Murakami, Tokio, Künstler

Was ist Ihr Lieblingsmonster, womit ich nicht Ihre Fans meine, sondern Ihr liebstes Fabeltier oder liebste Gruselgeschichte.

Lady Gaga: Ich denke, eines meiner Lieblingsmonster ist der Anglerfisch – ein echtes Monster meiner Kindheit. Mein Lieblingsfabeltier ist das Einhorn. Ich liebe Einhörner. Meine Lieblingsgruselgeschichte ist die, von der ich morgen Nacht träumen werde.

Quentin Tarantino, Los Angeles, Regisseur

Nennen Sie einen Song, bei dem Sie mitsingen, wenn er im Radio läuft, sich aber so sehr schämen, dass Sie niemandem davon erzählen.

Lady Gaga: Dieser Song von Taylor Swift, „You Belong To Me“. Ich sing ihn laut und schäme mich dafür, weil ich so laut mitsinge. Doch der Song ist großartig.

Naomi Campbell, London, Model

Mit wem würden Sie gerne ein Duett singen?

Lady Gaga: Mit dir, Naomi! Ich hätte gern ein Duett mit Judy Garland gesungen. Ich hätte sie gern kennengelernt. John Lennon. David Bowie. Und Nick Knight, aber wir singen oft zusammen.

Bret Easton Ellis, Los Angeles, Autor

Würden Sie dem Satz zustimmen: Frauen sind verrückte Vaginas?

Lady Gaga: Nein, das wäre zu allgemein gehalten. Jede Vagina fühlt anders.

Kate Moss, London, Model

Wenn Sie sich entscheiden würden, Kinder zu bekommen: Welche Namen würde Sie ihnen geben?

Lady Gaga: Ich mag Annabelle. Und Lennon als Namen für ein Mädchen. Ich mag auch Joey, nach meinem Vater. Und Joanne.