Der graue Schwan
Als Lou Reed die Stimme das erste Mal hörte, wähnte er sich in der „Gegenwart eines Engels“. So verstörend fragil, so verzaubernd verzweifelt. Ebenso einmalig wie der Falsett-Gesang ist der Mensch, in dem diese Stimme wohnt: Antony Hegarty heißt ihr Hüter. Anlässlich der neuen Platten von Antony and The Johnsons empfing dieser unseren Autor in New York.
Diese Stimme. Diese Stimme. Diese Stimme steht so verstörend fragil und verzaubernd elegant in der Welt wie eine Lilie auf einer Müllkippe. Und genauso ungeschützt, ungebrochen von Zynismus oder Ironie oder dem Dreck ringsum. Sogar ein Brummbär wie Lou Reed wähnte sich, als er diese vorsichtig falsettierende Stimme das erste Mal hörte, in der „Gegenwart eines Engels“. Kein ungewöhliches Urteil. Seit sie 2000 wie eine akustische Täuschung aus dem Underground heraufklang, nötigt diese Stimme ihre fassungslosen Kritiker zu religiösen Umschreibungen. Wen das schmelzende Vibrato und die sehnsüchtige Verzweiflung in dieser Stimme nicht erreicht, der will nicht berührt werden, dem ist nicht mehr zu helfen, der ist verloren.
Umso seltsamer der Mensch, in dem diese Stimme wohnt. Antony Hegarty ist ein Baum von einem Typ, und alles an ihm ist weich. Sein Händedruck, der Fall seiner tiefschwarzen Haare, mit denen manchmal der Wind spielt, sein rundes Gesicht mit den blonden, vor der bleichen Haut fast unsichtbaren Augenbrauen und sogar der Stoff seiner grauen, dezent weiblichen Bluse, die seinen massigen Körper umspielt. Seine Sprechstimme ist überraschend dunkel. Er fragt: „Machst du Urlaub in New York?“ und mag nicht glauben, dass wir eigens für ihn angereist sind. Es ist ein schwülwarmer Sommertag in Manhattan, und Antony will das Interview im Freien führen. „Ich kenne hier einen netten Park um die Ecke“, sagt er und eilt mit weiten Schritten voraus in den begrünten Innenhof einer Mietskaserne. Dort sitzen wir uns die nächsten zwei Stunden unter einer Linde gegenüber, unbehelligt von Passanten oder Touristen.
Hat dich der Erfolg im Mainstream verändert?
Antony Hegarty: Ja, er hat mich scheuer gemacht, reservierter. Ich werde künftig weniger auftreten.
Hat sich dein Publikum verändert? Kaufen dir die neuen Hörer deine Philosophie ab?
Philosophie steht nicht zum Verkauf. Wenn Leute nur an der Musik interessiert sind, und nicht am Hintergrund, dann ist das okay.
Dabei ist Antony Hegartys Lebensgeschichte mindestes so verwirrend wie seine Stimme. Geboren 1971 in England, zog er mit den Eltern – der Vater Ingenieur, die Mutter Fotografin – erst nach Holland, dann nach Kalifornien. Zwar sang er damals, unvorstellbar, in einer Death-Metal-Band – sein wahres Potential aber entdeckte er nach einem Auftritt im Schulchor, wo er als Nonne verkleidet „Yesterday“ von den Beatles interpretierte – und damit seine Lehrerin zu Tränen rührte. Kurz darauf wurde ihm klar, dass er sich nicht als Mann fühlte. Und auch nicht als Frau. Und dass ihn dieser Zwiespalt nur dann nicht umbringen würde, wenn er ihn akzeptierte:
Antony Hegarty: Als transgender person bin ich ja schon außerhalb der üblichen Systeme geboren, abseits familiärer Erwartungen beispielsweise. Überall auf der Welt werden Kinder transgender geboren und mit männlichen oder weiblichen Rollenbildern konfrontiert. Transgender ist sozusagen das Ursprüngliche, das Wilde in dir, bevor es von der Gesellschaft, vom System in die Konformität überführt wird. Und Konformität ist kein fruchtbarer künstlerischer Standpunkt.
Im Gegensatz zum Standpunkt zwischen allen Stühlen und Konventionen?
Ja. Eine lebhafte Transgender-Indentität setzt sich gegen gesellschaftlich abgesegnete Erwartungen durch. Wer transgender lebt, der tut das auch im Angesicht der offenen Ablehnung durch die Gesellschaft. Das ist es, was transgender so wild und unberechenbar macht. Die meisten Leute wollen einfach verzweifelt akzeptiert werden, anstatt zu sein, was sie sind. Sie versuchen daher oft ein Leben lang, ihr Vater, ihr Bruder oder ihre Mutter zu sein. Eine transgender person dagegen ist, was sie ist, und als solche fast schon eine Botschaft der Natur.
Siehst du dich in einer Tradition androgyner Stimmen oder Figuren des Pop? David Bowie beispielsweise oder Boy George?
Oh ja, definitiv. Es gibt viele Stimmen, männliche und weibliche, egal, die mich beeinflusst haben. Otis Redding, Nina Simone, Marc Almond, Divine, Klaus Nomi, Elizabeth Fraser (von den Cocteau Twins – Anm. d. Red.) oder auch Stimmen, die ich erst neuerdings entdeckt habe. Selda, eine türkische Musikerin, macht mich gerade völlig wahnsinnig, ich höre sie die ganze Zeit. Außerdem beginne ich, mich für afrikanische Musik zu interessieren. Ich glaube nicht, dass mich vor allem schwule oder transgender-Sänger beeinflusst haben. Ich habe, glaube ich, ziemlich klar gemacht, dass ich transgender bin. Ich denke aber nicht, dass mich das zu einem transgender artist macht. Es ist ein Teil dessen, was mich beschäftigt. Ein wichtiger, aber auch nur ein Teil.
In Songtexten wie „One day I’ll grow up / To be a beautiful woman / But for now I’m a boy“ (aus „For Today I Am a Boy“) verhandelst du das Thema doch ziemlich direkt.
Puh, das war auf dem Album I AM A BIRD NOW, bei dem es mir sehr darum ging, was in mir vorgeht. SWANLIGHTS hat dagegen viel mehr damit zu tun, was um mich herum vorgeht – nichts mit meinem Innenleben. Natürlich sehe ich aber immer die Welt durch meine Linse als transgender person. Auch auf dem neuen Album, wenn ich davon träume, ein Tier zu sein oder das Gefühl einer Andersartigkeit auskoste. Da profitiere ich sozusagen von meiner Identität als transgender person.
Ist das eine politische Haltung?
SWANLIGHTS ist sehr politisch, hoffe ich! Zugleich ist es superpersönlich. Es geht um meine Wahrnehmung der Umwelt und den Untergang unseres Ökosystems, dieser Vision habe ich mich in den letzten drei, vier Jahren völlig verschrieben. Auf dem Album reflektiere ich meinen persönlichen Umgang mit diesen Dingen, meine Verantwortung und die Frage, ob ein einzelner Mensch überhaupt etwas daran ändern kann. Oder ob er sich von diesen Problemen abwenden soll.
Ist das kein schreckliches Dilemma? Du bist nunmal da.
Ja. Im Moment sind wir alle da. Und schauen zu, wie unser Ökosystem kollabiert.
Was ist da deine Verantwortung als Künstler?
Mein Job ist es, sozusagen an der Front zu stehen und vielleicht die eine oder andere Idee zu formulieren, was wir als Gesellschaft jetzt tun sollten. Das ist meine Definition, mein Ethos als Künstler: Wir verwenden am Tag mehr Zeit als andere Leute darauf, in uns hineinzuhorchen. Deshalb sind wir der Gesellschaft immer voraus. Ein paar Schritte nur, aber immerhin. Darum geht es auf dem Album. Ich kann nur versuchen, ein gewisses Bewusstsein zu schärfen. Aber ich habe natürlich keine Antworten. Wir sind einfach mit irrwitzigen Veränderungen konfrontiert. Jeder weiß das. Darum will ich von mir selbst wissen, wie ich mich dazu verhalte …
Künstler wie Bono oder Sting sind vor allem auf politischer, praktischer Ebene sehr engagiert. Songs über den Regenwald schreiben sie aber nicht.
Das macht nichts. Diese Leute sind sehr mächtig in dem Sinne, dass die sehr, sehr reich sind. Und mit diesem Reichtum und ihrem Namen tun sie, wovon sie glauben, dass sie es tun müssen. Ich finde das in Ordnung. Ab einem gewissen Punkt langweilt doch auch der luxuriöseste Lebensstil. Dann macht man sich halt Gedanken, wie man seinem Leben einen Sinn geben und vielleicht auf positive Weise am Menschsein überhaupt partizipieren kann. Bei mir schlägt sich das hoffentlich nieder in einer mehr psychologischen, philosophischen, spirituellen Arbeit.
Auf eigentümliche Weise schlägt sich das auch nieder in dem üppigen Kunstband, der zusammen mit dem Album SWANLIGHTS erscheinen wird. Ich blättere durch das Buch, während er auf seinem Blackberry noch Nachrichten checkt. Die Bilder beeindrucken und erinnern an manche Collagen von Georg Grosz: Ausschnitte aus Zeitungen und alten Büchern über Fauna und Flora des Polarkreises, zertrennt und wieder zusammengenäht, übermalt und bekritzelt, mit Tusche besprenkelt und mit der Schere bearbeitet. Indianer, Karibus, Wale, Inuit und ein erlegter Eisbär, weißes Fell auf frischem Blut. Seine Jäger nannten ihn „Swanlights“, wie aus dem angerissenen Artikel unter dem Bild hervorgeht. Irgendwann legt Antony sein Telefon beiseite und fragt: „Gefällt es dir? Es ist bisher das einzige Exemplar. Ich kann es dir leihen, wenn du willst.“
Lässt sich das Erstellen solcher Collagen mit dem Schreiben von Songs vergleichen?
Hm, nein. Oder doch? Ich weiß nicht. Die Kunst ist ein sehr innerlicher, einsamer Prozess, das bist dann nur du und das Blatt Papier. Und der Ort, an dem du dich gerade befindest. Und wofür du dich interessierst. Bei mir waren das Vorkriegs-Zeitungen, das „Life“-Magazin, 100 Jahre alte Bücher und Lithographien, die sich mit der Arktis beschäftigten. Der kreative Prozess sollte eine ganz organische Angelegenheit sein. Ungefähr so, wie Haare wachsen zu lassen. Wenn ich vor künstlerischen Entscheidungen stehe, dann stelle ich mich mir selbst gerne als ein Tier vor. Als ein wildes Tier, das träumt.
Woher dieses Interesse für den Norden?
Ich war schon lange obsessiv mit der Vorstellung schmelzender Eiskappen beschäftigt. 2007 unternahm ich dann eine Reise in den Polarkreis. Einfach um zu sehen, wie es dort aussieht und sich anfühlt. Übrigens ein wunderschöner Ort. Ich war da auf einer Kreuzfahrt in den Norden Norwegens, nach Skjervøy. Das Schiff war übrigens voller Deutscher. Nur Deutsche, überall. Naturliebende, ältere Deutsche.
Pensionierte Geographielehrer.
Den Eindruck hatte ich auch. Englischlehrer waren es nicht, denn gesprochen wurde nicht viel. Es war also sehr ruhig, sehr klar, sehr kalt und sehr seelenvoll. Das Wasser ist so sauber, und alles ist so voller Leben …
Darum geht es auch auf SWANLIGHTS, oder?
Ja. Das Album siedelt in der Schnittmenge großer Freude und großen Schmerzes. Es ist in dieser Hinsicht vielleicht mein am stärksten schwankendes, wenigstens entschiedenes Album geworden. Ich glaube: Der Punkt, an dem sich diese verschiedenen Gefühle treffen, ist auch der Ausgangspunkt für viele Songs auf SWANLIGHTS.
Hält das Album eine Balance?
„Nein. Es ist instabil“, sagt Antony sanft und lächelt über ein Eichhörnchen, das seit einer Weile im Geäst über uns und auf dem Platz um uns herumturnt, und das Antony sogleich als amerikanisches Eichhörnchen identifiziert: „Die europäischen sind dunkelbraun, diese hier sind hellbraun und haben einen grauen Rücken“, sagt er. In Europa seien die US-Hörnchen aber auf dem Vormarsch und verdrängen die dort heimischen Arten: „In England sind sie schon dazu übergegangen, sie umzubringen“, sagt er, während er das Tierchen unverwandt beobachtet und von ihm beobachtet wird.
Hast du mal darüber nachgedacht, wie es wäre, Kinder zu haben?
Ich weiß nicht. Ich kenne nicht viele Leute, die Kinder haben. Nein. Außerdem gibt es schon so viele Menschen, dass man nicht unbedingt mehr davon in die Welt setzen muss. Ich mag Kinder. Aber ich denke, andere Spezies würden es eher verdienen, in dieser Welt Raum einzunehmen. Ich unterscheide nicht zwischen Tieren und Menschen. Ich glaube, alles, was ist, sendet eine eigene Strahlung aus.
Ist das Altern ein Thema für dich?
Was meinst du mit „Thema“?
Wir werden alle sterben.
Ich bin in meinen späten Dreißigern. Ich weiß nicht, es ist aufregend, mehr Erinnerungen zu haben. Das Leben wird mit dem Alter reicher, panoramischer, farbiger, weiter.
Wo siehst du dich in 20 Jahren?
Ich lebe am Hang eines Berges. Da sind viele Bäume … mehr sehe ich nicht. Womöglich werde ich etwas ganz anderes sein. Vielleicht werde ich Wasser sein.
Du denkst oft ans Sterben.
Ja. Weil ich es nicht verstehe. Es ist einfach eine große Frage, was nach dem Tod passiert.
Vielleicht passiert gar nichts. Vielleicht ist da nur ein großes Nichts.
Ja, aber wird es innerhalb dieses Nichts ein Bewusstsein geben, gehüllt in das Nichts? Ist dieses Nichts ein Strom oder steht es still? Ist es dunkel oder hell? Keine Ahnung. Deshalb denke ich so oft darüber nach. Das liegt daran, dass ich eine Hexe bin, ein Heide. Die religiöse Welt hat da keine Antworten, die mich interessieren. Da sind alles Konstrukte von Männern. Selbst nette Religionen wie der Buddhismus. Nein, ich nehme in spiritueller Hinsicht keine Ratschläge von Männern an, danke, kein Interesse. Sie haben alle diese fürchterlichen Systeme erfunden, zur Unterdrückung der Frauen. Weil Frauen etwas haben, was Männer nicht haben, nämlich die Möglichkeit, Leben zu geben. Also nutzten Männer ihr Hirn, um etwas auf die Beine zu stellen, was irgendwie ähnlich wichtig und einzigartig wirkt. Ich kenne so viele einflussreiche, kreative und intelligente Frauen in der Kunstwelt, die sich trotzdem irgendwelche spirituellen Träume von Männern anhören. Ich verstehe das nicht. Die meisten Religionen haben diese Idee, wir wären aus dem Garten Eden vertrieben worden. Das stimmt nicht, im Gegenteil: Wir sind in das Paradies geboren. Dies ist der Garten Eden. Unschuld ist also geschützt, Unschuld siegt. Die Basis der meisten Religionen ist die Behauptung, dass irgendwas mit dir nicht stimmt oder der Himmel anderswo ist, das er später kommt, etwas ist, für das wir uns qualifizieren müssen. Mir kommt das alles wie höherer Unsinn vor, da pfeife ich drauf.
Was würdest du einem jüngeren Antony raten, wenn du ihm heute begegnen könntest?
Interessant, dass du das fragst, weil wir gerade das Video für „Thank You For Your Love“ gedreht haben, in dem wir viel Material von mir verwendet haben, als ich 19 Jahre alt war. Das war faszinierend, weil ich mich damals an einem anderen Ort befunden habe, mental. Ich war sehr leidenschaftlich. Man muss einem jüngeren Selbst immer verzeihen können. Diese Person ist ja nicht weg, man trägt sie immer mit sich herum, alle diese Personen: den Fünfjährigen, den Zwölfjährigen, den Fünfundzwanzigjährigen. Ich hoffe, der Sechzigjährige wird meine Fehler mit Milde erinnern.
Mit Hercules And Love Affair hast du eine eher körperliche, weniger chansoneske Seite gezeigt. War das ein Fehler?
Nein, das war nur ein Spaß. Es gibt keine Pläne, das fortzusetzen. Was es gibt, ist dieses Projekt mit meinem Freund Matthew. Matthew Herbert, der ein paar meiner alten Songs remixen will. Ich liebe Matthew. Ihm geht es manchmal noch elender als mir. Das wird fein.
So viel Zeit Antony Hegarty sich auch mit seiner eigenen Musik nimmt, so rasch lässt er sich auf Duette ein. Gesungen hat er unter anderem schon mit Rufus Wainwright, mit CocoRosie, mit Boy George und – furchtlos, wie er ist – sogar für Herbert Grönemeyer. Dabei fällt auf, dass Antony dabei meistens eine passive Rolle einnimmt, der anderen Stimme stets den Vortritt lässt. Ein Überbleibsel vielleicht aus der Zeit, als er noch überwiegend mit einem Kollektiv auf die Bühnen des Greenwich Village trat. Auch sein engerer Freundeskreis besteht noch immer aus den Leute, die er in seiner Sturm- und-Drang-Phase kennen- und zugleich lernte, jede Furcht vor Entblößung oder Peinlichkeit abzulegen. In den 90er-Jahren war das, als alle Welt anfing, Antony Hegarty nur noch liebevoll „Antony“ zu nennen. Damals bewegte er sich in einer Szene, die er einmal als „arty-punky-prostituty-transvesty“ beschrieb.
Er kann es selbst kaum glauben, dass diese wilde Zeit ohne größere gesundheitliche Versehrungen vorüberging. Über die Frage nach seiner Lieblingsdroge muss er nicht allzu lange nachdenken, bevor er treuherzig bekundet: „Sauerstoff und Schokolade.“ Früher jedenfalls, im schwulen Untergrund von Manhattan, machte er sich als Darsteller frivoler Theaterstücke einen Namen, bei denen er, genau wie heute, mit unbeholfen rudernden Armen und grimassierend seine Stimme zum Vortrag brachte, diese Stimme, die dann irgendwann auch einer prominenten Besucherin nicht mehr aus dem Kopf ging: Laurie Anderson.
Für sie habe ich über die Jahre einige Sachen quasi freihändig aufgenommen, Texturen, Gesumme. Manches davon hat sie verwendet, was mir sehr schmeichelt. Ich verehre sie, seit ich ein Kind bin. Bis heute ist die vielleicht die Person, der ich mich künstlerisch wie persönlich am nächsten fühle.
Was ist mit Björk? Du hast auf ihrem Album VOLTA gesungen, auf SWANLIGHTS gibt es ein weiteres Duett. Wie kam es dazu?
Vor ein paar Jahren war ich mit Björk in Jamaika, wo wir ein wenig Musik aufgenommen haben. „Flatter“, unseren Song, habe ich eigentlich für eines ihrer Alben produziert. Dann wollte ich ihn aber für mich haben.
Hat sie den Text geschrieben?
Nein, sie hat ihn improvisiert. Sie ist da ein bißchen manisch. Sie schaute sich meinen Song für eine Weile an und sagte dann: „Oh, dabei kann ich dir helfen.“ Und weißt du was?
Verrate es mir.
Frauen können immer helfen. Gerade bei den Problemen, vor denen wir jetzt stehen. Das ist das Geheimnis, und ich will es in die Welt hinausschreien, es verraten.
Wäre denn eine weibliche Welt wirklich besser? Und hast du Hoffnung, dass sich die Dinge in 100, vielleicht 200 Jahren zum Guten wenden?
Es gibt nichts, was mich derzeit mehr interessiert und beschäftigt. Ich mag einige von Benazir Bhuttos späten Interviews. Sie ist eine große Inspiration für mich. Ein paar Monate, bevor sie ermordet wurde, sprach sie in Interviews sehr bedauernd über alles, was sie falsch gemacht hatte, über ihre Familie, über die Rechte von Frauen. Das ist es, was ich mit dem Kreislauf des Lebens meine, das Mütterliche, Nährende, Sorgende, was aus der Familie ausgreifen könnte auf die Gesellschaft. Leider sind die meisten Frauen so unterdrückt, dass sie die Bedingungen ihrer Unterdrückung fraglos hinnehmen. In einem femininen System, einem System, das nicht von männlichen Konzepten wie Unsicherheit und Furcht beherrscht wird. Ob die Dinge sich doch noch zum Guten wenden? Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, weißt du? Die entscheidenden systemischen Weichen sind ja schon gestellt worden, etwa vom Kapitalismus. Das ist nicht rückgängig zu machen, solange wir alle dem männlichen Weg folgen. Der hat uns weit gebracht, klar. Als es noch darum ging, nicht gefressen zu werden, hat er uns sehr geholfen. Aber heute? Ich meine: Wer zerstört, wovon er selbst lebt? Nur ein Kind in Agonie, ein Kind in Raserei würde so etwas tun! Wir sind wie dieses große Gehirn, das über der Welt schwebt und so tut, als gehöre es nicht dazu, als würden wir diesen Ort hier überleben und eines Tages zu den Sternen fliegen. Das ist nicht der Fall. Wir sind mit der Erde verbunden wie ein Fötus mit der Mutter, wir wurden von ihm geboren, wir werden von ihm genährt. Und wie kommt dieses Kind dazu, seine eigenen Grundlagen zu zerstören? Weil es Wahnvorstellungen anhängt, die es von seiner Mutter, der Erde, trennen, seien das nun christliche, islamische oder kapitalistische Fundamentalismen. Alles, was uns mal geholfen hat, verstärkt nur die Krise. Und ich bin überzeugt, es ist eine Krise in uns allen. Und ich glaube, in mir kocht meine eigene Version dieser Krise. Ich glaube nicht, dass ich da anders bin. Du fragst, ob wir diese Krise in 100 oder 200 Jahren gelöst haben werden? Soviel Zeit bleibt nicht. In 60, 70 Jahren wird die Temperatur auf der Erde so weit gestiegen sein, dass die Wälder verschwinden und alle Polkappen schmelzen. Dieser Platz hier, an dem wir gerade sitzen, wird aufhören zu existieren. Es reicht nicht mehr, mit der Hand in die Speichen zu greifen. Es reicht nicht mehr. Aber entschuldige, ich bin abgeschweift. Wahrscheinlich habe ich mich ziemlich deprimiert angehört. Ergab das, was ich da eben gesagt habe, wenigsten irgendeinen Sinn?
Albumkritik S. 103
www.antonyandthejohnsons.com