Jethro Tull
Da sitzt er nun in der Luxussuite des Hamburger Plaza-Hotels und starrt auf seinen geschwollenen Fuß. "Ich bin wütend und deprimiert wegen dieses dummen Unfalls", schimpft Ian Anderson (27), Chef, Flötenbläser und Sänger von Jethro Tüll. "Es passierte am Mittwoch in Kiel. Ich bin auf der Bühne der Ostseehalle gestürzt und habe mir den Fuß verstaucht. Jetzt kann ich nicht mehr laufen."
Der eilends herbeigerufene HSV-Arzt Dr. Fischer stellte fest: Mit dieser Verletzung darf Ian nicht auftreten. Also wurden fünf Konzerte abgesagt, die insgesamt 31.000 Zuschauer anlocken sollten. Erst am Montag, 7. März, wurde die 13-Konzerte-Tournee fortgesetzt.
„Ich weiß, wie enttäuscht die Leute waren, die am Donnerstag vergebens in die Congreßhalle in Hamburg kamen. Es ist wirklich nicht meine Art. irgend jemand zu verladen. Deshalb haben wir auch ein kleines Wunder vollbracht: Bereits einen Tag nach meinem Unfall konnten wir unseren Fans neue Termine bekanntgeben.“ Das ist in der Tat ungewöhnlich fair.
„Skandale gibt es bei mir nicht“
..Ich habe mein Publikum immer korrekt bedient. In meiner ganzen Laufbahn habe ich erst zweimal krankgefeiert.“ Anderson hockt niedergeschlagen in seinem Rollstuhl. Selbst die starken Zigaretten, die er in schneller Folge raucht, führt er auf eine disziplinierte Art zum Mund.
„Ich bin immer pünktlich und zuverlässig. Skandale gibt es bei mir nicht. Ich nehme keine Drogen, ich bin nie betrunken. Und Hotels demoliere ich auch nicht, wie einige berühmte Kollegen.“
ME: „Dafür wird euch nachgesagt, daß ihr überempfindlich seid, wenn die Presse an eurer Weltklasse zweifelt. Es hieß, wegen der schlechten Pressekritiken zu der LP „Passion Play“ wolltet ihr ganz aus dem Geschäft aussteigen. Und als ihr dann nach einer Pause wieder auf die Bühne kamt, hieß es, ihr hättet euch mit eurem voreiligen Rücktritt nur wichtig machen wollen.“
„Daß ich aussteige, war eine Erfindung.“
Ian: Das hahe ich auch gelesen. Es gibt da ein paar Schreiber, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann. Die sind für solchen Unsinn verantwortlich. Tatsache ist. daß ich wegen der Kritiken sauer war. Da schreiben Leute, die uns von vorne herein langweilig finden. Daß ich deswegen aussteige, war eine Erfindung. Ich sagte damals, im Herbst 1973, nur: „Wir haben weiter keine Tourneepläne“. Denn wir machen nach jeder großen Konzertsaison ein halbes Jahr Pause, um eine neue LP aufzunehmen. In diesem Fall hatten wir neun Monate ausgesetzt. Und haben dann unsere neue Schau vorgestellt. Und die LP „Warchild“. Das ist alles. Der Rest ist reine Wichtigtuerei der Zeitungsleute.“
lan Anderson hat sich bei diesem Thema mächtig erhitzt. In jedem Land, in das ihn die ausverkauften Tull-Tourneen führen, beschränkt er die Gespräche mit den Medien auf ein unvermeidliches Mindestmaß. Wir durften uns glücklich preisen, daß uns der Meister überhaupt sein Ohr lieh. Aber wenn Ian „mal den Mund aufgetan hat, schließt er ihn so schnell nicht wieder. Er ist der geborene Festredner. Gib ihm ein Stichwort und er hüpft locker von einem Thema zum nächsten, immer witzig, immer intelligent. Und mit einer entwaffnenden Offenheit.
„Jede Europa-Tournee ist ein Verlustgeschäft“
Eine der wenigen Fragen, die wir in Ians nie versiegenden Redefluß einschieben konnten, war die:
ME: Jethro Tull gehört zu den vier Topbands der Welt – neben den Who, den Stones und Led Zeppelin. Zu dieser Tournee werden 84.500 Leute erwartet. Im Rahmen der vorangegangenen Amerikatournee sind 92.000 Fans zu Euren fünf ausverkauften Shows im Forum von Los Angeles angetreten. Was macht Ihr mit dem ganzen Kleingeld?“ [an ist sichtlich verblüfft. Er nimmt sogar seine grüngetönte Sonnenbrille ab („Ich habe schlechte Augen von den Blitzlichtern“) und schaut mir scharf in die Augen: „Jede Europatournee ist ein Verlustgeschäft. Wir machen das nur. weil wir gerne für die Leute hier spielen. Aber verdienen können wir nur in Amerika.“
„Mir persönlich bedeutet Geld wenig“
„Unsere Ausgaben schlucken Dreiviertel der Einnahmen. Vom Rest verlangt die englische Steuer 83 Prozent. Deshalb ziehen doch viele Bands ins steuergünstige Amerika. Aber wir bleiben in England, weil wir uns da wohl fühlen. Mir persönlich bedeutet Geld wenig. Ich habe nicht mal eine eigene Wohnung, geschweige denn ein feudales Haus auf dem Lande. Obwohl ich manchmal glaube, da könnte ich in Ruhe komponieren und nachdenken.“
„Ich wohne immer im Hotel. Es klingt vielleicht etwas anspruchslos, aber was ich brauche, bringt mir der Etagenkellner. Mein ganzer Besitz besteht aus drei Motorrädern und einem Koffer. Nein halt, gerade habe ich mir in New York einen zweiten Koffer für 270 DM gekauft. Den habe ich im Büro meines Managers abgestellt. Ich habe auch kein Auto oder einen Fernseher. Mein Geld stecke ich immer wieder in meine Arbeit.“
Filme zu Tull-Musik auf Videokassetten
„Mein neuestes Projekt ist folgendes: Ich habe eine kleine Filmfirma, die Filme zu unserer Musik herstellen soll. Ich führe die Oberaufsicht, denn sonst wird es doch nichts. Was mir vorschwebt, ist ein Film mit eigener Handlung, der gleichberechtigt neben „Warschild“ steht. Also keine Filmuntermalung. Diese Filme sollen als Videokassetten vertrieben werden. Die Bildplatte, die gerade in Deutschland anrollt, halte ich qualitativ für ungeeignet.“
Alle Jethro Tull-Titel entstanden im Hotelzimmer
ME: „Wo erledigst du denn all diese Arbeiten?“
lan: „Na, im Hotel. In meinem Zimmer habe ich sämtliche Jethro Tull-Titel komponiert. Ich kann mich überall konzentrieren. Und ich liefere immer ausgereifte, erstklassige Arbeit ab. Wenn mir ‚mal nichts einfällt, lese ich Krimis oder Science Fiction. Alles, was man auf dem Flughafen kaufen kann. Eine Freundin habe ich nicht – sonst hätte ich vielleicht eine Wohnung. Aber meine guten Freunde sind immer mit mir auf Achse. Es sind die Jungs von der Band.“
D«n Freundschaftsbeweis erbringt lan täglich. Obwohl er der Komponist und die herausragende Figur in der Gruppe ist, wird das Geld demokratisch durch fünf geteilt. John Evans (Tasteninstrumente), Martin Barre (Gitarre), Jeffrey Hammond (Baß) und Barriemore Barlow (Schlagzeug) sind auf der Bühne exzellente Musiker. Aber sonst wird man kaum von ihnen einen Ton hören. lan gestaltet Interviews und Plattenhüllen, und er „hat keinen Beweis dafür, daß sie in einem Monat 40 Minuten Musik zustande brächten, die man auf Platte herausbringen könnte. Ihre musikalischen Beiträge sind verschwindend klein.“
Natürlich ist auch „Warschild“, TulI-LP Nr. 8, auf Andersons Mist gewachsen. Sie ist, genau wie“Thick As A Brick“ und „Passion Play“, ein Konzeptalbum. Die Handlung? „Ein kleines Mädchen kommt bei einem Autounfall um. Lebt aber nach ihrem Tode weiter“, erläutert lan. „Aber der Grundgedanke ist: Ich will darstellen, daß jeder Mensch animalisch ist, mit Aggressionen ausgerüstet, die er in die richtigen Bahnen lenken muß. So wie ich das tue.“ Das klingt ja etwas zusammenhanglos, aber der beredte Dichter bekommt die Geschichte nicht besser zusammen.
ME: „Eine letzte Frage: Du trägst eine wilde Mähne, einen Ziegenbart und einen Ohrring. Warum?
lan: „Ohne sehe ich furchtbar aus. Es ist für mich die beste Art, bedeutend auszusehen.“