Ländliche Idylle trotz Sturmtief: Das Appletree Garden Festival 2015 im Rückblick


Hippieske Stimmung irgendwo im Nirgendwo: Seit 15 Jahren bespielen Bands vor knapp 5000 Besuchern eine kleine Waldlichtung im niedersächsischen Diepholz. Das beschauliche Festival kam bis zuletzt sogar ohne Müllpfand und Duschen aus. In diesem Jahr ist das ein wenig anders - die Atmosphäre bleibt aber ganz die alte.

Appletree Garden Festival 2015, Tag 1

Ganze vier Slots bleiben im Zeitplan des diesjährigen Appletree Garden Festivals ein lang gehütetes Geheimnis. Eines, das bei Erhalt des abgedruckten Programmheftchens gleich zu Beginn fast vollständig ausgeplaudert wird: Mighty Oaks, Friska Viljor und Darwin Deez sind drei der vier Secret Acts. Und der letzte? Der soll auch an dieser Stelle noch nicht verraten werden.

Am Donnerstag herrscht durchgehende Anreisestimmung. Weshalb der Zeitplan mit fünf Bands eine abgespeckte Version des restlichen Wochenendes ist. Glücklich sind diejenigen, die sich schon früh auf den Weg nach Diepholz machen können, um einen guten Autostell- und Campingplatz zu ergattern. Wer erst nach der Arbeit losfährt, bekommt schnell Probleme. Und verpasst womöglich Reptile Youth, die neben Mighty Oaks für viele das vorzeitige Festival-Highlight sind. Dass man den Tag aber nicht vor dem Abend loben soll, beweisen Weval. Die niederländischen DJs bringen das gesamte Gelände zum Beben. Diejenigen, die zum ersten Mal dabei sind, merken spätestens jetzt: Selten spielen sich Ton- und Lichttechnik so überzeugend die Bälle zu wie beim Appletree Garden Festival.

 Appletree Garden Festival 2015, Tag 2

Die Festivalbesucher schälen sich nach einer kurzen Nacht (auf dem Campingplatz sorgt eine Gruppe mit Kleinbus und dicker Soundanlage für ungefragte Dauerbeschallung) aus ihren Zelten und freuen sich über das gute Wetter. Die meisten zieht es in das örtliche Freibad, in dem man dank Festivalbändchen kostenlos schwimmen darf, andere nutzen die neu eingeführten Duschmarken, um sich ein Stück Menschlichkeit zurückzuholen.

Musikalisch beginnt der Freitag für viele mit Jesper Munk, dem hochgelobten Blues-Rock-Boy aus München, der die Wahrnehmungsorgane gehörig auf die Probe stellt: Wie kann dieser jugendlich anmutende 23-Jährige so rotzig und verbraucht klingen? Nur schwer geht zusammen, was Augen und Ohren beobachten. Bei Max Colombie, Sänger von Oscar And The Wolf, ist es ein paar Stunden später ähnlich. Dass seine Stimme tatsächlich so zart ist wie es das Debütalbum Entity verspricht, kann man bei seinem lässigen Auftritt kaum glauben. Das Publikum vor der Mainstage ist angefixt und auf diese Weise bestens auf Wanda vorbereitet.

Marco Michael Wanda gibt sich voll und ganz hin. Er wirft sich wie so oft auf den Bühnenboden, stagedived zu einem hochgehaltenen Flachmann mit Jägermeisterfüllung und liebkost die Menschen mit seinem Hüftschwung. Da sorgt der darauf folgende Auftritt von Aurora leider für ein kleines Stimmungstief. Aber: Erlend Øye reißt das Ruder sofort wieder rum und verbreitet beste, sommerliche Festivalstimmung. Er tanzt mit einem aus der Menge angereichten Staubwedel, trägt einen Blumenkranz, der bald den Flug in die Hände eines glücklichen Besuchers antritt, und sorgt bei „La Prima Estate“ dafür, dass man sich nach einem zweiten Soloalbum, diesmal aber bitte auf Italienisch, sehnt. Nostalgisch wird es, als Øye zum Schluss „1517“ von Whitest Boy Alive performt. Die Menschen liegen sich in den Armen.

The Acid wandeln die Wehmut anschließend in Tanzwut um. Ry X und seine Bandkollegen haben nur wenig Zeit, um ihr Set aufzubauen. Sie kommen gerade aus Budapest und wollen eigentlich nur duschen gehen und endlich etwas Vernünftiges essen. Anmerken lassen sie sich diese unangenehmen Umstände aber nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt ist es sogar trocken geblieben. Erste Regentropfen nieseln beim Auftritt von Annenmaykantereit auf die Erde herab. Es ist beinahe Mitternacht und das Areal war zu keinem Zeitpunkt voller als jetzt. Die Songs der Kölner Band werden voller Inbrunst mitgesungen, vielleicht, weil sie mit ihren Texten, denen der Begriff des Trivialen auf gut gemeinte Weise innewohnt, eine ganze Generation junger Menschen anspricht.

Der Regen wird stärker. Es gewittert. Die Besucher retten sich unter die Bäume, die Künstler und Mitarbeiter in den Backstage-Bereich. Das schönste Bild der Nacht: Erlend Øye steht pfeifend gen Himmel blickend im Türrahmen des Verpflegungshäuschens. Dieser Mann ist die personifizierte Ausgeglichenheit. Ry X spült die Schlechtwetterfront zeitgleich mit Absinth herunter. Der Freitag geht mit der Einsicht, dass er der musikalisch mit Abstand stärkste des ganzen Festivals ist, zu Ende.