Die 50 geilsten Songs des Jahres 2024 – laut Linus Volkmann
Die 50 großartigsten Stücke eines anstrengenden Jahres. Eine kommentierte Hitliste – handverlesen von Linus Volkmann.
Kennen auch andere eigentlich diesen einen Gedanken, wenn sich vor ihnen die grellen Slides des alldezemberlichen Spotify Wrapped entblättern? Er geht so: „Oh, Gott! Das hier darf auf keinen Fall jemand jemals in die Finger bekommen!!!!“ Die Klagen allerorts lassen mich kalt, wie lahm es wäre, sein Wrapped auf Social Media auszustellen. Ich wünsche viel mehr, ich müsste der Versuchung widerstehen, diese personalisierte Gratis-Werbung für den unsympathischen Streamingdienst zu teilen. Aber was sollen die Leute denken! Daher vergewissere ich mich, dass bloß niemand hinter mir steht, wenn ich mir diesen Car Crash der gegen meinen Willen erfolgten Datensammlung anschaue. In meinem Kopf versuchen beruhigende Stimmen zu schlichten: „Ach, Du benutzt Spotify doch kaum“, sage ich mir. „Du hast eigentlich einen viel besseren Musikgeschmack, als bloß diese Grindcore-Alben, die du immer im Zug komplett durchhörst, wenn du dich wieder via Audio von den unangenehmen Mitreisenden dissoziieren willst.“ Naja, mein Wort in Gottes Ohr und Spotifys Wrapped Anus.
Auf jeden Fall bin ich sehr froh, euch hier nun die wirkliche wahre Geschichte des Pop-Jahres 2024 in 50+1 Song erzählen zu dürfen. Meine Lieblings-Stücke des mal wieder schwierigen Jahres – hier für euch zum Nachsingen, -fühlen, -weinen, -tanzen. Auch aufbereitet als Spotify-Playlist. What an irony. Viel Glück hiermit, ich riech‘ euch später.
50+1 Tomte – „In Köln und dann in meinem Zimmer“
Der Song ist so alt wie die D-Mark, aber da Thees Uhlmann dieses Jahr eine epische „Best Of“ veröffentlicht hat, kann man das Stück als Bonustrack ja wohl gelten lassen. Ich habe „In Köln und dann in meinem Zimmer“ in den Neunzigern in Köln gehört und war instant verliebt. Es war das erste, was ich von diesen Vögeln von Tomte (noch in der Hemmoor-Besetzung) je gehört hatte. Bestechend kurz (1:40), dringlich und emo. Ein wunderbarer Auftakt für diese Liste hier. Also Leute, was ist los, habt ihr Bock?!
50 Lola Young – „Messy“
Okay, dann nimmt die Abrechnung mit dem nächsten Katastrophenjahr in Reihe ihren Ausgang: Lola Young aus London hat eine Hymne geschrieben darüber, im Alltag eine Katastrophe für sich und andere zu sein. Und spätestens wenn sie singt „I pull a Britney every other week“, fühle ich mich mehr gemeint, als mir lieb ist. Tolles Stück zwischen Empowerment und Selbstanzeige.
49 Finch x SDP × Phil The Beat – „Abenteuerland“
In einer unheiligen Zeremonie wird der Auffahrunfall-Song „Abenteuerland“ von Pur im durchgebassten 90s-Sound zu neuem Leben verhext. „Friedhof der Kuscheltiere“ von Stephen King war dagegen noch Familienunterhaltung. Ein satanischer Banger für alle, die ab 1,5 Promille gern noch mal die YouTube-Disco aufschließen.
48 Lyschko – „Ein letztes bisschen Leben“
Ich weiß nicht, ob das so sein soll, aber die Stimme von Lina Holzrichter gibt mir verbotene Flashbacks auf jene von Ina Deter („Neue Männer braucht das Land“). Lyschko besitzen überhaupt so eine Achtziger-Deutschrock-Atmo, dass ich bei ihnen oft denke: Ach, es war ja auch nicht alles schlecht unter Klaus Lage. Liegt vermutlich daran, dass die Solinger Band diese Art Sound in einem sehr zeitgemäßen Neo-New-Wave frittiert hat. Worauf ich hinaus will: Klingt im Ergebnis wirklich verdammt unique – und ich liebe es.
47 Peppone – „Du kannst mich morgen“
Auch wenn es die Band mit Magdeburg-Hintergrund schon ewig gibt, deuten die Klickzahlen auf YouTube darauf hin, dass ich sie nicht als bekannt voraussetzen sollte. Peppone machen Understatement-Powerpop, der an Love A oder grafzahl erinnert. Wenn euch auch diese Namen fremd sein sollten, hört erst recht hier mal rein. Ich mag das Tröstliche in diesem Stück, in diesen Zeilen. Ein Song, der will, dass man sich nicht dauernd wegen FOMO fertig macht.
46 Vampire Weekend – „Capricorn“
Ich habe keine Ahnung von verträumter Hippiemusik, ich habe keinen Plan vom Sommer der Liebe 1967 – aber ungefähr so stelle ich mir beides vor. Auf „Capricorn“ mag ich vor allem diesen kiffigen Percussion-Overload und vor allem diese wohlwollende Stimmung.
45 Tränen – „Ich bin nicht berühmt“
Ich will ehrlich mit euch sein. An dieser Stelle hatte ich eigentlich eine andere Band, einen anderen Song, der hat mir aber dann doch nicht mehr so gut gefallen. Also habe ich ihn kurzerhand getauscht, denn diese Woche erst erschien ein Clip zu einem neuen Song des zauberhaften Duos Tränen: „Ich bin nicht berühmt“. Fühle ich sehr, besonders die Zeile „Die Welt steht nur auf einem Fuß / kann ich sie am Fallen hindern?“ Glaube ich doch auch selbst immer, ich müsse verlorenes Gleichgewicht überall austarieren – und wie lost allein der Gedanke beziehungsweise der damit einhergehende Druck ist, oder? Bei Tränen jedenfalls treffe ich auf Verständnis. Das Stück müsste streng genommen höher im Ranking stehen, aber ich hatte keinen anderen Platz mehr frei. Bin froh, dass es überhaupt noch drin ist. Enjoy.
44 Chris Imler – „The Internet Will Break My Heart“
Chris Imler ist gleichermaßen niedlich, genial, saucool – aber auch irgendwie präsidial. Auf ihn können sich – zumindest in vernünftigen Bubbles – stets am Ende alle einigen. 2025 kommt sein neues Album. Hiermit geht es schon mal sehr gut los.
43 Ja, Panik – „LOST“
Das dazugehörige Album DON’T PLAY WITH THE RICH KIDS Anfang 2024 ging ein wenig unter, oder täusche ich mich? Wie schade. Die freewheelin‘ Post-Hype-Phase von Ja, Panik hat damit nämlich einen neuen Höhepunkt erreicht. Blicke hinter den Horizont, Traumdeutung, Müdigkeit und Ekstase. Alles auch bereits vereint in dem Stück „LOST“.
42 Berq – „Mein Hass tritt dir die Haustür ein“
Ich mag Tristan Brusch und diese unmittelbare Art, wie einen bei den Balladen von Faber einen die Stimme anspricht, fast anflüstert. Alles viel zu nah – und ich lasse alles gern viel zu nah an mich ran. Daher werde ich auch von diesem infernalisch theatralischen Stück von Berq aufgestaubsaugt.
41 MGMT – „Bubblegum Dog“
MGMT? Das war der Song „Kids“, das war doch 2007, also bald 20 Jahre her?! Stimmt, bloß nach dem großen Knall ging das Leben und die Musik für die Band weiter. Wer es nicht weiß, MGMT machen im Schatten des lange verstrichenen Welterfolgs immer noch supersmarten Indie mit Herz. Und – wie man auch hier sieht – immer noch mit großem Wert auf die visuelle Untermalung.
40 Stress – „German Vollgas“
Pissiger Punk, der den Eindruck aufkommen lässt, er wurde auf einem hereinbrechenden Speed-Kater im Morgengrauen geschrieben. Also da gibt es Musik, die ist weiter von meinem Lebensgefühl weg.
39 Schwesta Ebra – „Bär > Mann“
Ein hypnotisches Stück auf Autotune-Vibes, das aus einem Social-Media-Meme über Männergewalt einen Banger morpht. Wenn ich diesen Satz meiner Mutter vorlesen würde, sie würde ihn safe nicht verstehen. Außer die Sache mit der Männergewalt. Denn das ist generationsübergreifender Upfuck. Die Wienerin Schwesta Ebra macht hier noch das Beste draus. Einen Hit.
38 Die Arschlöcherinnen – „Läuft bei mir“
Der Aufstieg von queerfeministischem Pop hat auch den Weg geebnet, dass Periodensongs schon fast ein eigenes Genre darstellen könnten. Blonds „Es könnte gerade nicht schöner sein“ oder auch Gigolo Tears mit „Cramps“ … Oder dieses Jahr besonders explizit wie auch eingängig: „Läuft bei mir“ von dem Duo Die Arschlöcherinnen. Nürnberg represent!
37 Gas Wasser Indiepop – „20 Jahre in der Werbung“
Ich liebe diese vertonte Erschöpfung, diese hörbare Resignation. Und beides mündet trotzdem in ein Fanal fürs Weitermachen, denn hilft ja nix! Das ziehe jedenfalls ich aus diesem Song der Band aus Kiel. Wenn andere begeistert applaudierten, als Posh Spice und David Beckham sich gepaart haben, freue ich mich eher darüber, dass sich hier Mitglieder von Die Bullen und Keine Zähne im Maul aber LaPaloma pfeifen zusammengefunden haben.
36 KOKOKO! – „Moklili“
Raus aus dem permanenten Halbschlaf, hier kommt Bewegung in die Liste. Als würde man auf die Tanzfläche geschubst und sich aber nicht drüber ärgern sondern bloß denken, „JAOK, bei diesem Stück hab‘ ich wirklich Bock!“ KOKOKO! stammen aus der Republik Kongo und haben schon paar Kilometer zurückgelegt. Ich habe es allerdings erst mit der diesjährigen Platte gerafft. Egal. Pop ist wie Flix-Bus: Hauptsache man ist erstmal drinnen.
35 Brigitte Calls Me Baby – „The Future Is Our Way Out“
Ich möchte für euch auch nicht nur der Typ sein, der vornehmlich queere, linksradikale, deutschsprachige Power-Sauf-Hits channelt. Zum Glück gibt es im Rezensionsteil des Musikexpress die Rubrik „Krieg der Sterne“. Da muss man als Mitarbeiter:in jeden Monat ein Dutzend aktueller Alben hören und bewerten. Der zuständige Redakteur nimmt bei der Plattenauswahl quasi gar keine Rücksicht auf meine notorische German-Pop-Fokussierung. So stoße ich zwangsläufig auf viel internationale Acts – und was soll ich sagen? – geschadet hat es mir nicht. Ich kann viel eher nun zum Beispiel diese Band empfehlen. Irgendwo zwischen The Smiths und den Killers. Crooner-Pop, bei dem man sich intuitiv die beiden obersten Hemdknöpfe öffnen möchte.
34 Lena Stoehrfaktor – „Beton auf der Zunge“
Lena Stoehrfaktor habe ich zum ersten Mal live gesehen dieses Jahr in Leipzig – und zwar bei dem hinreißenden Emo-Birthday-Bash zu Ehren von 25 Jahre Mrs. Pepstein (Radioshow und Person). Seitdem gräme ich mich, dass ich hinsichtlich Lena zwar immer dachte, sie sei eine verdiente Akteurin, die Rap schon seit Ende der Nullerjahre nicht den ganzen Typen-Dullis überlassen wollte – aber ich dachte auch, dass ihre Kunst heute arg Old School wäre. Was soll ich sagen? Es stimmt! Aber Old School in diesem geilen Sinne: Lena performt, vom Laptop kommen die Sounds und jemand spielt echte Drums. Ganz viel Groove, super tight und, sorry für den nächsten Anglizismus, larger than life.
Ich plane, 2025 einige Fehler zu wiederholen, aber Lena Stoehrfaktor zu unterschätzen, gehört garantiert nicht dazu. Nach der Show habe ich ein T-Shirt gekauft, seht mich darin nächstes Frühjahr begeistert rumlaufen!
33 John Grant – „Father“
John Grant war früher mal bei The Czars, wer die noch kennt, und kommt aus den USA. So viel zu den minimalen journalistischen Basics meiner Liste hier. Darüber hinaus sei gesagt: Wofür ich stets einen Soft Spot habe … Storytelling-Pop, in dem es um das verkorkste Verhältnis zur eigenen Familie beziehungsweise in diesem Fall zum Vater geht. Allein aber auch schon dieser Sound und diese Stimmung von dem Stück… Gebt euch!
32 Porridge Radio – „Anybody“
Und noch mehr ausagierte Sehnsucht. Vielleicht sollte ich mal in mich reinhorchen, warum ich dieses Jahr gerade an diesen verzweifelten Stücken getragen von schwermütiger Grandezza hängengeblieben bin. Ach, aber man kann es sich doch eh schon denken …
31 Jacques Palminger und das 440 Hertz Trio – „Ich bin kein Roboter“
Jacques Palminger, das ist Joker von Studio Braun (Rocko Schamoni, Heinz Strunk und er). Im Gegensatz zu seinen beiden emsigen Kollegen scheint Palminger entrückt und eher sporadisch einfach bloß geile spleenige Kunst machen zu können. Aber irgendwie hat er sich auch damit über die Jahrzehnte recht weit hochgeknabbert. Umarmt mit mir seine aktuelle Ausformung destilliert in diesem Song und Clip.
30 Sorry 3000 – „Hinterm Kreissel“
Unsere Goldstücke aus Halle an der Saale haben weiter Melancholie in ihren verschmitzten Electro-Pop verwoben. Danke für alles und darüber hinaus. Jetzt dranbleiben, Leute! Das bürgerliche Leben ist doch nichts für euch.
29 Mina Richman – „Baba Said“
Schon 2022 hat dieses Stück Mina Richman viel Aufmerksamkeit beschert. In die Verzweiflung nach dem Mord an Jina Amini durch die iranische Sittenpolizei wurde „Baba Said“ zu einem viralen Hit. Also Teil des Soundtracks dazu, wie das misogyne Mullah-Regime wankte unter der Protesten – vornehmlich von jungen Frauen. Der Struggle dauert bis heute an und dieses Jahr erschien das Stück dann auch noch mal auf dem sehr hörenswerten Debüt-Album GROWN UP von Mina Richman.
28 Mine – „Ich weiß es nicht“
Dass Mine schier unaufhaltsam zu einer immer zentraleren Figur im hiesigen Musikzirkus wird, stimmt mich fast etwas versöhnlich mit „dem Markt“. Aber wie könnte das hier auch nicht verfangen? Großer Pop, der bei aller Panoramahaftigkeit nie das Intime einbüßt.
27 Jenny Thiele – „Loonie“
Für mich einer der Ohrwürmer des Jahres. Während ich das hier schreibe, hat mein Hirn schon wieder die Nadel aufgelegt … Loooooonieeee. Herrje, das werde ich die nächsten Stunden (Wochen?) nicht mehr los. Zum Glück bin ich dem hinreißenden Pophandwerk von Jenny (ehemals bei Fortuna Ehrenfeld) eh verfallen. Das hier hat man gern auf den Lippen. Nächstes Jahr kommt dann ihr erstes Solo-Album auf Deutsch. Just saying!
26 Noga Erez – „Vandalist“
„I sleep with one eye open / My shoes always on“. Wie viel Atmosphäre passt in drei Minuten Song? Die in Tel Aviv geborene Songwriterin hat es ausgereizt. Hymnischer Flüster-Pop.
25 Disastar x Jugglerz – „Regenjacke“
Conscious-Rap mit wirklich null Prozent Pädagogen-Swag – dafür mit einem der mitreißendsten Refrains im Sprechgesang-Gehubere der Gegenwart. Lasst euch diesen Song nicht entgehen, ich sag’s euch im Guten!
24 Joachim Franz Büchner – „Force of Nature“
Wenn Welt und Zivilisation so wanken wie in diesem Jahrzehnt, sollte man sich besinnen auf Panik, Verzweiflung und Love. Letzteres besingt Joachim Franz Büchner aus Hamburg hier wirklich wunderschön. Man kann für die Dauer des Songs die Panik und die Verzweiflung abschütteln. Danke dafür!
23 International Music – „Guter Ort“
Dieses Jahr hätte ich das Magier-Trio International Music moderieren dürfen. Bei meiner aufgekratzten alljährlichen Talkshow auf dem Festival Nürnberg Pop. Dort hätte ich ihnen gesagt, wie gut mir ihre neue Platte gefällt und ihnen freundlich übers Haar gestrichen. Leider hatte ich Corona und die Sache musste ausfallen.
Dann sag ich es eben hier: Hört mehr International Music! Zum Beispiel dieses Stück.
22 Lampe – „Kaputt optimiert“
Immer wenn ich fürchte, das Licht seiner Band ist verloschen, knipst sich Tilman, alias Lampe, dann doch wieder selbst an. Glück gehabt! Sein neues Album erschien auf seinem eigenen Label und ist fantastisch und das sage ich auch, weil ich glaube, das hat sich noch kaum rumgesprochen. Mein Vorschlag: Hört doch mal „Kaputt optimiert“ und dann „Meetings“ und dann werdet ihr schon wissen, wie ihr zu diesem nagetierigen Nerd-Songwriter steht.
21 Antilopen Gang – „Der Romantische Mann“
Auf dem diesjährigen Antilopen-Doppelalbum ALLES MUSS REPARIERT WERDEN findet sich auch von jedem der drei bärtigen Köstlichkeiten ein (quasi) Solo-Punksong. Alle drei sind schön, aber Panik Panzer kommt mit seinem vermeintlichen Sidekick-Swag wieder so hart sympathisch rein, dass man sich von ihm einfach die Rosen schenken lassen möchte.
20 Kettcar – „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs“
„Was ist bitte mit Wiebusch los? So intense kann doch eigentlich niemand texten.“ Das Stück von der Kettcar-Platte aus diesem Jahr stellt sich einem Selbstverhör. Was soll man sagen? Ein Songtext, als würde man sich ritzen. Mit dieser Textidee am Ende nicht von den Meeren des Pathos, der Heulerei oder der Beschönigung verschlungen zu werden, ist eine nicht hoch genug zu schätzende Leistung.
19 Pöbel MC – „90sOST“
Für mich steckt hier eine DER Zeilen des Jahres drinnen. Ich habe sie meinem Lover Kwittiseeds allzu oft nachts, wenn es am Glas hoch herging, vorgespielt und wiederholt und wiederholt.
„Hippie-Bonzen-Schnösel belächeln gerne Ehrgeiz / Ich grüße alle, die hustlen, weil ihnen niemand was hinterherschmeißt“
Fühle ich halt sehr. Denn dass ich viele Texte schreibe, viele Veranstaltung mache, hat auch damit zu tun, dass ich meine kleine Ich-AG am Laufen halten will, weil sie mich unabhängig macht. Für Popkulturtexte fließt nicht viel Geld – also musst du viel Content aufstellen, damit unterm Strich was hängenbleibt. Ich grüße alle, die auch hustlen und denen keiner was hinterschmeißt.
18 H.i.T. – „Velvet Concrete Park“
Bremen setzt zum Sprung an. Mit diesem glamourösen Rotz-Act um Tightill und Makrelelele (von den Power Suff Girls) sollte sich das nächste Punk-Märchen der verarmten Hansestadt erfüllen. Nehmt schon mal einen guten Platz ein, bevor der Hype-Train richtig losrollt. Das Potential ist auf jeden Fall da, man hört und sieht’s ja.
17 Team Scheisse – „Mittelfinger“
Apropos: Bremen komm mal lecker unten bei mich bei oi … Wer hat Punkrock die letzten Jahre so richtig einen mitgegeben und die mitunter bierig drögen Verhältnisse dort zum Tanzen oder auch mal zum Motzen gebracht? Genau: Team Scheisse. Die stehen dieser Tage am Fuße einer neuen, ihrer dritten Platte. 2024 konnte man schon mal reinhören mit „Mittelfinger“. Knaller – und auch das dazugehörige Video.
16 LASSO – „Der letzte Ritt nach Santa Fe“
Dieser Mann ist eigentlich Journalist. Mit seinem Rant bei den Kolleg:innen des Rolling Stone, „Eine Fischvergiftung namens Wanda“, ist Wolfgang Zechner vor zehn Jahren schon mal ziemlich bekannt geworden – am Stift wohlgemerkt. Dass der Wiener mit Graz-Hintergrund auch selbst Songs schreiben kann, hat mich erstaunt. Was kann der Typ denn bitte noch alles? Von wegen alle Kritiker seien eigentlich gescheiterte Musiker, der hier macht es nach Feierabend einfach mal aus Bock besser als die Profis. „Der letzte Ritt nach Santa Fe“ besitzt dabei etwas von „El Cativo“ aus der ganz frühen Zeit von Die Ärzte.
15 Bierbabes feat. Yung FSK18 – „Horny am Handy“
Für mich zwei Entdeckungen dieses Jahr: Bierbabes und Yung FSK18. Wie viele Acts der Jetztzeit geht es bei ihnen gar nicht mehr so um „das Album“, sondern es erscheinen immer wieder einzelne Songs. Ich habe mir diesen hier gepickt, weil gerade das Team-Up die Qualitäten von beiden ausstellt. Man hätte sich aber auch für etwas anderes entscheiden können. Hier ist einfach alles geil, was soll ich noch sagen?
14 Akne Kid Joe – „50/50“
Akne Kid Joe machen das konstante Veröffentlichen, um den Algorithmus der Streamingdienste bei Laune zu halten, nicht mit. Zur neuen Platte 4 VON 5 haben sie sich zudem auch nur ein Video gegönnt. Dafür legt die freche Punkgruppe aus Franken ihren Fokus auf Live-Konzerte. Akne Kid Joe on tour, Akne Kid Joe in deinen Armen, Akne Kid Joe überall. Starke Platte, tolles neues und einziges Video dazu: „50/50“.
13 Finna x AINIE – „Stürmen Herzen“
„Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat“: Wie kann es sein, dass dieser Killerdreiklang bis jetzt noch unbesungen war? Finna und AINIE haben auf jeden Fall gut daran getan, das 2024 zu ändern. Eine Hymne zum feministischen Kampftag im März, die zufällig aber auch jeden anderen Tag ihre Gültigkeit besitzt.
12 Stefanie Schrank – „Schlachtrufe BRD“
Stefanie Schrank von unter anderem Locas In Love erzählt so persönlich wie beiläufig ihre ganz faszinierende biographische Verstrickung mit dem großen Punksampler-Phänomen der 80er und 90er Jahre.
11 Gwen Dolyn – „Ertrinken“
Vergangenes Jahr war das Jahr von dem knuffig stacheligen Duo Tränen. Hierbei handelt es sich um Gwen Dolyn (West) und Steffen Israel (Ost). Gwen hat ohne großes Atemholen nun auch dieses Jahr an ihre Kunst gehängt. Diesmal in Form eines neuen Solo-Albums. Eine dramatische Sammlung von Songs, die dich in ein paar Minuten aufbauen und wieder einreißen. Oversharing-Pop at its best.
10 Fritzi Ernst – „Ich steh im Bett“
Schlagt mich kaputt, aber Songs über Songschreiben finde ich gemeinhin superdröge. Das hat was von Alben, die auf endlosen Touren geschrieben werden und dann immer irgendwie von Hotelzimmern handeln. Aber Fritzi Ernst hat diesen Auffahrunfall elegant umfahren und stattdessen dem Gefühl, immer produktiv sein zu wollen/müssen einen manischen Liebesbrief geschrieben.
09 ARRX – „Good Boy“
Queerfeministischer Britpop auf Beats, der immer wieder an die Spätphase von (auch ein Duo) Tegan & Sara erinnert. Dazu viel Hunde-Content im Clip. Bellt einfach mit.
08 Äffchen & Craigs feat. Texta – „Bei uns daham“
Das ist auf jeden Fall auch so ein Geheimtipp dieser brisanten Liste. Denn den Act verfolge ich eher zufällig, weil mir vor Jahren mal was gefiel. Zum Glück! Sonst hätte ich das hier verpasst. Kauziger aber auch sehr pointierter Austropop, der wirklich was zu erzählen hat – in Wort und Bild.
07 Yu – „Nazis erschießen“
Electro-Clash next generation. Ziemlich beeindruckend natürlich erstmal mit einem so offensiven Claim wie „Nazis erschießen“ rauszugehen. Aber das hier ist keine stumpfe Provo-Mackerei, das fühlt sich echt an. Und schenkt einem obendrauf noch die Zeile „Wir jagen Antisemiten“. Auch nicht mehr selbstverständlich im Antifa-Geklingel der Jetztzeit – und daher umso wichtiger.
06 The Ohohohs x Eline Le Menestrel – „Do It Eco“
Dieser Act stammt aus der Stadt, in der ich wohne, und doch fällt es mir schwer, ihn irgendwie dingfest zu machen. Was ich sagen kann: Es handelt sich um ein äußerst wandlungsfähiges Duo an der Grenze zum Pop-Chamäleon. The Ohohohs! spielen hybride, hochversierte Musik, die jede Tanzfläche zum Klingeln oder eher zum Kollaps bringen kann. Dieses Stück hier sei mein Zeuge.
05 Moonchild Sanelly – „Scrambled Eggs“
Mit „Future Ghetto Funk“ beschreibt die südafrikanische Künstlerin ihre Musik selbst und bringt auf jeden Fall schon mal in die richtige Richtung. Aber das ganze Ausmaß der Story wird erst klar, wenn man diesen Song gehört und das Video dazu geschaut hat. Wir sehen uns auf der anderen Seite … Nächstes Jahr erscheint ihre Platte FULL MOON, da ist übrigens ein Stück drauf, das mich mindestens genauso begeistert wie dieses hier. Das packe ich dann nächstes Jahr wieder in meine Charts. Freu mich schon drauf!
04 Gigolo Tears – „Loser“
All you can cry statt all you can eat. Gigolo Tears aus Berlin hat im November eine mit sieben Songs ziemliche umfangreiche EP veröffentlicht. Titel: HEUL DOCH – am Ende vielleicht sogar eine Reminiszenz an La Fee. Bestimmt sogar, denn bei dieser Platte stimmt einfach alles. Queerer Hyperpop mit viel Schmerz und Trotz. Gigolo Tears hat es uns dieses Jahren wirklich allen gezeigt. Meine Meinung!
03 Cat Burns – „Alone“
„Don’t wanna be a pessimist / but I’m getting kind of pissed at this“. Die Londonerin Cat Burns hat eine Hymne geschrieben, die mich nicht mehr loslässt. Das ist einfach Popmusik in Perfektion. Manchmal liebe ich meinen Job wirklich.
02 Gigolo Tears x Power Plush – „Hot Maus Summer“
Noch mal Gigolo Tears in den Top 5 dieser Liste. Tja, wer will was machen? Hier zusammen mit Power Plush aus Chemnitz. Bittersüß und sehnsüchtig. Hot Maus Summer = bester summer.
01 Antilopen Gang – „Oktober in Europa“
Ich habe lange mit mir gerungen, so einen Showstopper ganz oben in meine schöne Liste zu packen. Aber sorry, wenn das nicht für 2024 steht, wenn das nicht ein leider sehr wichtiger und alleinstehender Song ist, dann weiß ich es auch nicht. Scheiße, dass er nötig wurde. Danke an die Antilopen, dass sie ihn geschrieben haben und sich damit selbst dem Sturm dieser hateful times ausgesetzt haben.
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.