Interview

Jamie xx im Interview: „Wenn ich Musik höre, will ich Musik machen“


Jamie xx über die Nachdenklichkeit auf dem Dancefloor, die Bedeutung von LPs & neue Musik von The xx.

Neun Jahre Pause zwischen zwei Alben ist eine halbe Ewigkeit im Gegenwarts-Pop, der permanent nach Aufmerksamkeit schreit. Jamie xx ist das egal. Er lässt es ruhig angehen und veröffentlichte nun IN WAVES, sein zweites Soloalbum.

Jamie xx ist ein vielbeschäftigter Mann. In der Zeit, in der das Gespräch mit dem Musikexpress angesetzt ist, muss er zahllose weitere Interviews geben. Das Gespräch mit ihm wird mehrmals verschoben, auch an dem Tag, an dem es schließlich stattfindet. Der Künstler bittet artig um Entschuldigung. Aber wie sagte schon Tony Curtis zu Marilyn Monroe im Film „Manche mögen’s heiß“? „Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen …“

„Die Musik ist nur so aus mir herausgesprudelt“

ME: IN WAVES ist dein erstes Soloalbum nach neun Jahren. Wahrscheinlich wirst du in diesen Tagen öfter gefragt, weshalb du so lange für dein zweites Album gebraucht hast. Obwohl du ja sehr viele andere Dinge in der Zwischenzeit gemacht hast, mit The xx, Solo-Singles, DJ-Gigs und so weiter.

JAMIE XX: Ich glaube, ich habe erst einmal einen Grund dafür finden müssen, das Album überhaupt aufzunehmen. Ich habe einen Grund gesucht, um wieder etwas Eigenes zu machen. Als ich im Sommer 2018 von der Tour mit The xx anlässlich unseres dritten Albums I SEE YOU nach Hause zurückgekommen bin, ging ich anschließend gleich ins Studio und habe eine ganze Menge neue Musik aufgenommen. Aber es hat alles nicht so funktioniert, wie ich mir das eigentlich vorgestellt hatte. Ich glaube, das Problem war, dass ich damals mehr im Kopf hatte, ein Album fertigzubringen, als ein Album aufzunehmen. Es hat dann noch einige Zeit gedauert, bis ich wieder in einen Zustand gekommen bin, der es mir erlaubt hat, die Musikproduktion wirklich genießen zu können. Als ich dann nicht mehr darüber nachdenken musste, bis wann das Album fertig sein muss, ist die Musik nur so aus mir herausgesprudelt. Das habe ich sehr genossen.

In einem Social-Media-Post schreibst du im Zusammenhang mit dem neuen Album von „Höhen und Tiefen, Erwachsenwerden, Dinge herausfinden und dann alles immer wieder vergessen“. Was genau hast du damit gemeint?

Im Grunde genommen bin ich permanent auf Tour, seit ich 17 Jahre alt war. Bis zur Pandemie. Als dann plötzlich alles zum Still- stand gekommen ist, habe ich es zunächst als schwierig empfunden, meine Zeit isoliert an einem Ort verbringen zu müssen. Aber bald schon habe ich diesen Zustand wirklich genossen, ich habe dadurch eine ganz andere Seite des Lebens kennengelernt. Einerseits möchte ich mir jetzt dieses neue Lebensgefühl bewahren und andererseits möchte ich weiterhin das tun, was ich bisher getan habe. Durch den Stillstand habe ich neue Liebe und Wertschätzung für meine Arbeit empfunden. Ich glaube, ich musste erst einmal diese Ruhe finden, um in der Lage zu sein, meine eigene Arbeit wertzuschätzen und dieses Album zu machen. Und innerhalb dieser Ruhephase hat es eine Menge Höhen und Tiefen gegeben, das habe ich mit der Aussage gemeint.

Jamie xx
Jamie xx auf dem „A Way Out West“ Festival in Schweden, 2022.

„Das Album ist für mich die beste Art, Musik zu hören“

Einerseits heißt es immer wieder, dass die Album-Ära seit den mittleren 2000ern vorbei wäre, dass die Leute nur noch häppchenweise einzelne Songs streamen oder Playlists. Andererseits habe ich den Eindruck, dass heute auf den Streamingdiensten mehr Alben veröffentlicht werden als je zuvor. Welche Bedeutung hat die Veröffentlichung deines Albums für dich persönlich?

Das Album ist für mich eine wichtige Kunstform. Es ist sehr schwer ein Album zu machen, das auch wie ein Album klingt. Ich meine damit ein Album, das man immer wieder und wieder anhört, in das man eintauchen kann und das man immer besser ver- steht, je öfter man es anhört. Das ist für mich die Freude, die ein Album bewirkt. Das Album ist für mich die beste Art, Musik zu hören. Deshalb möchte ich Alben machen, die wie Alben klingen. Wenn die Leute heutzutage zwei Stunden Musik als Stream veröffentlichen, ist das nicht unbedingt dasselbe wie ein Album. Ich schätze aber, so funktioniert die Welt jetzt.

Du sagst über das neue Album, dass du damit gleichzeitig etwas Lustiges, Fröhliches und Introspektives machen wolltest. Als wir das letzte Mal gesprochen haben, haben wir über die Melancholie auf dem Dancefloor geredet und über die Melancholie, die manchen deiner Tracks und Remixen innewohnt. Die Gegensätzlichkeit dieser Stimmungen scheint ein Thema zu sein, das dich sehr beschäftigt.

Man kann sehr nachdenklich auf dem Dancefloor sein, sogar wenn man mit Freunden unterwegs ist. Die meiste Zeit auf dem Dancefloor verbringen wir doch einfach nur mit Nachdenken, Genießen und Im-Augenblick-Leben. Das ist der Grund, weshalb ich als junger Mensch geradezu eine Obsession für Dance Music entwickelt habe. Wenn ich im Club bin, möchte ich nicht unbedingt mit Menschen reden, aber ich möchte Menschen um mich haben. Das ist der Grund, weshalb ich immer noch gern Clubs besuche. Viele Songs auf IN WAVES habe ich zuerst in meinen DJ-Sets ausprobiert und anschließend an ihnen weitergearbeitet, sie sind dann ein bisschen Club- orientierter ausgefallen als die Songs auf meinem ersten Album.

Jamie xx

„Für gewöhnlich arbeite allein an meiner Musik“

Die elektronische Musik hat sich vor allem in den vergangenen paar Jahren sehr stark diversifiziert. Permanent entstehen aus Untergenres weitere Untergenres. Und wenn einmal ein neuer Stil aufgetaucht ist, dann verschwindet er auch nicht mehr. Alles bleibt und existiert gleichzeitig. Du kannst dich als Musiker aus einem wahnsinnigen Fundus aus Jahrzehnten, Genres, Stilen und Einflüssen bedienen. Wie funktioniert das für dich?

Ich versuche ständig, Musik zu hören. Ich habe natürlich auch Phasen, in denen ich überhaupt keine Musik hören kann, weil es mir zu viel wird und dann fühlt sich das Musikhören wie Arbeit an. Wenn ich aber gerade in einer Phase bin, in der ich alles Mögliche anhöre, da werde ich inspiriert und beeinflusst. Ich beschäftige mich auch mit anderen Kunstformen, aber wenn ich Musik höre, bringt mich das immer dazu, selbst Musik machen zu wollen.

Ich kann mir vorstellen, dass du viele Anfragen bekommst, die Alben anderer Künstler:innen außerhalb deiner Bubble zu produzieren. Wieso hast du das bisher noch nicht getan?

Ich stecke viel Arbeit in jeden einzelnen Track, den ich produziere. Und dafür brauche ich viel Zeit. Es hat mir viel Spaß gemacht, Olivers (The-xx-Sänger Oliver Sim – Anm. d. Red.) Soloalbum HIDEOUS BASTARD zu produzieren. Denn ich stehe Oliver nahe und bin ihm durch die Produktion des Albums noch nähergekommen. Wenn ich eine Platte anderer Künstler:innen produzieren sollte, müsste ich eine Verbindung zu ihnen haben, ich müsste ihre Musik lieben und ich müsste das Gefühl haben, in die Zusammenarbeit etwas einbringen zu können, dann würde ich das tun. Aber das kostet alles sehr viel Zeit. Manchmal bewege ich mich aus meiner Komfortzone und versuche mit anderen Musiker:innen zusammenzuarbeiten, aber für gewöhnlich gehe ich nach Hause und arbeite allein an meiner Musik.

Was würdest du tun, wenn Madonna für ihr neues Album bei dir anfragen würde, weil sie irgendwo gelesen hat, dass dieser Jamie xx der Produzent der Stunde sein soll?

(lacht) Ich glaube, zu Madonna könnte ich nicht nein sagen.

„Im Moment kann ich das Album nicht mehr hören“

Apropos andere Musiker:innen. Du hast eine ganze Reihe von Gästen auf dem Album: Robyn, The Avalanches, Honey Dijon, John Glacier, Panda Bear und die großartige Kelsey Lu. Wie kommen solche Zusammenarbeiten zustande?

Zu allen Leuten, die an dem Album mitwirken, hatte ich vorher sowieso schon eine Verbindung, wir haben uns kennengelernt, bevor wir Musik zusammen gemacht haben. Ich habe immer mal versucht, mit anderen Musiker:innen zu arbeiten, aber bei mir funktionierten solche Gemeinschaftsarbeiten nur, wenn ich eine Verbindung zu den Menschen aufbauen kann.

Hast du schon darüber nachgedacht, wer deine neuen Tracks remixen soll?

Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, obwohl ich es sehr liebe, Interpreta- tionen meiner Tracks von anderen Musiker:innen zu hören. Wenn ich nach Musik für meine DJ-Sets suche, stoße ich manchmal auf Remixe meiner Sachen oder auf Tracks, in denen Samples meiner Musik verwendet werden. Ich finde es sehr aufregend, Musik aufzulegen, in der meine eigenen Tracks gesampelt werden. Ich bin gespannt darauf, was die Leute mit den neuen Tracks alles machen werden. Aber im Moment kann ich das Album nicht mehr hören, weil ich es in den letzten Monaten vor der Veröffentlichung so oft anhören musste.

„Die Türen stehen ganz weit offen“

Es ist fast schon Tradition, dass deine Soloalben einen Track enthalten, auf dem Oliver Sim und Romy Madley Croft, deine Kolleg:innen von The xx, mitspielen. Diesmal ist es „Waited All Night“. Was ist der Unterschied, wenn die beiden mit dir zusammen an einem Track von The xx arbeiten oder an einem Solo-Track von dir?

Mit unseren Soloalben versuchen wir die Arbeitsweise, die wir bei The xx etabliert haben, zu ignorieren. „Waited All Night“ entstand schon vor Jahren als Demo mit Romy. Ich hatte es Jahre lang in der Schublade, dann habe ich das Demo gesampelt und Oliver und Romy haben ihre Parts unabhängig voneinander eingespielt. Das ist eine komplett andere Vorgehensweise, als wir in der Band etabliert haben. Aber nach all der Zeit und nachdem jeder von uns seine Soloalben herausgebracht hat, bin ich bereit für jedweden Arbeitsprozess, um das nächste The-xx-Album aufzunehmen. Die Türen stehen ganz weit offen.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

The xx haben 2009 meine Wahrnehmung dessen, was Indie sein kann, erweitert. Das Debütalbum ist eines der besten des 21. Jahrhunderts. Das sehen wahrscheinlich sehr viele andere Leute auch so. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass du der Typ von The xx bist, der auch solo ein bisschen Musik macht, sondern ich sehe dich als einen eigenständigen Solokünstler. Wie siehst du das selbst?

Ich sehe die beiden auch als sehr unterschiedlich an. Die Band und mein Solo-Zeug sind total unterschiedlich – auch die Art und Weise, wie ich auftrete und performe, solo oder mit der Band, ist unterschiedlich. Und das liebe ich. Ich mag es, dass sich die beiden Welten manchmal überschneiden. Die Band ist immer ein Teil von mir und dafür bin ich unendlich dankbar. Und vielleicht werden sich die beiden Welten mit dem neuen The xx-Album noch ein bisschen mehr überschneiden.

„Wir lassen es ganz langsam angehen“

Ich muss natürlich in diesem Zusammenhang die obligatorische Frage stellen: Wann kommt denn das neue The-xx-Album?

Ich weiß es nicht. Wir treffen uns seit einiger Zeit einmal pro Monat eine Woche lang für die Aufnahmen. Aber wir lassen es ganz langsam angehen, wir hängen die meiste Zeit als Freunde ab und spielen ab und zu ein bisschen Musik. Ich glaube, manches von dem, was wir bisher aufgenommen haben, klingt sehr gut. Es ist sehr schön, dass wir im Moment die Freiheit haben, ohne Druck arbeiten zu können.

Jamie xx, Oliver Sim, und Romy Madley Croft als The xx, 2017
Jamie xx, Oliver Sim, und Romy Madley Croft als The xx, 2017

Es gibt keine Deadline und keinen Druck?

Zumindest nicht für mich. Jede:r von The xx ist gerade in seiner eigenen Welt unterwegs. Es kann sein, dass die anderen ein bisschen mehr Druck als ich verspüren. Aber ich lasse mir für alles gerne Zeit.

„Oliver ist viel stylisher als ich“

Du hast neulich als Model für einen Mode-Shoot des englischen Magazins „Arena Homme +“ posiert, dein Song „It’s So Good“ ist in der Kampagne für Chanel zu hören. Es gibt Leute, die der Meinung sind, dass Mode und Musik nicht zusammengehören, was natürlich Quatsch ist, vor allem weil die Musik ja selbst eine Kunstform ist, die der Mode unterworfen ist. Was denkst du darüber?

Heutzutage überschneiden sich diese beiden Welten mehr als je zuvor. Ich persönlich halte mich zwar weitgehend fern von Social Media und solchen Sachen, aber ich erkenne, dass die gegenseitigen Beeinflussungen von Mode und Musik immens sind. Das könnte unter Umständen vorteilhaft für beide Seiten sein. Glücklicherweise habe ich mit Oliver jemanden, der mich auf den Wegen der Mode an der Hand nimmt, er ist viel stylisher als ich.

Instagram Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Instagram
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

In Vorbereitung auf das Interview bin ich auf ein Foto mit dir und Charli XCX gestoßen. Das muss mich sehr beeindruckt und sich in mein Unterbewusstsein eingegraben haben. Als ich nämlich neulich gefragt wurde, wen ich als Nächstes interviewen würde, habe ich geantwortet: Jamie XCX.

(lacht) Ich habe Charli XCX in London getroffen, ich habe dort eine Reihe von Pop-up-Club-Gigs gegeben. Sie war als Gästin da und hat ein sehr gutes Set gespielt. Ich glaube, ich habe sie dort zum ersten Mal getroffen. Sie ist cool. Vielleicht arbeiten wir irgendwann einmal zusammen.

Julia Reinhart WireImage
Laura Jane Coulson
Jeff Kravitz FilmMagic
Die Anzeige der Produkte wurde mit dem affiliate-toolkit WordPress Plugin umgesetzt.