Linus Volkmanns Kolumne: Die Neunziger – es war auch nicht alles schön!
„Never Forget“, der 90er-Podcast ist zurück. Dazu noch eine Top 10 der hassenswertesten Dinge jener Dekade.
Musikpodcasts, auf die man richtig Bock hat und die den Ton treffen zwischen Kompetenz, Erkenntnisgewinn und Witz – also mir fallen da nicht viele ein. Hinterlasst mir Empfehlungen gern in einem toten Briefkasten oder klingelt mich nachts raus, wenn ihr wirklich was konstant Geiles auf den Kopfhörern haben solltet. Ich jedenfalls verweise bei dieser Frage stets auf „Never Forget – der 90er Podcast“. Allerdings mit dem Hinweis, dass dort 2020 der Betrieb nach einem Dutzend fantastischer Folgen eingestellt wurde. Verantwortlich für diese stets überschwänglichen wie mehrspurigen Talks waren die Musikexpress-Storyrunner Fabian Soethof und Stephan Rehm-Rozanes.
Vorab gesagt: Auch wenn ich nicht in Berlin sitze, kenne ich die beiden mittlerweile persönlich (mit Anfassen). Allerdings höre ich ihr „Never Forget“ aus freien Stücken und wenn es nicht empfehlenswert wäre, würde ich hier kein einziges Wort drüber verlieren. Den beiden bescheidenen Mäusen hätte ich dann Schulter zuckend vermittelt, dass sie wegen meiner journalistischer Integrität nicht in einer Musikexpress-Kolumne Erwähnung finden können. Aber „journalistische Integrität“… Die haben doch selbst große Verlagshäuser angesichts von Doomscrolling und Clickbait längst hinter sich gelassen. Da kann ich mir ja wohl leisten, AUF DIESEN LIEBLINGSPODCAST HINZUWEISEN!!!11 Da kommt wenigstens keiner zu Schaden.
Und das geht so: Zum großen Comeback von „Never Forget“ diesen Herbst (zwei neue Folgen so far) habe ich ein Interview mit den beiden Hosts geführt. Das lest ihr gleich, aber davor stelle ich eine gehässige Top Ten, damit das Nineties-Thema nicht nur auf dem Nostalgie-Standstreifen reisen muss. Viel Glück!
Zehn hassenswerte Dinge der 90er
01 Deutscher HipHop (funny)
Auf „Die Da“ von den Fantastischen Vier konnte ich dereinst ganz gut einschwenken. Für mich war das einfach ein erzählender Gag-Song, wie man ihn von Dieter Krebs („Ich bin der Martin, nee“) oder Jürgen von der Lippe kannte („Wurm drin“). Doch was das alles nach sich zog! Deutscher Reihenhaus-Rap wurde ein Ding inklusive dieser ganzen „funny“ Typen, die einem da ihre kaum halbwitzigen Texte um die Ohren schwafelten: „Hello Peopelz we are here / in one hand a mikro / in the other a beer”. Für mich ist Mainstream-Rap der Neunziger bis heute kaum mehr als Karl Dall auf Beats.
02 Diese Hosenschnitte
Hoher Bund, alles irgendwie ballon-mäßig geschnitten, auf Hochwasserlänge und in Hellblau. Kaum eine Fashion in der ich mit meinem Körperbau mehr lost aussehe – wie eine Gottesanbeterin auf Landgang. Dass dieser Look nun auch noch wieder zurückgekommen ist, werde ich dem Nineties-Revival nie verzeihen.
03 Motorsport
Die Achtziger waren Tennis und darauf folgte eine quälend lange Dekade voll mit live übertragenen Autorennen. Einen Nachmittag im Staub an der Autobahn stehen … höchstens das könnte ich mir noch langweiliger vorstellen als die ewigen „Formel Eins“-Übertragungen auf RTL seinerzeit.
04 Techno verpasst
Einen guten Teil der Neunziger habe ich in der Nähe von Frankfurt verbracht. Allerdings hörte ich vornehmlich Punk und Grunge, halt Hauptsache Gitarre und schaute verächtlich auf den aufkommenden Techno. Nächte im „Dorian Gray“ unterm Frankfurter Flughafen oder dem legendären „Omen“? Wären theoretisch möglich gewesen! Doch ich ließ das alles ungeöffnet verstreichen. Meine erste Ecstasy-Tablette nahm ich in den 2000ern – da war es streng genommen viel zu spät (aber immer noch geil).
05 Tribal Tattoos
Was ein martialischer Mist, der den ersten Peak der Tattoo-Begeisterung im Mainstream darstellte. Letztens hat mir aber jemand versichert, selbst das ehrabschneidende „Arschgeweih“ käme heutzutage „ironisch“ wieder. Na, dann!
06 Deutscher Crossover (H-Blockx, Such A Surge, Mega Vier)
Gackernde Selbstmitleid-Männchen mit Brat-Gitarren und skillbefreiten Rap- sowie Mosh-Passagen. Das Genre stellte mitunter mehr Trash als Eurodance auf. Vor allem weil sich bei diesem Crossover-Kram die Dudes größtenteils wirklich ernst nahmen!
07 „Wir sind die Fetzensteiner“
Apropos Eurodance … Da kann ich mir wirklich einiges an Einweg-Balla-Balla-Kram anhören, aber bei diesem Stück hört es selbst für mich auf:
08 „Natural Born Killers“
Die Neunziger – eine Epoche vieler prätentiöser Kultfilme, die so taten, als wäre sie film noir, medienkritisch und krass. Diverse gelten zu Unrecht bis heute als wertig. Ein Beispiel? Wirklich riegelblöd war „Natural Born Killers“ von Oliver Stone, der holzschnittartig und grell das Thema Wechselwirkung zwischen Gewalt und TV „beleuchtet“.
09 Rammstein
Das Burning-Penis-Syndrom nimmt in den Neunzigern seinen Ausgang. Der filmisch ebenfalls overhypte David Lynch (sorry folks, don’t kill me für diese Aussage) setzt den fickerigen Act 1997 in „Lost Highway“ prominent in Szene – und der Rest ist Geschichte. Leider!
10 Die Sterne bei Stefan Raabs „VIVAsion“
Eigentlich war es im Nachhinein schon geil, dass in den Neunzigern dank Musik-TV selbst Subkulturen (in dem Fall die Hamburger Schule) mal ins Schaufenster für die Massen gehoben worden. Damals riefen wir Nerds natürlich: „Ausverkauf!“ Heute ein eher putzig beziehungsweise verstörendes Zeitzeugnis: Die Sterne versuchen sich gegen Stefan Raab zu behaupten. Die legendäre Zahnlücke von Frank Spilker inklusive.
„Never Forget“ – Die Macher im Interview
Die zweite Staffel des Neunziger-Podcasts rollt an. Ein Gespräch mit Stephan Rehm-Rozanes und Fabian Soethof.
Endlich geht es weiter, doch what took you so long? Wir können ganz offen reden, hier lesen nur Ehrenleute mit.
What happens hinter den Kulissen, bleibt hinter den Kulissen! Im Ernst: Wir haben Kinder und Familie – nicht dieselben Jobs, mit denen wir Geld verdienen müssen, Bücher geschrieben, und ein wenig Freizeit wäre auch mal schön. Deshalb zogen wir die Reißleine und setzten uns immer wieder mal an den Verhandlungstisch, wohlwissend oder eher -wollend, dass Staffel 2 früher oder später kommen muss. Here we are now, entertain us.
Ihr habt Glück mit dem Comeback – in Deutschland gibt es immer noch kaum relevante Musikpodcasts, habt ihr eine Ahnung, woran das liegt?
Musik selbst ist keine Nische. Darüber zu sprechen, zu schreiben und sich über einen Song hinaus dafür zu interessieren, leider schon. Es gibt durchaus einige sehr relevante Musikpodcasts in Deutschland, bloß – abseits von „Kaulitz Hills“, in dem es zwar auch um Pop, aber nicht um Musik geht – keinen for the masses. „This Band Is Tocotronic“ oder „Musik ist eine Waffe“ über Ton Steine Scherben zum Beispiel glänzen durch ihre Recherchen, das Storytelling, die Produktion, den langen Atem. „Reflektor“ von Jan Müller durch Talks und Expertise, „Diese eine Liebe“ über Die Ärzte durch Fantum und Journalismus, „Die Taylor Swift Story“ durch ihren Gen-Z-Deep-Dive. „Never Forget“ hingegen ist abseits der Gastauftritte ein reiner Laberpodcast, wovon es eigentlich viel zu viele gibt. Wir sind dafür monothematischer und hoffen, die Hörer:innen über Nostalgie reinzuholen, sie mit sogenanntem, äh, Infotainment bei der Stange zu halten und mit ihnen nicht im Gestern hängen zu bleiben.
„Über Musik reden ist wie zu Architektur tanzen“ ist eine ungute Redensart – aber in einem Hörmedium könnte man natürlich auch die Musik selbst nutzen. Könnte! Rechtemäßig ist das ja immer noch nicht safe alles. Wie handhabt ihr diesen Faktor? Mutig oder lieber vorsichtig?
Wir singen die Songs einfach nach! So ist auch all dieses unnütze Textwissen endlich zu was gut. Nein, wir spielen jeweils ein paar wenige Sekunden an, macht ja allen mehr Spaß. Saul Goodman sagte uns schulterklopfend, das liefe unter Zitatrecht, weil wir davor und danach knallhart journalistisch darüber sprechen
Ihr seid zwar Zeitzeugen und hochversierte Popjournos, aber was habt ihr durch den Podcast über die Neunziger Jahre gelernt, was ihr vorher noch nicht wusstet?
Einiges! Nilz Bokelberg zum Beispiel verriet uns, was an dem Gerücht dran ist, dass er „MfG“ von den Fantastischen Vier mitgeschrieben habe. T-7 von Mr. President klärte uns darüber auf, was ein „Coco Jamboo“ ist und warum sie einst in der „Harald Schmidt Show“ fast barbusig auftraten. Jazzy von Tic Tac Toe gestand uns, dass auch sie nicht wisse, wo Lee stecke, das letzte Kapitel ihrer Band aber noch nicht geschrieben sei. Und Oasis-Ultra Thees Uhlmann bot den Gallaghers 1000 Euro an, wenn sie sich nicht wiedervereinen! Jetzt haben sie leider doch ein wenig mehr Geld gekriegt.
Dass die Neunziger zurück sind, ist ja kein Geheimnis mehr. Doch was ist für euch popkulturell die Essenz dieser Epoche?
Die 90er standen vor allem für Freiheit und Euphorie – der Kalte Krieg war vorüber, die Mauer gefallen, die – zumindest im Mainstream – miefigen 80er vorüber. Auf einmal tanzten Hunderttausende enthemmt zu Techno durch Berlin und andere europäische Großstädte – eben auch zu einer Musik, für die man nicht mühevoll jahrelang zum Geigenunterricht rennen musste; wie kein anderes Genre war Techno losgelöst von tradierten Zwängen. Aber auch der mit dem Muckertum der 70er und 80er weitgehend brechende Alternative Rock brachte Leute – und dank Riot Grrls wie Bikini Kill und L7 endlich auch vermehrt Frauen – an die Gitarre. Dem folgte die lebensbejahende Bierseligkeit des Britpop. Ständig entstanden neue Genres wie Drum’n’Bass, Big Beat und Jungle, alles ging nach vorne. Der 11. September ließ dann nicht nur Hochhäuser, sondern auch die Idee von Popkultur als etwas Progressives einstürzen. Seitdem sehnt man sich wieder eher zurück in die vergleichsweise doch deutlich sichereren 90er. Erst durch all diese Ereignisse des 21. Jahrhunderts – von Corona über Trump hin zu Cyber-Bullying – wird uns klar, wie bedeutsam die 90er wirklich waren.
Was ist euer persönlicher Soundtrack der Neunziger?
Stephan: Als orientierungsloser Teenager ist man ja ohnehin ständigem Wandel unterworfen – die 90er bildeten dafür eine traumhafte Kulisse, musikalisch wie modisch. Ich konnte in einem Jahr Axl Rose nacheifernd mit neonfarbenen Spandex-Radlerhosen ungeniert Fashion-Crimes begehen, im nächsten als Pilzkopf-tragender Oasis-Lad durchs Kaff swaggern, um in der Saison darauf als Fünf Sterne Deluxe hörender Ali-G-Verschnitt elterliches Unverständnis hervorzurufen. Zwar habe ich mir nie Marusha-like die Augenbrauen gegrünt, aber dank Hybrid-Acts wie den Chemical Brothers, Orbital, Daft Punk und Atari Teenage Riot auch elektronische Musik lieben gelernt. So brachte jedes Jahr einen neuen, für mich perfekten Soundtrack.
Fabian: Natürlich könnte und müsste ich hier, eigentlich sogar wahrheitsgemäß, von Pearl Jam und Nirvana reden. Von Green Day, Offspring und anderen Namen, die wir uns auf die ledernen Federmäppchen schmierten. Erstens aber war ich, als NEVERMIND und TEN herauskamen, elf Jahre alt und habe all das zeitversetzt gehört und erlebt. Zweitens sind Antworten auf solche Fragen rückblickend immer andere als in dem Moment: Radioheads THE BENDS etwa ist für mich heute eines der besten Alben jenes Jahrzehnts. 1995 hat mich das noch nicht beziehungsweise anders interessiert. Und drittens ist die ehrlichste Antwort ohnehin viel profaner: Jede BRAVO-HITS-Ausgabe, besonders die „Best-Ofs“ des jeweiligen Jahres, ist mein Soundtrack der 90er. Darauf hörte ich, woran ich im Radio und im Fernsehen, auf Kellerpartys, Scheunenfeten oder der Kirmes ohnehin nicht vorbeikam und damit das, was andere fast ausschließlich hörten. In Teilen meines Dorfes galt ich schon als Freak, weil ich nicht ausschließlich BRAVO-HITS und Radio hörte! Ein Popchamäleon wie Stephan war ich derweil nie. Einmal ließ ich mir von einem kiffenden Skater miese Dreadlocks frisieren, die ich nie pflegte und viel zu spät wieder abschnitt. Danach blondierte ich mir ein Bienen-Strichmuster die Kurzhaarfrisur. Je älter die 90er und damit ich wurden, desto – minimal – differenzierter wurde mein Geschmack. Aber Gitarrenmusik blieb trotz Offenheit der Schwerpunkt meines Interesses. MAKE YOURSELF von Incubus etwa, VÖ Oktober 1999, habe ich ewig gepumpt!
Podcast lebt von der Präsentation – wie habt ihr euch das erarbeitet, wie habt ihr eure Rollen gefunden? Trial & error oder gab es Vorbilder oder gar einen Plan?
Die Rollen verteilten sich wie von selbst: Das wandelnde Pop- und Rocklexikon Stephan ist eine Art Harald Schmidt – ohne Boomer-Ressentiments und Nach-Unten-Treten, versteht sich –, Fabian nicht der ebenso gebildete Manuel Andrack, sondern dessen späterer Sidekick Oliver Pocher: Hat eigentlich keine Ahnung, ruft immer mal was rein und hofft, dass ihm niemand auf die Schliche kommt. Teilt dafür aber nie aus. Schiefes Bild? Dann so: Stephan ist Noel UND Liam, Fabian ist … Oh, er muss gerade ganz schnell weg!
Worauf freut ihr euch, wenn (anderswo) nun auch die Nuller wieder aufgegriffen werden?
Fabian will endlich über Screamo reden. Stephan eher über die „Class Of 2005“, also die erste große Retrowelle im Indierock, New New Wave. Beide über Indiedisco. Arctic Monkeys. White Stripes. The-Bands von Anfang des Jahrtausends, also ja schon The Strokes. Libertines. Amy Winehouse. Festivals. Bingewatch-Erfahrungen von „24“ über „Sopranos“ bis „Lost“, was Stephan jetzt gerade zum fuckin‘ ersten Mal schaut. Napster, Kazaam, Emule, MySpace, Studi-VZ, Facebook. Die ersten Smartphones. Unsere Welt, unser Leben war in den Nullern nach der 9/11-Zäsur zwar weiß Gott nicht mehr so unbeschwert wie in den 90ern. Aber doch ganz schön unbeschwert im Vergleich mit der jetzigen Gegenwart.
Was erwartet uns von der neuen Staffel „Never Forget – der 90er Podcast“? Wer kommt, was bleibt, was wird anders?
„Lass dich überraschen … und hier ist dein Herzblatt!“ Das wissen wir selbst noch nicht genau. Wir hatten uns einen anderen Ansatz als den der Genre-Folgen aus Staffel 1 überlegt, damit Staffel 2 und unser fast zeitgleich erschienenes Buch „Back for Good: Warum die Musik der 90er uns nicht loslässt“ nicht gegenseitig kannibalisieren. Wir wollten kürzere Folgen produzieren und deshalb auch nicht zwingend auf einen Gast pro Folge setzen. Es wird anders kommen.
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