Kolumne

„So viel mehr als bloß Musik“: Linus Volkmanns Love Letter an kleine Festivals


Kleinere & mittlere Festivals sind seit Corona arg unter Druck. Hier kommt stellvertretend das Immergut zu Wort.

Abenteuer: Festival. Noch bis vor einigen Jahren hätte mir eigentlich eher folgende Wortkombination näher gelegen: „Alptraum: Festival“. Denn zwischen mir und diesen freidrehenden Events auf blanker Wiese herrschte schon immer eine äußerst angespannte Stimmung. Gestattet mir daher einen sehr persönlichen Einstieg in diesen Text …

Beim ersten Mal tut’s immer weh

Das allererste Open Air, das ich besuchte, muss Ende der Neunzigerjahre das Bizarre-Festival gewesen sein. Eine mehrtägige Veranstaltung, weit draußen in einer mir damals noch fernen Stadt (Köln). Dennoch fuhr ich abends wieder nach Hause – nur um am nächsten Tag zu beschließen, dass ich dort nicht erneut hinreisen möchte. Draußen campieren, draußen essen, ungeduscht und voll mit Stuhl und Urin, den man nicht los wird, durch den Staub latschen? Das ist doch eher etwas für Straßenkatzen, aber nichts für uns sensible Musikliebhaber!

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Nicht lachen, aber ich war dereinst einigermaßen sicher, dass sich der Hype um Festivals bestimmt bald legen würde. Das ist doch viel zu anstrengend, als dass andere das nicht auch erkennen müssen. Mit diesem immer aggressiver vorgebrachten Trugschluss brachte ich erst meinen Freundeskreis und später als Redakteur auch noch die ganze Leserschaft gegen mich auf.
Wenn’s um Festivals ging, war ich dieser sprichwörtliche Geisterfahrer, der auf der Autobahn überzeugt ist, viel eher kämen ihm derer Dutzende entgegen.

Suffering from Haldern Pop

In meiner Zeit in jener Redaktion eines Musikmagazins drehte sich dann aber zusehends das Blatt. Zu meinen Ungunsten, versteht sich. Denn bei „meinem“ erdigen Mitmachblatt mit Provinzhintergrund stand es sogar im eigenen Wappen: „Intro – Wir sind mit euch“. Was so viel hieß, dass man im Sommer flächendeckend die Festivals mit Ständen abzudecken hatte. In der eigenen Freizeit und unentgeltlich, verstand sich, denn Open-Air-Veranstaltungen sind gemeinhin am Wochenende und die Teilhabe daran ja wohl Entlohnung genug!

Ich moderierte zum Beispiel beim legendären Haldern Pop Festival sogenannte „Meet & Greets“ am Intro-Stand – mit irgendwelchen Random-Gitarren-Benelux-Acts, die der (bis heute amtierende) Booking-Guru des Events mal wieder als interessant ausgeguckt hatte. Please kill me! Mein Schulenglisch knarrte und schliff qualmend über den Standstreifen, während ich mich mit dem bedröhnten siebenköpfigen Indie-Kollektiv aus Belgien Zita Zwoon im Publikumsgespräch abmühte. Aus meiner Festival-Abneigung wurde Festival-Angst. Doch mein persönlicher Open-Air-Irrsinn sollte jetzt erst richtig losgehen …

Der Autor auf dem Immergut-Festival. Foto: @seniorendisko

Melt, Melt, du kennst mich up, kennst mich down

Denn besagtes Intro-Magazin wurde zur Jahrtausendwende Teilhaber eines kriselnden Festivals im Osten. Niemand kannte es vorher wirklich, aber die Location inmitten von dystopischen Riesenbaggern schien einfach überwältigend. So fuhr ich zehn Jahre in Folge jeden verdammten Sommer auf das Melt in Gräfenhainichen bei Dessau. Jenes Festival lief nach schleppendem Beginn eine Zeit lang so gut, dass es sogar Defizite des Magazins ausgleichen konnte. Ich litt allerdings jedes Jahr wie ein Hund und verzweifelte an den langen Wegstrecken, eher zufällig fahrenden Shuttles, den limitierten Klos und nicht zuletzt meinen pochenden Hangovern nach der ersten Nacht.

Sommer! Handbrot! Flunkyball!

Als ich 2014 aus dem Verlag ausschied, schwor ich mir, nie wieder ein Open Air zu besuchen. Ein Zustand unendlicher Befreiung, für den manch buddhistischer Mönch sein Leben lang meditieren müsste, flutete mich. Doch lange … nein, lange hielt er leider nicht an.

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Als selbständiger random Popkultur-Otto, zu dem ich mich nun abseits des Jochs der einstigen Festanstellung selbst gekürt hatte, suchte ich auch Betätigungsfelder auf der Bühne. Bisschen was Lustiges lesen mit Musikbezug – macht 500 Euro [diabolisches Lachen]! Kommt noch sieben Prozent verminderte Mehrwertsteuer drauf. Diese Sache lief leider überraschend gut, spülte mich allerdings wieder auf unzählige Festivals, die ihre Line-Ups heute gern mit einer unaufwändigen Spoken-Word-Bühne aufblasen. Statt einmal Melt standen daher mitunter mehr als zehn Open-Air-Dates pro Sommer im Kalender. Mein Programm trug den Titel „Sommer! Handbrot! Flunkyball! Warum ich Festivals hasse“ und brachte mir beim Zufallspublikum vor Ort immer wieder verlässlich Ärger ein.

Doch jenseits dieser Selbstbestrafung erlebte ich endlich auch die andere Seite der Outdoor-Heimsuchungen. Denn an einigen Orten lachten die Leute gern ein bisschen selbst über sich und daher auch über mein Programm – und mancherorts war alles sogar so schön, dass auch ich als grumpy old festival critic schockverliebt zurückkehrte.

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Als Corona dann vor allem den kleinen und mittleren Festivals so sehr zusetzte, dass etliche sogar die Segeln streichen mussten, schämte ich mich ein wenig für mein mäkeliges Anti-Festival-Gehubere in all den Jahrzehnten. Festivals können utopische Orte sein, bieten dir an, dieses andere gemeinsame Zusammenleben mal auszuprobieren. Respektvoll, nachhaltig, aufregend, hedonistisch. Solche Begegnungsstätten sind aktuell wichtiger denn je, wo das gesellschaftliche Klima gerade immer mehr reale dystopische Orte schafft. Doch jene Begegnungsstätten stehen eigentlich alle gerade arg unter Druck.

Woran es liegt und was man tun kann – das wollte ich von Tina und Björn vom Immergut-Festival-Team wissen. Das Immergut in Mecklenburg-Vorpommern ist individuell bezaubernd (siehe YouTube-Clip hier gleich), kann aber stellvertretend auch für viele andere kleine und mittlere Open Airs stehen, die jenseits der großen Geldbewegungsevents operieren.

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Bevor wir in den Krisenmodus schalten, möchte ich erstmal den Fokus auf das Gute richten: Was waren eure Highlights vom jüngsten Immergut – auf und abseits der Bühnen?

Björn: Für mich waren die Auftritte von Angelica Garcia und auch iedereen ganz besondere Momente. Beide Acts waren zum ersten Mal auf dem Immergut – Angelica Garcia sogar zum ersten Mal in Deutschland auf einer Bühne – und beide haben auf unterschiedliche Arten den Gästen so viel positive Energie gegeben, haben sie mit Tanz und Performance in den Bann gezogen und gezeigt, wohin sich die Musik national wie international entwickeln wird. Genau das sind die Entdeckungen, die man bei uns machen kann.

Tina: Ich fand den Festival-Donnerstag mit dem Auftaktprogramm besonders schön. Es haben sich so viele jüngere Vereinsmitglieder gefunden, die sich bei der Gestaltung des Nachmittags eingebracht haben, was wiederum gut von den Besuchenden angenommen wurde. Es war einfach wirklich wholesome, wie Besuchende und Vereinsmitglieder auf dem Marktplatz zusammengekommen und gemeinsam ins Festivalwochenende gestartet sind.

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Wie erklärt ihr euch, dass viele kleinere und mittlere Festivals Mitte der Zwanzigerjahre so sehr unter Druck geraten sind – die Deutungsversuche reichen doch vermutlich über Corona hinaus, oder?

Björn: Da hast du recht, kleine und mittlere Festivals waren schon vor 2020 stark unter Druck, die Corona-Pandemie hat dies aber noch massiv verschärft. Die Gründe sind vielfältig und reichen von immens gestiegenen Kosten auf allen Seiten (Infrastruktur, Gagen, Personal, etc.) auch abseits des Festivalmarktes und somit weniger Kaufkraft bei den Gästen, über größere Konkurrenz durch mehr Festivals aus dem In- und Ausland, die um Gäste wie auch Acts buhlen, aber auch eine Marktmacht der größeren (Festival-)Konzerne, die mehr und mehr zunimmt.

Nimmt der Klimawandel aktuell auch Einfluss auf Festivalkultur wegen Extremwetter – oder war Wetter bei Outdoorevents schon immer ein Glücksspiel?

Björn: Der Faktor Wetter wird für Festivals immer relevanter, weil Extremwetterlagen zunehmen. So haben Festivals häufiger mit viel zu viel Regen oder viel zu viel Wind oder viel zu hohen Temperaturen als in den Vorjahren zu tun. Das erhöht hierbei nicht nur das Risiko, ein Festival unterbrechen beziehungsweise absagen zu müssen (was die Versicherungsprämien immens erhöht), sondern auch die Kosten auf solche Extremereignisse reagieren zu müssen – ganz zu schweigen von dann verhaltenem Kaufverhalten der Gäste. Das heißt unter anderem: verringerter Getränkeverkauf bei zu viel Regen oder zu hohen Temperaturen. Auch auf den Kartenvorverkauf nimmt das Einfluss. Wir konnten beobachten, dass viel häufiger Karten kurz vor dem Festival statt weit im Voraus gekauft werden, was einerseits sicherlich Nachwehen aus der Pandemie sind, andererseits aber auch daher kommt, dass die Besuchenden erstmal die Wettervorhersagen abwarten wollen. Das ist total nachvollziehbar, nimmt Veranstaltungen aber ein Stück Planungssicherheit. Wir wurden von Extremwetter bisher eher verschont, da das Immergut in einer eher ruhigen Wetterzone und -zeit liegt, aber es nimmt einen immer höheren Stellenwert für die Planung ein.

Aktuell wird und muss wieder viel diskutiert werden über Neo-Nazistrukturen – nicht nur – im Osten. Das jüngste Beispiel war der Aufmarsch von Rechten in Bautzen gegen eine Pride-Veranstaltung und produzierte fiese Bilder. Wie ist es bestellt um alternative Kultur gerade auch im Osten und gerade auch abseits von Metropolen. Ihr seid viel vor Ort, kommt teilweise daher, arbeitet mit lokalen Unternehmen – wie ist da eure Einschätzung? Ist das politische Klima unangenehmer geworden oder auch nicht anders als früher?

Björn: Als das Festival in 2000 ins Leben gerufen wurde, gab es noch einige unschöne Berührungspunkte mit rechten Strukturen, gegen die es sich durchzusetzen galt. Seither war es 10 bis 15 Jahre ruhiger gewesen und erst mit dem Erstarken der AfD – vor allem auch in Mecklenburg-Vorpommern – wird das Klima von Jahr zu Jahr wieder ruppiger. Wir versuchen uns hier zu positionieren, vor Ort mit unserer Wort-Bühne Diskussion anzustoßen, Künstler*innen mit klarer Haltung einzuladen und Kooperationen mit den richtigen Partner*innen zu schließen. Aber wir sind uns auch im Klaren, dass wir noch einige Jahre Arbeit und Protest vor uns haben.

Tina: Als PoC habe ich natürlich eine sehr persönliche Perspektive auf das Thema. Die Veränderungen des gesellschaftlichen und politischen Klimas in den letzten Jahren waren leider unübersehbar und spürbar. Seit 2016 bin ich Mitglied im immergutrocken e.V. und das Festival war für mich immer weitestgehend ein Safe Space und ein Ort des Miteinanders. Genau dieses Gefühl wollen wir ja auch nach außen tragen und das ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Damit ist aber unsere Arbeit auch anspruchsvoller geworden, denn es geht nicht mehr nur darum, Kultur in die Region zu bringen, sondern darum, aktiv Stellung zu beziehen und sich klar gegen Hass und Ausgrenzung zu positionieren.

Ein paar wenige Festival-Institutionen können der allgegenwärtigen Erosion scheinbar trotzen. Kann man sich von sowas wie zum Beispiel dem Haldern Pop was abschauen, oder sind da die Bedingungen dort doch ganz andere?

Björn: Kluge Konzepte und tolle Ideen sind bei vielen Festivals zu finden, sei es die Ansprache des Publikums, neue Ideen der Preisgestaltung der Tickets oder Einbindung der Community vor, während und nach dem Festival. Da haben Festival-Institutionen wie auch neue Veranstaltende viele Inspirationen zu bieten. Es kommt dabei immer auf den Kontext und die Region an, in dem sich das Festival befindet – vor allem aber kommt es darauf an, sich bei all den Veränderungen und Anpassungen im Festivalmarkt treu zu bleiben. Und da hilft doch ein Blick gen Haldern … „Be True, Not Better“.

Spoken Word / Diskussion auf dem Immergut 2024. Foto: Michelle Dynio

Was sind eure Maßnahmen und Ideen, um Zuschauer zurück- beziehungsweise dazuzugewinnen?

Björn: Das Immergut wird im nächsten Jahr seine 25. Ausgabe feiern. Eine Zahl, auf die wir als gemeinnützig und ehrenamtlich agierender Verein sicherlich stolz sein können. Das wollen wir zelebrieren und vom 29. bis 31. Mai 2025 viele alte und neue Freundinnen und Freunde des Festivals nach Neustrelitz laden, um genau hier ein Brücke zu bauen – zwischen Generationen der Musikmachenden, Festivalmachenden, Besuchenden wie auch eine Brücke zwischen den Genres, die gemeinhin zum „Indie“ zählen.

Tina: Es ist wichtig, sich treu zu bleiben. Genau das werden wir tun und darauf vertrauen, dass Immergut-Fans der ersten Stunde (immer) wieder zurückkommen und neue Immergut-Freund*innen dazukommen. Nichtsdestotrotz bringt uns Stillstand nichts, deswegen arbeiten wir stets daran, uns und das Festival weiterzuentwickeln, mal was Neues zu probieren, mal was anders zu machen, sodass es spannend bleibt. Außerdem wollen wir die Verbundenheit zur Region nicht nur aufrechterhalten, sondern stärken und so erreichen, dass sich die Menschen hier noch stärker mit dem Immergut verbunden fühlen.

Zusammenkommen und was draus machen. Immergut 2024. Foto: Michelle Dynio

Was wünscht ihr euch von der „Indie-Zivilgesellschaft“? Womit hilft man Festivals wie dem Immergut – auch abseits vom Ticketkauf?

Björn: Festivals sind Orte der Begegnung, des Auseinandersetzens mit Musik und mit Kultur, aber natürlich auch Orte der Freude, der Ausgelassenheit und kollektiven Schaffens von Erinnerungen. Lasst uns das neben der vielen Ungerechtigkeit, Leid und Unwohlsein in der Welt nicht vergessen und uns diese Refugien bewahren. Dafür müssen wir gemeinsam solche Räume und Kleinode schützen, indem sie weiter im Diskurs bleiben, sie im Gespräch mit Freundinnen und Freunden erwähnt und tolle Anekdoten online wie offline ausgetauscht werden, im politischen Kontext angebracht und deren gesellschaftliche und kulturelle Wichtigkeit herausgehoben werden. Denn nur gemeinsam sind wir laut genug, um gegen große Konzerne, die mit dem immer gleichen Kommerz-Mist Geld machen wollen, oder demokratie- und menschenfeindliche Parteien anzukommen.

Tina: Für die, die das Festival bereits besucht haben: spread the word! Erzählt von euren Erlebnissen, teilt eure schönsten Momente, macht andere neugierig auf das Festival. Für diejenigen, die noch nicht da waren: Traut euch und vertraut euren Freund*innen, wenn sie euch davon erzählen sowie Festivalveranstaltenden, dass sie alles geben, um euch ein schönes Event zu ermöglichen. Auch wenn ihr vielleicht wenige bis keine Namen aus dem Line-Up kennt, springt ins kalte Wasser und kommt vorbei. Festivals sind so viel mehr als nur die Musik, die dort spielt. Lasst euch das nicht entgehen, nur weil die eine Band, die in allen großen Festival-Line-Ups ganz oben steht, hier nicht zu finden ist.

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