Die 100 besten Gitarristen und Gitarristinnen aller Zeiten
Von St. Vincent bis Jimi Hendrix: Hier ist unser Ranking der 100 besten Gitarren-Legenden.
Es war nicht alles schlecht. Seit der Corona-Pandemie ist es vielen dank mobilem Arbeiten leichter, Beruf und Familie in Einklang zu bringen. Wir ME-Menschen müssen auch nicht mehr ständig den frühesten Flieger des Tages nehmen, um einen Popstar für 20 Minuten in einem von Managern bewachten Hotelzimmer in London zu interviewen, um unmittelbar danach zum Flughafen zurückzuhechten, sondern können uns entspannt von Wohnzimmer zu Wohnzimmer unterhalten – und dabei auch noch ein bisschen die Umwelt retten. Dazu gab es in den „Stay the fuck at home“-Jahren deutlich weniger Verkehrsun- und Raubüberfälle. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen – oder wir kommen endlich zum Punkt: Die Gitarre ist zurück! So sterbenslangweilig war’s uns in den eigenen vier Wänden, dass wir uns in ebendiesen genauer umgekuckt, die alte Klampfe hinter’m Sofa gefunden, neue Saiten gemailordert, uns Online-Tutorials reingezogen und dafür gesorgt haben, dass Gitarrenlehrer:innen auf einmal wieder mit Wartelisten arbeiten müssen.
„Ich zieh’ mir den Pulli vor dem Spiegel aus, Teenage Riot im Reihenhaus,
Ich gebe dir alles und alles ist wahr, Electric Guitar“
(„Electric Guitar“, Tocotronic)
Dabei wurde das ikonischste Instrument des 20. Jahrhunderts, das prägnanteste Symbol des Rock’n’Roll, noch 2017 flächendeckend für tot erklärt. Allein in den USA waren in den zehn Jahren davor die Gitarrenverkäufe um 30 Prozent zurückgegangen, jährlich wurde nur noch eine Million Stück verkauft. Die zwei größten Hersteller, Fender und Gibson, waren stark verschuldet. Im Mai 2018 musste Gibson sogar Insolvenz anmelden. Corona drehte den Spieß um: Fender erreichten bereits im ersten Pandemie-Jahr nicht für möglich gehaltene Verkäufe im Wert von 700 Millionen Dollar. Gibson-CEO James Curleigh sagte in einem „Forbes“-Interview: „Wir kamen der Nachfrage nicht hinterher, wir konnten schlicht nicht genügend Gitarren produzieren.“ Der Online-Gitarrenhändler Sweetwater meldete 2021 sogar Umsätze von einer Milliarde US-Dollar. In Deutschland existieren vergleichbare Erhebungen leider nicht, aber im größten Markt der Welt, den USA, begannen in den Jahren 2020 und 2021 ganze sieben Prozent der Bevölkerung, was 16 Millionen Leute (das entspricht ungefähr der Gesamtpopulation Bayerns und Hamburgs) ausmacht, damit, Gitarre zu lernen. Noch interessanter: Zwei Drittel davon sind zwischen 14 und 34 Jahren alt, also: jung, und die Hälfte davon ist weiblich. Diese Entwicklung ist zum großen Teil auf eine Person zurückzuführen: Taylor Swift.
Zwar hatte sich der Megastar über die Jahre vom Country wegentwickelt und bevorzugte clubtaugliche Popsounds. Doch ihr 2020er-Doppelschlag in Form der zusammen mit Aaron Dessner von The National produzierten Werke FOLKLORE und EVERMORE entsprach mit seinen Zurück-zur-Natur-Bildern dem Zeitgeist der Pandemie und ließ Swifts Musik gitarrenlastiger als je zuvor ausfallen. Sie erstreckte sich von Indie-Folk bis Kammer-Rock. Doch auch Swifts Ursprungsgenre kehrte im großen Stil zurück. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses für dieses Heft befand sich das 2021er-Album des kontroversen Morgan Wallen, DANGEROUS: THE DOUBLE ALBUM, seit 140 Wochen in den Top Ten der USA. Der Nachfolger ONE THING AT A TIME hielt im März sogar Metallica von Platz eins ab.
Bizarrerweise hat es Wallen geholfen, dass er zwischenzeitlich gecancelt wurde. Nach einer rassistischen Schimpftirade wurde er umgehend von den Playlisten verbannt, was zur Solidarisierung seiner Fans führte. Nach zahlreichen Entschuldigungen scheint ihm nun landesweit vergeben worden zu sein. Die USA können eben nicht genug bekommen von der sich ewig wiederholenden Geschichte des aufstrebenden Helƒden, der dann tief fällt und eine zweite Chance bekommt. Zu Morgan gesellen sich in den Top Ten Neo-Country-Stars wie Tyler Childers und Zach Bryan. Währenddessen mischt Countrysänger Oliver Anthony die Singles auf und stieg mit „Rich Men North Of Richmond“ direkt auf Platz eins der Charts ein – noch nie zuvor war das mit einer Debütveröffentlichung geglückt. Auch hier ist der Erfolg darauf zurückzuführen, dass das sich gegen „die da oben“ richtende Stück vor allem von der Alt.Right-Bewegung umarmt wurde.
Doch es ist beileibe nicht nur diese Zielgruppe, die sich nach der vermeintlich guten alten Zeit zurücksehnt, die Gitarrenmusik für sie repräsentiert. Nur mit einer Gitarre bewaffnet absolvierte Ed Sheeran mit seiner „÷ Tour“ zwischen 2017 und 2019 die erfolgreichste Konzertreise der Geschichte. Doch wie von Kurt Cobain bereits vor 30 Jahren prophezeit, sind die neuen Impulsgeber im Rock progressive Frauen. Eiferte man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Idolen wie Jimi Hendrix, Keith Richards oder Jimmy Page nach, sind es heute die Courtney Barnetts, die Mitskis und St. Vincents, die dem Nachwuchs Bock machen. Wenn es mit dem Erfolg von Boygenius so weitergeht wie mit ihrem Debütalbum, das in den USA auf Platz vier einstieg, im UK gar auf Rang eins und bei uns zumindest auf Platz acht, stellt die Supergroup um Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus noch die neuen Crosby, Stills & Nash dar. Nun ist es an der Industrie, sich anzupassen. So muss etwa die Gitarre schleunigst ihr Image als Penisverlängerung verlieren. Fender geht dazu gezielt auf junge Musikerinnen zu und befragt sie nach ihren Präferenzen, wenn es um Form und Stil des Instruments geht. Lindsey Jordan aka Snail Mail bestätigt den Kurswechsel: „Schon 2017 haben die großen Marken angefangen, zu kapieren, was los ist. Fender und Reverb (virtueller Marktplatz für den Kauf und Verkauf neuer und alter Instrumente – Anm.) haben bei mir angerufen.“
„And if the world does turn, and
if London burns
I’ll be standing on the beach with
my guitar I want to be in a band when I get to heaven Anyone can play guitar and they won’t be a nothing anymore“
(„Anyone Can Play Guitar“, Radiohead)
Unsere folgende Liste ist also eine Momentaufnahme: Sie feiert etablierte Held:innen, ehrt von der Geschichte zu kurz gekommene Schlüsselfiguren und stellt aktuelle Trendsetter vor. Technische Fähigkeiten spielen bei unserer Bewertung natürlich eine Rolle, sind aber nicht entscheidend: Wichtigere Faktoren sind Leidenschaft, Einfallsreichtum, Mut zum Risiko und zur Veränderung. Denn was die Gitarre benötigt, um auch in Zukunft eine tragende Säule populärer Musik zu bleiben, ist ein weitsichtiges Update. Dieses Jahrhundert ist retromanisch genug – wir brauchen keinen neuen Pete Townshend oder Brian May. Zum einen gibt es die ja noch, zum anderen ist ihr Werk sowieso unsterblich und heute mehr denn je für alle jederzeit verfügbar. Die neue Generation an Gitarrist:innen will den alten nichts wegnehmen, sie will dem Großen und Ganzen etwas hinzufügen. Etwas Spannendes, noch nie Gehörtes. Seit Jahrzehnten hat sich die Gitarre als anpassungsfähiges Instrument erwiesen und in den großen Kriegen des Punk gegen den Classic Rock sogar bewiesen, dass sie sich selbst besiegen kann, um sich zu erneuern. Fighting fire with fire. Und nur weil uns die bisherigen Eheschließungen und Scheidungen von Rock und Rap, von Missverständnissen und einem Überschuss an Testosteron geprägt haben, vor allem Sorgenkinder wie Limp Bizkit beschert haben, ist doch noch nicht gesagt, dass Gitarre und Beats kein gutes Team abgeben. Unsere globalisierte Welt verbessert sich insbesondere durch unser Zusammenwachsen, durch das Vermischen von viel zu lange Zeit als unvereinbar Gewähntem. Wenn sich dieses Prinzip in zahlreichen Fusionen in die Musik überträgt, stehen uns aufregende Zeiten bevor. Künstliche Intelligenzen werden die Popmusik grundlegend revolutionieren, viele traditionelle Denkweisen und Fertigkeiten überflüssig machen. Sie werden sie allerdings, wie im Fall des trotz seiner 81 Jahre stets zukunftsgerichteten Paul McCartney, der mit einer K.I. gerade den letzten Beatles-Song zu Ende bringt, auch ergänzen und bereichern. Und sei es nur aufgrund ihrer puren Existenz: Denn wo Streaming die Dominanz über unsere Hörgewohnheiten übernimmt, ist auch Raum für ein amtliches Vinyl-Comeback. Selbst wenn alles schiefläuft, Skynet uns endlich unterjocht hat und Terminatoren Jagd auf uns machen, werden die Verbliebenen von uns sich um versteckte LED-Lagerfeuer versammeln, Protestlieder klampfen und den Aufstand planen.
„He’s the reason for the teardrops on my guitar,
The only thing that keeps me wishing on a wishing star
He’s the song in the car I keep singing, don’t know why I do“
(„Teardrops On My Guitar“, Taylor Swift)
Um abschließend noch auf vermeintliche technische Grenzen einzugehen: Klar, wir bewegen uns mehrheitlich in der Zwölftonmusik und eine Gitarre verfügt standardmäßig eben nur über sechs Saiten. Und dennoch sind ihre Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft. Im vergangenen September in Howard Sterns Radioshow gefragt, wann er gewusst habe, ein richtig guter Gitarrist zu sein, antwortete eine weitere 81-jährige Musiklegende namens Paul, Herr Simon nämlich: „Ich bin ein guter Gitarrenspieler. Aber die Gitarre ist ein Universum.“ Und als solches unendlich. Die nächste Version dieser Liste in ein paar Jahren wird also eine ziemlich andere sein – gewiss eine deutlich weiblichere.
(Text: Stephan Rehm Rozanes)
Die 100 besten Gitarrist:innen im Ranking
100
Michael Rother
Seit den 70er-Jahren definierte Michael Rother mit den „kosmischen“ Bands Neu! und Harmonia und in einer langen Solokarriere die Rolle der Gitarre im Pop neu. Er ließ seine frühen Helden Jimi Hendrix und Jeff Beck hinter sich und fand einen eigenen lyrischen, flüssigen Stil, bei dem die Gitarre nicht wie eine Gitarre klingt. (Albert Koch)
Der Moment: Das simple, aber überirdische Solo in „Hallogallo“ von Neu!
99
Kirk Hammett
Während James Hetfield zu den verlässlichsten Rhythmus-Gitarren- und Riff-Maschinen der Metal-Welt zählt, ergänzt ihn Hammett als versatiler akustischer wie elektrischer Saitenmann und Lead-Gitarrist. (Frank Thiessies)
Der Moment: Von seinen Clean-Vignetten über das Tapping-Solo bis hin zur Twin-Guitar-Attacke beider Gitarristen ist die Halbballade „One“ die perfekte Bühne für Hammetts Repertoire.
98
(Space) Ace Frehley
Es braucht einen außergewöhnlichen (außerirdischen?) Autodidakten, um eine Rauchbombe in (s)eine Gibson einzubauen. Abseits aller Augenwischerei ist der Ex-Kiss-Gitarrist sicherlich nicht der größte Techniker, doch sind seine lässigen Licks sowie stets melodische, hummbare Soloarbeit ein Kracher. (Frank Thiessies)
Der Moment: „Shock Me“ und sein fürwahr elektrifizierendes Solo-Feuerwerk.
97
Kelley Deal
Von der Aushilfs- zur Leadgitarre. Vom Learning by doing zu einem der stilprägendsten Postpunk-Sounds. Die Diskografie der Breeders bezeugt Kelley Deals rasante Meisterschaft am Instrument wie ein Daumenkino. (Linus Volkmann)
Der Moment: Wenn in diesen legendären Basslauf von „Cannonball“ die Gitarre einsetzt.
96
Thurston Moore
Mit Sonic Youth spielte Thurston Moore eine Art Anti-Rock, in dem der Blues nicht einmal mehr eine vage Ahnung war. Ungewöhnliche Gitarrenstimmungen, Manipulationen der Saiten mit Gegenständen, Drones, Noise und Feedback sind seine Markenzeichen als Gitarrist. (Albert Koch)
Der Moment: Wie Popmusik unter Moores Gitarrenbehandlung klingt, zeigt „Silver Rocket“ auf dem Sonic-Youth-Album DAYDREAM NATION.
95
Jerry Garcia
Als Gitarrist war Jerry Garcia die Summe aus seinen Einflüssen (Folk, Bluegrass, Country, Jazz) und der besonderen Art zu spielen: Er übertrug Banjo-Spieltechniken auf die Gitarre. Das Resultat war ein relaxter, fast schon schwebender Klang. (Albert Koch)
Der Moment: Seine Soli im Grateful-Dead-Song „Dark Star“ tragen Hörer:innen auf andere Bewusstseinsebenen.
94
Duane Allman
1969 gründet Duane die Allman Brothers – und damit den Southern Rock. Sein Markenzeichen: die ausdrucksstarke Slide-Gitarre und seine vom Jazz inspirierten Jams. Mit 24 stirbt er bei einem Motorradunfall. (David Numberger)
Der Moment: Allman war auch Session-Gitarrist. Er spielt die transzendierende Slide-Gitarre in Claptons elektrischer „Layla“-Version.
93
Dolly Parton
Die Erkenntnis, dass Parton eine der besten Songwriterinnen aller Zeiten ist, hat sich mittlerweile durchgesetzt. Aber sie ist auch eine großartige Gitarristin, begleitet sich seit Beginn ihrer Karriere souverän selbst. Ihre langen Nägel seien ihr dabei stets nützlich gewesen, sagte sie einmal. (Rebecca Spilker)
Der Moment: Ihr Gitarrenintro zu „Jolene.“
92
Mick Ronson
Ein Pionier der Glam-Rock-Gitarrenarbeit, der im Verbund mit David Bowie Teil dessen stilprägenden Siebziger-Werks ist und mit ihm als Co-Schöpfer von TRANSFORMER sogar Lou Reed kurzzeitig zur Schminke konvertiert. (Frank Thiessies)
Der Moment: Auf „Moonage Daydream“ verschmilzt Ronsons melodisches Outro-Solo mit seinem kongenialen Streicher-Arrangement zur glamourösen Glanztat.
91
John Frusciante
Er verfolgt nicht nur eine fruchtbare experimentelle Solo-Karriere, John Frusciante macht mit seinem aus- gefallenem Gitarrenspiel auch die Red Hot Chili Peppers zu einer besseren Band – wenn er gerade nicht wieder ausgestiegen ist. (Albert Koch)
Der Moment: Das Jimi-Hendrix-Gedächtnis-Solo am Ende von „Dani California“ auf STADIUM ARCADIUM der Red Hot Chili Peppers.
90
Jeff Parker
In den 90ern brachte er die gewisse Jazziness in die Musik der Post-Rocker Tortoise. Der 56-Jährige ist in allen möglichen Genres zu Hause, bleibt aber im Grunde ein Jazz-Gitarrist, mit einem relaxten, glasklaren Stil. (Albert Koch)
Der Moment: Parker beherrscht auch die freie Improvisation. Zu hören auf „Ugly Beauty“ von seinem 2021er-Soloalbum FORFOLKS.