Gentleman im Interview: „Weiße Menschen wie wir wurden zum Großteil rassistisch sozialisiert“
„Der hypnotische Sound und dieses Gefühl sind etwas, das über Entertainment hinausgeht“: Gentleman im Interview über Reggae, kulturelle Aneignung und sein aktuelles Album MAD WORLD.
Über 20 Jahre ist Gentlemans Debütalbum TRODIN ON nun alt. Seitdem kennt man den gebürtigen Kölner als einen festen Bestandteil der Reggae-Szene und das nicht nur auf deutschsprachigem Boden. Mit bislang sieben Studioalben, zwei EPs und unzähligen Singles tourt Tillmann Otto alias Gentleman seit fast 30 Jahren auf nationaler und internationaler Ebene. Nachdem der 48-Jährige 2020 mit BLAUE STUNDE ein deutschsprachiges Album veröffentlichte, kehrt er mit MAD WORLD wieder in seine Komfortzone Englisch zurück. Inspiration zur Platte bekam der Reggae-Sänger durch die derzeitigen Geschehnisse in der Welt und den Drang, diesem Stress und Druck kurz zu entfliehen: „Es ging jetzt darum in eine Sphäre zu kommen, in der man sich wohl fühlt.“ Einer der Gründe, weshalb MAD WORLD auf Mallorca in einer Finca umgeben von Schafen entstand. Wir blickten mit Gentleman auf seine Karriere zurück und sprachen mit ihm über zukünftige Ziele, Social Media und sinnlose Kämpfe.
musikexpress.de: Auf Social Media hast du darüber aufgeklärt, dass die Songs diesmal ohne den Hintergedanken entstanden sind, sie verpflichtend veröffentlichen zu müssen. Inwiefern unterscheidet sich der Entstehungsprozess von MAD WORLD noch zu vorigen Alben?
Gentleman: Bei den Alben zuvor hatte ich ein festes Datum, an dem ich zwölf Tracks haben musste – diesmal nicht. Und allein die Denkweise, die Songs nicht veröffentlichen zu müssen, hat alles freier gemacht. Nach dem Ausflug mit meinem deutschsprachigen Album ging es jetzt darum, wieder in eine Sphäre zu kommen, in der man sich wohl fühlt und intuitiver arbeitet, anstatt alles zu zerdenken. Trotzdem waren wir sehr fokussiert, weil wir uns vier Wochen in einem Umfeld mit Schafen vor der Tür eingeschlossen und komplett ohne Ablenkungen gearbeitet haben. Gleichzeitig war es eine leichte Arbeitsweise, bei der wir viel gelacht haben und dennoch immer an das Ziel kamen.
Über eine potenzielle Ablenkung singst du auch in „Things Will Be Greater“: „Some people looking for a leader/ what them hand down to them with social media“. Siehst du Social Media als Fluch für die Gesellschaft?
Ich würde nicht sagen, dass früher alles besser war, aber anders. In jedem Bereich gibt es eine Chance und gleichzeitig eine Ablenkung. Social Media ist für mich kein großes Thema, weil ich zur letzten analogen Schnittstelle mit Telefonzellen und Faxgeräten gehöre. Auch, wenn die Entwicklung seitdem krass ist, stellt sich die Frage, inwieweit uns dieser Fortschritt glücklich macht. Ich kriege eher durch zeitlose Dinge wie einen guten Song oder ein Gespräch Gänsehaut. Es ist selten Technologie. Trotzdem ist es eine Herausforderung, sich davon zu befreien und Abstand zu kriegen.
Video: Gentleman – „Things Will Be Greater“
In „Over The Hills“ erklärst du, den Abstand am besten in der Natur zu bekommen. Als ursprünglicher Kölner: Gibt es auch Wege in der Großstadt, um „some peace of mind“ zu finden?
Ja, aber keine Ahnung wie (lacht). Ich glaube, da funktioniert es durch den Zusammenhalt, den man in der Community und dem Familiären bekommt. In Köln sagt man dazu „das Veedel“. Ich habe es schon selbst in Städten wie New York erlebt, dass es ein Verständnis füreinander gibt und man mal aushalten kann, wenn das Gegenüber eine komplett andere Meinung hat. Man spürt ein Potenzial, das aber auch aus dem Ruder laufen kann.
Video: Gentleman – „Over The Hills“
„Fight For No Reason“ lässt mehrere Interpretationen zu: Was steckt dahinter und wodurch wurdest du zu dem Song inspiriert?
Es gab da mal einen „Sportschau“-Bericht über Ausschreitungen mit Hooligans und ich habe mich gefragt, weshalb sie sich überhaupt die Köpfe einschlagen. Es passiert gerade so viel in der Welt und die kämpfen wegen eines Fußballspiels. Das habe ich verallgemeinert und über die ganzen Kämpfe gesungen, die sich nicht lohnen, weil „you fight for no reason“. Gleichzeitig lebt der Song auch eher vom Flow als der Bedeutung, weil es nicht immer darum gehen muss – wie ich momentan auch selbst merke.
Video: Gentleman – „Fight For No Reason“
Du hast Reggae mal als „etwas Grundlegendes, das jeder Mensch sofort versteht“ beschrieben. Was würdest du sagen, sorgt dafür?
Für mich ist es das Zusammenspiel von Drum and Bass. Der hypnotische Sound und dieses Gefühl sind etwas, das über Entertainment hinausgeht. Dahinter steckt eine Magie, die nicht da wäre, wenn man sie erklären könnte. In dem Moment, in dem man sich mit der Musik auseinandersetzt und die Geschichte dahinter versteht, merkt man, wie unfassbar vielseitig sie ist.
Was sagst du zu den Leuten, die dir aufgrund deines Musikstils kulturelle Aneignung vorwerfen?
Ich würde sagen, die Debatte ist gerechtfertigt und ich finde es gut, dass wir darüber sprechen. Ich sehe da aber zwei Tendenzen: Die Debatte bringt uns weiter, hilft uns gegenseitig besser zu verstehen und mit alten Denkmustern aufzubrechen. Es wird aber destruktiv, wenn sie dazu führt, dass wir uns gegenseitig zensieren und nichts mehr dürfen. Für mich hatte „kulturelle Aneignung“ im ersten Verstehen immer eine positive Bedeutung, weil ich es mit dazulernen verbunden habe. Ob bei den Kinderbüchern, die mir meine Eltern früher vorgelesen haben, dem Karneval oder den Festivals in Europa, auf die kaum noch jamaikanische Künstler*innen eingeladen werden. Natürlich war das auch immer ein Thema bei mir, weil ich eine Leidenschaft für diese Musik entwickelt habe, ohne den Hintergrund zu kennen. Doch im zweiten Schritt habe ich mich dann mit der Herkunft des Reggaes beschäftigt. Deswegen bin auch schon früh nach Jamaika geflogen, um mehr über den Ursprung zu wissen. Und ich glaube, wenn wir weiße Menschen uns bewusst machen, dass wir zum größten Teil rassistisch sozialisiert worden sind und uns mit dem Ursprung auseinandersetzen, dann kommen wir einen Schritt weiter.
Gibt es nach so vielen Jahren in der Branche ein persönliches Ziel, das du mit deiner Musik noch erreichen möchtest?
Ich wünsche mir einfach weiter touren zu können! Es gibt noch so viele Orte, an denen wir noch nicht waren und die ich mit meinen Songs bespielen möchte. Außerdem hoffe ich, dass ich weiterhin das, was ich fühle und denke, in meiner Musik manifestieren kann und dafür auch neue Formen entdecke.
Hört hier Gentlemans Album MAD WORLD im Stream: