Die Post-Punk-Legende öffnet das Archiv und befördert aufpolierte Schätze zutage.

Wire mögen ja Kinder des Punk sein, aber wie kaum eine andere Band dieser Zeit schlugen die Londoner bemerkenswerte Richtungs- und Stilwechsel ein. Dazu kommt die bis heute ungebrochene Weigerung, als Verwalter des eigenen Erbes zu fungieren. Wire experimentierten während ihrer Konzerte lieber mit Videokunst und entdeckten Welten wie Elektronik, Avantgarde und Industrial. Sie verwandelten ihre Shows gerne mal in ein dadaistisches Kabarett. Vor allem aber befanden sich Wire schon kurz nach ihrer Gründung 1976 in einem kreativen Rauschzustand, der Projekte wie Dome und Gilbert & Lewis hervorbrachte und damit eine ganze Veröffentlichungswelle – inklusive diverser Solo-Alben – auslöste. Und all das mitten in einem Streit mit ihrer Plattenfirma EMI, damals wahre Meister im Droppen von Künstlern. Aus dieser auch finanziell schwierigen Phase stammt das Material von CHANGE BECOMES US, denn Wire griffen bei Konzerten nur bedingt auf bekannte Songs zurück und spielten zur Irritation ihrer Fans viele neue Stücke, die sie auch kaum geprobt hatten. Eine Ahnung davon, wie Wire in dieser Phase tickten, bietet das Live-Album DOCUMENT AND EYEWITNESS mit seinen Songfragmenten und unausgegorenen Ideen. Die sind nach einer kompletten Runderneuerung bis auf „Eels Sang Lino“ (der jetzt „Eels Sang“ heißt) kaum wiederzuerkennen. So verliert das von „Zegk Hoqp“ in „Re-Invent Your Second Wheel“ umgetaufte Stück seinen Happening-Charakter und verwandelt sich in einen Popsong. Das experimentelle „Eastern Standard“ wird zum anmutigen Song („& Much Besides“) mit Akustik-Gitarre und Synthieflächen. Was CHANGE BECOMES US zu einem klasse Album macht, ist sein selbst für Wire ungewöhnliches Spektrum. „Keep Exhaling“, das hypnotische „Magic Bullet“ und das düstere „B/W Silence“ hätten auf das Meisterwerk 154 gepasst, das harte „Stealth Of A Stork“ dagegen auf PINK FLAG. Wie aus einem Guss klingt CHANGE BECOMES US deshalb nicht, aber das macht gar nichts. Es weckt vielmehr die Hoffnung, dass Wire noch mehr Stoff in ihrer Rumpelkammer finden.