Weise Worte und verbotene Lieder
Zu den erheiternden Ungereimtheiten deutscher Pop-Geschichte zahlt die Tatsache, dass Die Ärzte sich vor mehr als zwei Dekaden ausgerechnet von der Jugendpostille „Bravo“ entdecken ließen. Als nicht ganz lupenreine Punk-Formation mit überloyalem Leumund im Kreuzberger Untergrund galt das Berliner Trio in den frühen achtziger Jahren schließlich weder als jugendfrei noch als pflegeleicht. Doch als am 26. April 1988 in der Münchener Theaterfabrik beim Macht-der-Nacht-Festival die mitunter wackeligen Konzertaufnahmen von die beste band der weit … und zwar live! (Sony BMC, 3,5) entstanden, zählte das nach Ur-Bassist Sahnies unfreiwilligem Abgang durch Hagen Liebing komplettierte Triumvirat schon zur Speerspitze deutscher Popkultur. Wohl gerade weil die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften die vermeintlichen Radikalos gleich mehrmals wegen diverser heikler Texte (u.a. „Claudia hat ’nen Schäferhund“ und „Schlaflied“) auf den Index setzte-Teenager lieben ja nichts mehr, als Provokation um der Provokation willen. Ein cleveres Konzept, das sich, ähnlich wie der durch kurzen Gefängnisaufenthalt und Drogenprozesse überhöhte Rebellenstatus der Rolling Stones, auch noch heute rechnet. Den verbotenen Song „Geschwisterliebe“ skandiert denn die treue Fangemeinde in alter Tradition zum von den Ärzten gespielten Instrumental im Finale des seinerzeit schon auf zwei VHS-Kassetten erhältlichen Artefakts, das in Kooperation mit dem damals einzigen deutschen Kabel-Musikkanal Tele 5 entstanden war. Gewissermaßen die Quintessenz derÄrzte.die sich 1989 für vier Jahre vorübergehend trennen sollten. Der nur selten um einen Kommentar verlegene Farin Urlaub kommentiert die unbeliebte Entscheidung schon zur „Ouvertüre zum besten Konzert der Welt“ mit warmen Worten:“Ich find’s jut, wenn ’ne Band aufhört, solange sie noch toll ist.“ Weise Worte. In der nostalgischen Setlist finden sich denn auch zuhauf Songs, die, sehr zum Verdruss der treuen Anhängerschaft früher Stunde, von den Ärzten heutzutage nicht mehr gespielt werden. Hymnen für die Ewigkeit. Was wäre eine Pubertät in den von Poppern, Punkern und Pershings bestimmten Achtzigern ohne den Klamauk von „Ohne Dich“, „Allein in der Nacht“, „Ist das alles?“, „Du willst mich küssen“ oder „Zu spät“? Erste Erfahrungen mit Fesselsex konnte eine ganze Generation mit „Sweet Sweet Gwendoline“ sammeln. Klar unter die Gürtellinie zielte die probat als Eltern-Schock-Mittel einsetzbare Fäkal-Ode „Madonnas Dickdarm“. Ohnehin Kult sind „Buddy Hollys Brille“, „Elke“ und die unausrottbare Klassenausflugshymne „Westerland“. Als Bonus wurden die Videoclips von „Gehn wie ein Ägypter“, „Westerland“ und „Bitte Bitte“ mit einem Gastauftritt der Pornoqueen Teresa Orlowski dazugepackt. Ein Making Of namens „Sitte Bitte – Nein Danke“ bringt das gemeine Fanherz dann noch einmal so richtig in Wallung. Unterhaltsamer können Hörspielkassetten von „Die drei ???“,ein verregneter Nachmittag mit dem Magic Cube oder eine Doku über Tschernobyl wohl auch nicht sein.
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