Auch im Osten trägt man Westen von Gilbert Furian & Nikolaus Becker ,Archiv der Jugendkulturen, 144 Seiten, 15€€ :: Buch des Monats

Dass es in dem selten verklärten, meist geschmähten, im Westen indes nach wie vor weithin unbekannten zweiten deutschen Staat der Nachkriegszeit einen popmusikalisch motivierten Untergrund gab (übrigens schon lange vor Punk, dann aber erst recht), war eine der überraschendsten Entdeckungen der Zeit nach dem Anschluss der DDR. Selbst Mitglieder westlicher Bands wie Hans-A-Plast, Slime und Tollwut wussten nicht, dass ihre hierzulande in Kleinauflagen erschienenen Tonträger „drüben“ zu Tausenden kopiert und klandestin verteilt wurden – schon gar nicht ahnte man, dass es da eine ganz eigene Szene gab (obwohl, wie hier dokumentiert, nicht nur „Konkret“, sondern sogar die US-Presse darüber berichtete). Inzwischen ist über den DDE-Punk viel geschrieben und erzählt worden, aber selten bis nie so ausführlich und unmittelbar wie in diesem üppig bebilderten Buch, in dem nicht nur (ehemalige) Punks – denen ihre Einstellung und Selbstdarstellung ganz andere Repressalien einbrachte als den westlichen Kollegen – zu Wort und Bild kommen, sondern auch andere Zeitzeugen und Dokumente, etwa Stasi-Spitzelberichte, Vernehmungsprotokolle und Wandsprüche (der zweideutige Titel ist so einer). Gilbert Furian, der 1982 begonnen hat, DDR-Punks zu interviewen (u.a. auch Bernd Lade, damals bei den Bands AFS und Planlos, später als „Tatort“-Kommissar Kain bekannt), ging dafür 1985 ins Gefängnis (wegen „Anfertigung von Aufzeichnungen, die geeignet sind, de» Interessen der DDR zu schaden“), saß später in der letzten DDR-Volkskammer und ist heute ehrenamtlicher Leiter eines Kirchenchors. Sein Thema ließ ihn nie los, mit vielen Jahren Abstand traf er seine Gesprächspartner wieder, um herauszufinden, was aus ihnen geworden ist (die letzten Interviews stammen aus dem Jahr 2000). Sein Buch, das nun in dritter Auflage erscheint, mag auf den ersten Blick in seiner Kleinteiligkeit und Detailwucht abschreckend wirken. Lässt man sich jedoch erst mal reinziehen, kommt man kaum mehr raus vor Faszination.

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