Mlies Davis – The Complete On The Corner Sessions 1972-1975

Nicht nur die Kritiker schlugen in jenen Jahren die Hände über dem Kopf zusammen. Auch die treuesten Fans von Miles Davis trauten 1973 ihren Ohren nicht, als sie einen Herrn und Meister erleben musste, der sich von melodischen Initialen verabschiedet hatte und sich stattdessen in endlos zirkulierenden Improvisations- und Rhythmusschleifen erging. Spätestens da trennte sich die Davis-Gemeinde in zwei Lager. In eines, das ihm Verrat am Jazz vorwarf. Während das andere sich freiwillig in die hypnotisch-dämonischen Welten hineinziehen ließ, die der Trompeter freisetzte. Dabei hätten es eigentlich alle ahnen können, dass Davis spätestens mit On The Corner von 1972 mehr und mehr allen harmonischen Winkelzügen und modulatorischen Raffinessen abschwören würde-zugunsten eines dauerpulsierenden Prozesses, bei dem es nur um die Sogkräfte des Groove ging. Das hatte sich angekündigt in den noch stark rockorientierten Vorgängeralben Bitches Brew und A Tribute To Jack Johnson. Und längst hatte Davis zugegeben, dass ihn James Brown mehr inspirieren würde als der ganze olle Jazz-Krempel. Bei seinen Rhythmus-Exegesen lag fortan nicht nur im Funk die Wahrheit, sondern auch im indischen Raga und afrikanischen Percussionsskalen. Dennoch wurde diese Neugewichtung im Schaffen von Davis bis heute eher stiefmütterlich behandelt. Selbst die groß angelegte, auf acht CD-Boxen angewachsene Davis-Retrospektive widmet sich erst jetzt The Complete On The Corner Sessions 1972-1975 auf Sechs CDS, Ein Drittel der 31 Tracks erlebt hier seine Erstveröffentlichung. Zumal das On The Corner-Album die Schnittstelle zwischen den Aufnahmen zu Big Fun und den Sessions zu Get Up With It bildet, die zwischen 1972 und 1974 stattfanden (das jüngste Stück „Minnie“ stammt von 1975 und kündigt den Pop-Trompeter Davis an). Das knapp 20-minütige „On The Corner“-Elaborat, an dem die Crew um Herbie Hancock, John McLaughlin und Bassist Michael Henderson beteiligt war, ist in seiner sich ständig neu ausdehnenden Intensität genauso spannungsgeladen wie der Take 3 von „On The Corner“. Nur dass dieser unter anderen Vorzeichen und mit schlierenden Sitar-Klängen dahinwabert.

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