Diverse – Love Is The Song We Sing: San Francisco Nuggets 1965-1970 :: California über alles

Das werden die Amerikaner den Briten wohl nie verzeihen: Das Land, das den Rock’n’Roll erfunden hatte, war Mitte der 60er-Jahre – popkulturell betrachtet – fest in englischer Hand. Der Soul aus Detroit und Memphis war natürlich uramerikanisch, und mit Bob Dylan und den Beach Boys gab es auch weiße Jungs, die erfreulich eigenständig und sogar stilprägend agierten. Der überwiegende Rest: Garagenbands, die nicht nur versuchten, wie die Beatles, Stones oder Yardbirds zu klingen, sondern auch so auszusehen. Paradox: Während britische Musiker notfalls ihre Bandbusse verpfändeten, um sich teuer importiertes Equipment aus dem Rock’n’Roll-Land USA leisten zu können, waren ihre transatlantischen Kollegen begierig auf Vox-Instrumente aus England. Britishness war also das große Ding in dieser Zeit, doch um 1965 gärte es in Amiland, genauer gesagt: in Kalifornien. Noch genauer: in San Francisco.

In Los Angeles waren zwar die Plattenfirmen und Studios ansässig, doch Musiker wurden hiermit unter allzu schnell in ein Korsett gepresst. Häufig in ein britisches Fabrikat, denn die meisten Manager und Produzenten der etablierten Firmen wollten einerseits auf Nummer sicher gehen, andererseits verachteten sie die jungen Wilden ohnehin als Manipulationsmasse und kurzlebige Zirkus-Acts. Künstlerische Identitäten konnten sich da nur schwer entwickeln, The Doors, Love, The Electric Prunes und The Byrds waren die rühmlichen Ausnahmen, doch der Bodensatz musste leiden. Im ländlicheren, liberalen und weniger durchkommerzialisierten San Francisco blühte indes eine zunehmend eigenständige Szene. Der Briten-Beat war auch hier die Initialzündung, doch Bands wie The Charlatans und The Warlocks – aus denen später Grateful Dead wurde – bedienten sich ebenso beim heimischen Folk. Auch längliche Improvisationen, bislang der amerikanischen Volksmusik Jazz vorbehalten, hielten Einzug. Denn noch etwas sollte die später als „San Francisco Sound“ vermarktete Pop-Spielart prägen: LSD, dessen Konsum in Kalifornien bis Ende 1966 nicht einmal illegal war. Derart jeglichen Zeitgefühls entledigt, durfte ein Live-Gitarrensolo fortan auch mal eine Viertelstunde dauern.

Zwar war die Szene musikalisch heterogen, doch fast alle einte ein gewisser Hang zum Experiment. Ob indische Mythologie, das Kommunenleben, freie Liebe oder der Protest gegen dumpfes Konsumdenken und den immer grausamer werdenden Vietnamkrieg: Die erwachende Gegenkultur befruchtete die Musik, die Musik wiederum befruchtete die Gegenkultur. Das ging so lange gut, bis Mainstream-Amerika das große Geld witterte und sich seine Hippies fortan selber machte. Etwa im ausnehmend schrecklichen Musical „Hair“, das dank Bildungsbürgern und Voyeuren (nackte Menschen auf der Bühne!) zum Broadway-Erfolg und späteren Exportschlager wurde.

Love Is The Song We Sing: San Francisco Nuggets 1965-1970 gewährt auf vier CDs einen guten Einblick in die Entwicklung der dortigen Szene. Vom Polit-Protest bis hin zum eskapistischen Hippie-Epos, von schlichtem Folkbis hin zum verspielt dahinfließenden Acid-Rock, vom zornigen Garagenlärm bis hin zum knarzigen Blues und erstaunlich frisch klingender Avantgarde ist hier alles vertreten. Dass etwa „Red The Sign Post“ von der Band Fifty Foot House fast 40 Jahre alt ist, kann man kaum glauben. Und das paranoide „Amphetamine Gazelle“ von Mad River nimmt rhythmisch gar den Speed-Metal vorweg. Genau das macht den Reiz dieser Songsammlung aus: Es gibt hier etwas zu entdecken. Das muss nicht zwangsläufig Musik sein, die einem das Leben verändert und den dringlichen Wunsch weckt, im psychedelischen Bodypainting die Fußgängerzone zu bereichern oder konspirativ LSD ins Trinkwasser zu kippen. Aber es ist eine Musik, die zum großen Teil erfrischend unfertig klingt, die das aus heutiger Sicht naive „Alles-ist-möglich-wenn-wir-nur-wollen“ jener Ära wunderbar widerspiegelt. Vieles war ja auch möglich damals. Aber eben nicht alles.

Mit den grässlichen Flower-Power-Samplern, die spät in der Nacht in epischer Breite in den Teleshopping-Kanälen im Fernsehen beworben werden, hat san Francisco nuggets überhaupt nichts zu tun. Natürlich werden auch hier die Szene-Stars Jefferson Airplane, Quicksilver Messenger Service, Santana, Grateful Dead und Janis Joplin gewürdigt, die von San Francisco aus zu weltweitem Ruhm gelangten. Der Großteil der Songs auf der Box stammt jedoch von absoluten No-Names wie Butch Engle & The Styx, Frumious Bandersnatch oder The Frantics. Rares und Obskures, das allerdings nicht immer ganz zu unrecht dem Vergessen anheim gefallen ist. Das qualitative Niveau der 77 Songs schwankt ganz gewaltig, etwa ein Drittel ist wohl eher von historischem Interesse als künstlerisch relevant. Um dem floralen Grundmuster jener Epoche gerecht zu werden: Dafür wird man Zeuge, wie diese San-Francisco-Pflanze keimte, aufblühte und Ableger produzierte, die bisweilen sogar im Rest der Welt munter weiter wuchsen. Ein paar Blumen verwelkten aber auch und landeten im Komposthaufen der Popgeschichte. Der ganz normale Lauf der Dinge also.

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