Tocotronic – Kapitulation

Die Schönheit der verpassten Chance

Rockmusik ohne Männerschweiß - Tocotronic und ihre Musik gewordene Weigerung, unerheblich zu werden.

Am Anfang war das Bild. Ein junger Mann mit homoerotischer Ausstrahlung. Im Halbprofil gemalt. Öl auf Leinwand. Die geröteten Augen fixieren einen Punkt rechts von ihm. Der Blick zwischen Entschlossenheit und Kapitulation – das „Portrait Of Douglas Morgan Hall“ aus dem Jahr 1889 von dem amerikanischen Maler und Fotografen Thomas Eakins auf dem Cover des Tocotronic-Albums Kapitulation. Eakins‘ realistische Gemälde sind überzogen von einem geheimnisvollen Schleier und damit doch vielmehr Interpretation als Abbild einer theroetisch denkbaren „objektiven Wirklichkeit“, die allein durch die Intervention des Beobachters, des Künstlers, zu einer subjektiven Wahrheit werden muss.

Der Schleier, der die Realität in eine persönliche Sichtweise umcodiert, ist der Link vom Coverbild zu der Musik, die wahrscheinlich im medialen Blätterwald im Jubel-Rauschen der Texrinterpretationen untergehen wird. Denn hier geht es um Tocotronic. Eine deutsche Band. Und Deutsch verstehen wir alle ja ganz gut. Freilich: die persönliche Kapitulation, die Selbstaufgabe, die Verweigerung des weiter Funktionierenmüssens – für sich, für „die Anderen“, vor der Gesellschaft, als Akt der Befreiung zu sehen, als Ausgangspunkt eines Neuanfangs zu begreifen, ist ein schönes Gedankenmodell, vor allem in Zeiten, in denen „ein Ruck“ durchs aufwärtsgestimmte Land geht. Misstraue der Idylle. Think negative. Das muss die Position des Künstlers sein, das ist die Position von Tocotronic, ganz gleich ob sie sich gerne „politisch“ nennen lassen, oder nicht. Dirk von Lowtzow gefällt sich auf Kapitulation in optimistischem Masochismus. „Mein Ruin ist mein Bereich, denn ich bin einer unter euch. Mein Ruin ist, was mir bleibt, wenn alles andere sich zerstäubt“, singt er in „Mein Ruin“. „Wehrlos“ ist das freudvolle Eingeständnis der bedingungslosen Selbstaufgabe des Individuums vor einem nicht näher bezeichneten Gegenüber: „Ich bin wehrlos ohne dich. Ich bin ratlos ohne dich. Ich bin schlaflos ohne dich. Ich brauche Valium ohne dich“ („Wehrlos“). Und so könnte man seitenweise weiter über die Schönheit der verpassten Chance philosphieren, der Tocotronic mit Kapitulation ein würdevolles Denkmal bauen.

Dass diese Band nach 13 Jahren selber kein „musikalisches Denkmal“ geworden ist, dass von Lowtzow, Jan Müller, Rick McPhail und Arne Zank nicht als Heilige auf dem Rockolymp ihre Zeit totschlagen, darf mit einer gewissen Befriedigung konstatiert werden. Eine Band, die in ihrer Anfangsphase den Dilettantismus (LoFi- Aufnahmen, Polaroid-Fotos als Covermorive) gepflegt hat und seit ihrer Neuerfindung 1999 mit K.o.o.-K. von Album zu Album immer besser wird – das hat man auch nicht alle Tage.

PURE VERNUNFT DARF NIEMALS SIEGEN (2005) war das „Dogma-Album“, ein Versuch über die Repetition, mit einfachen (auch elektronischen) Mitteln. Kapitulation ist das Rock-Album von Tocotronic. Rock, der nicht nach ehrlich vergossenem Männerschweiß und Dixie-Klos riecht. Die Single „Sag alles ab“ – ein exakt zweiminütiger Punkrocksong, überführt eine gewisse Tote-Hosen-Haftigkeit in einen unpeinlichen Kontext. It’s halt nach wie vor the singer und not the song. Das Intro von „Harmonie ist eine Strategie“ stehlen Tocotronic vorsorglich von sich selbst („Ich habe Stimmen gehört“), was aber nichts macht, weil „talent borrows, genius steals“. Das Lied: Caspar David Friedrich in Mystic-Rock, ein Lobgesang auf die Harmonie im Allgemeinen und die in der Partnerschaft im Besonderen, unter Berücksichtigung von Fauna und Flora als favorisierte Topoi jüngeren deutschen Liedguts mitteljunger deutscher Bands: eine Allee, ein Park, ein Fluss, Gras, Elstern und steinerne Sphinxen spielen eine Rolle in dieser Erzählung, die vielleicht das schönste Stück Lyrik enthält, das auf einer Popplatte in Jahren zu hören war.

Weitere geniale Diebstahlsvorwürfe: „Wehrlos“, das nicht nur durch seinen Titel, sondern auch mit einer gefühlten Pedal-Steel-Guitar wie eine Fantasie über Neil Youngs „Helpless“ wirkt. Die Zeile „Entschuldigung, das hob ich mir erlaubt“ in „Luft“ haben sich Tocotronic von den Prinzen („Alles nur geklaut“) ausgeliehen. „Ich bin ein Star, holt mich hier raus „, heißt es dann in „Aus meiner Festung“. Zum Schluss die „Explosion“. Der Beleg für Tocotronics Wissen um die Bedeutung von letzten Songs auf ihren Platten. Dieses Lied ragt wie ein Monolith aus dem Album heraus mit seinen zähen, epischen Gitarren und verschwindet dann unter dem sanften Brummen der Verstärker im leeren Raum. Letztlich doch ein Triumph und keine Kapitulation.

www.tocotronic.de