Jamie T. – Panic Prevention :: Genie und Vorstadt
Weil wir Musikjournalisten so gerne einordnen und sortieren, freuen wir uns, wenn am Ende alles hübsch einsortiert und geordnet ist und nichts mehr frech seitlich rauslurt. Am meisten freuen wir uns aber, wenn sich doch mal wieder was querstellt, so quer, dass im besten Fall die sortierten Sachen gar keinen Platz mehr haben. Die kehren wir dann zusammen, kippen sie in den Papierkorb und haben Zeit zum Widmen.
Bei Jamie Treays fängt’s mit dem Namen an: Den kann keiner richtig aussprechen; ich tendiere zu „Tri-ais“, aber statt sich einen feinen Künstlernamen zuzulegen (sagen wir: Costello, Dylan, Strumrneroderso), kürzt Jamie das Ding einfach ab. Könnte cool sein. Oder wurstig: Was ist schon ein Name, wo’s doch um die Geschichten geht? Jamie ist 21, war bis vor relativ kurzer Zeit noch ein Schulbub und litt unter Panikattacken. In der Londoner Vorstadt eu Hause (in Wimbledon, dem größten Teil der Menschheit als Millionenabholschalter für Tennisspieler bekannt, in Wirklichkeit ein typisches Mittelschichtgeschwür: viel gepflegtes Grün, viele gepflegte Häuser, die alle gleich aussehen), verbrachte er seine Zeit damit, mit Freunden rumzuhängen, Zeug zu nehmen, Sachen zu tun, die man tut, wenn einem langweilig ist und alles gleich aussieht: in „Situationen“ geraten vor allem. Daraus entstanden Geschichten, halb wahr, halb erfunden, typisch, grotesk, wirr und oft auch witzig, laut Jamie „messy“ und „weird“ – so „weird“, dass er (nach vier intensiven Monaten) zu den Panikattacken noch Agoraphobie bekam, sich daheim einsperren musste und aus den Geschichten Songs machte – etwa den von Sheila, die mit ihrer „Freundin“ Stella (einer Freundin mit einem Bein, Kronkorken und dem Nachnamen Artois) ausgeht und Opfer, Protagonist, Beobachter, Täter wird. „Sheila“ war einer der schönsten Songs des letzten Sommers-gerade deshalb, weil man den Refrain im besäuselten Terrassenpartychor mitgrölen, sich dabei supermega fühlen kann und trotzdem merkt, wie viel Entfremdung, Melancholie, Verrat zwischen den vielen Zeilen dieser epischen Großcollage vorstädtischer Selbstzerstörung durchscheint (derText ist gut drei Seiten lang!).
Das ist das eine. Jetzt kommt die Musik. Die half Jamie, mit seinen Anfällen umzugehen, indem er sich auf eine Bühne stellte, mit einem alten Akustikbass Geschichten erzählte und zwischendurch Mixtapes laufen ließ, denen er den Zwecktitel „Panic Prevention“ gab: zerschnipselte Selbsthilfeplatten mit Musik von The Clash, Squeeze und anderen. Und von ihm selbst. Davor hat Jamie auch mal in einer Punkband gespielt, deren Hauptvorbild Rancid war. Deren „Hoover Street“ hat Jamie immer noch im Liveprogramm, weil er aber eine Zeile davon nie richtig verstanden hat, singt er einfach „Aaaashbraaakaa!“ oder so ähnlich, und keiner merkt was. So hat Jamie Punk kapiert: Fuck off, wir machen das einfach so! Weil Punk als Stil indes zur Selbstparodie neigt, sah er sich weiter um und fand ein ähnliches „Ethos“ im britischen HipHop, und wenn andere Stile sich dem widersetzten, ignorierte er sie als Traditionen und erfand sie neu. Erzählte seine Storys, schrammelte wie ein manischer Straßenprediger auf dem Bass herum, saß daheim und schraubte mit der billigsten Studiosoftware Tracks zusammen, schnitt Diktiergerätaufnahmen von labernden, schimpfenden, lachenden Kumpels und Freundinnen dazwischen und wurde dank einer höchst privaten M ischung aus Engstirnigkeit und Weltoffenheit zu dem, was er ist: ein musikalisches Phänomen, das die einen mit Woody Guthrie und Bob Dylan, andere mit The Streets, Ian Dury, Elvis Costello, Billy Bragg, Tricky, Joe Strammer, WTeckless Eric, The Specials, Blur, Arctic Monkeys, diversen Vorkriegs-Sumpfbluesem, Spätsommer-Reggae/Dub-Heroen und den sandini-STA-Clash vergleichen (Letztere liebt und verehre Jamie so sehr, dass er. als unlängst plötzlich Paul Simonon neben ihm stand und fragte, ob er mit auf die Bühne darf, vor lauter Aufregung seinen alten Holzbass geschrottet hat). Inzwischen hat Jamie endlich (wieder) eine Band (alte Freunde: „Kerry spielt Keyboards, Lewis Gitarre, ich auch, Ouncan Bass und Ben Schlagzeug“ fragt bloß nicht nach Nach- oder Künstlernamen!) und ist also ein Solist, der keiner mehr ist.
Schubladen. In keine davon passt Jamie T. rein, ohne dass Hände, Füße, Kopf und Hintern an allen Seiten herausragen. Aber wer fünf Sekunden lang mit offenen Ohren und offenem Herzen der weltenalten Liebesverzweiflungsleere in „Dry Off YourTears“ lauscht und danach nicht erstens diesem Album hilflos verfallen ist, zweitens tausend neue Gründe weiß, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen, panic prevention ist keine Therapie, sondern ein Bündel geiler Ohrwürmer, ein Universum von großen und kleinen Lebensmelodien, ein unerschöpflicher Vorrat an Geschichten, die ausreichen, um Bibliotheken und hundertfolgige Soap-Operas zu füllen, vorgetragen mit einer Stimme, die nicht zu ersetzen, zu verbessern, zu vergleichen ist. Wir werden diesen Frühling, Sommer, Herbst im Zweifelsfall kaum etwas anderes hören (wollen), und wir werden die Platte in zehn Jahren immernoch mit schmelzender Seele auflegen, was auch immerbis dahin passiert. Word. »>
www.jamie-t.com
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