Beirut – Gulag Orkestar
Zach Condon kommt aus Albuquerque, New Mexico, besitzt russische Vorfahren und kennt Polkas wohl aus der Plattensammlung seines Großvaters. Weil er das College ohnehin schmeißen wollte, trat er eine Europareise an, die ihm schon länger vorschwebte. Die Songtitel auf seinem Album mögen Stationen dieser Tour verraten („Bratislava“. „Prenzlauerberg“, „Brandenburg“ und „Rhineland (Heartland)“, genau genommen aber hat der 20-jährige Amerikaner einen einzigen rauschhaften Ort besucht, er wilderte dabei im Tollhaus des Balkan-Brass. Wieder zu Hausein New Mexico – so geht die Geschichte von dem Jungen mit dem roten Stern auf der Wollmütze dann weiter – spielten die Musiken, die er auf seiner Reise gehört hatte, im Kopf Condons plötzlich alle auf einmal, und aus den Überlagerungen und den Verzerrungen wuchsen dabei neue Lieder heraus. Partysongs, Balladen, Märsche, Walzer, sagenhaftes, sehnsüchtiges Lailailai und die Blasmusik aus diesen langen Nächten. Zach Condon spielt das alles mit dem frischen Mut eines Indierock-Boys, der keine Gitarre mehr anrührt, weil man immerzu die Gitarre von ihm erwartete. Statt dessen hören wir Trompete, Ukulele, Mandoline, Piano, Orgel und Akkordeon; Percussion und Violinen trugen ihm Jeremy Barnes und Heather Trost (A Hawk And A Hacksaw) zu. Zuerst machte „Postcards From Italy‘ unter Internet-Bloggern die Runde, ein romantischer Folksong, der von Liebe und Tod erzählt und mit Ukulele und polternder Basstrommel aus dem Bedroom in die Welt fährt. Bald angeführt vom Crooner Condon, der sich im Bläserwind wiegt, im Strudel der Melodien fast verschwindet, gulag orkestar ist wie ein Fiebertraum, mit heißen Tränen gespielt und mehr der reichen Imagination eines großen Jungen als dem tatsächlichen Besichtigungsprogramm „Ost-West“ geschuldet – das Europa Condons scheint manchmal noch vom Eisernen Vorhang durchschnitten. Es ist ihm auf vergilbten Bildern zugeflogen, wie jenem vom Mädchen, das nun auf dem Cover des Beirut-Albums zu sehen ist. Der Spielzeug-Synthie in „Scenic World“ erinnert immerhin daran, dass dies eine Platte aus der Post-Beatles-Ära ist. Gleich wo und wie, hier fliegen die Emotionen hoch, mit jeder Melodie, jedem schneidigen Bläsersatz. Eine nackte Freude ist das. Die Amis freuen sich, dass einer ihnen die Alte Welt neu ausgemalt hat. Die Brandenburger freuen sich über ihr Bundesländerlied, die Rheinländer über eine unerwartete Hymne an ihre Heimat, das Internet über einen Ostblogstar. Calexico-Fans hören die Bläser, die sie zuletzt so sehr vermissten, Thomas Meinecke träumt heute nacht vielleicht vom kalifornischen GI-Sohn David Lowery, den es vor fünfzehn Jahren mit einer vergleichbar transatlantischen Melancholie auf das FSK-Album SON of kraut trieb: „When it rains in Texas it snows on the Rhine . Und ich habe gerade meine „Platte des Monats“ gefunden.
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