Morrissey :: Ringleader Of The Tormentors

Pop: Die Welt sucht einen Superstar? Sie hat ihn (endlich) gefunden.

Seit zwölf Jahren gilt: Der „schwierige“ Song ist auf Morrissey– Alben immer der erste. Man denke an „The Teachers Are Afraid Of The Pupils“: Kein Kritiker hatte Zeit und Nerven, den Elf-Minuten-Exorzismus durchzustehen. Die ersten paar Minuten entscheiden nicht nur darüber, wie Rezensenten mit Morrissey-Alben umgehen, sie geben auch einen gerafften Eindruck vom Innenzustand ihres Schöpfers. Das läßt Großes hoffen: „I Will See You In Far Off Places“ hätte früher „You Will Never See Me Anywhere Because I Must Stay In This Dark Cellar All On My Own“ oder so geheißen. Heißt: So gelassen, fast fröhlich hat man den großen Anrilächler seit „Everyday ls Like Sunday“ nicht gehört. Und dabei ist der Opener trotzdem „schwierig“, musikalisch: eine Melange aus fernöstlichen Melodieläufen und einer Gesangslinie, die zeigt, daß der Mann mit der Ausnahmestimme, der seinen Gesangsunterricht mit den Smiths (und manchmal nervenzerrenden Resultaten) nahm, mit 46 Jahren und einer fast operatischen Perfektion immer noch Neues versucht und schafft. Ohne, dies vorab, den modischen Firlefanz, mit dem sich sein geistiger Bruder David Bowie seit über 20 Jahren systemarisch ruiniert.

Damit ist das Terrain abgesteckt: Nachdem Erfolg des wegen siebenjähriger Absenz erfreulichen, aber inhaltlich etwas konfusen, zudem dank billigmodern-kalifornischer Produktion unterwältigenden Vorgängers You Are The Quarry geht es nicht mehr darum, realen oder vermeintlichen Gegnern was zu beweisen (oder die Faust zu zeigen). Zum ersten Mal seit Über zehn Jahren scheint Morrissey überhaupt keine Gegner mehr zu haben, nicht mal in sich selbst, und kann tun, was er will, mit triumphaler Grandezza. Nicht zufällig ein italienisches Wort – das Album entstand in Rom (samt Straßen-Atmo und Orchestrator Ennio Morricone), und nirgends auf der Welt wäre der „neue“ Morrissey besser aufgehoben als hier, wo Liebe, Leben und Wahnsinn ohne Zwischengrenzen toben. Da kommt man auf Gedanken, und so finden sich in der episch-luftigen Ballade „Dear God, Please Help Me“ „explizite“ Passagen, die über Andeutungen hinausgehen und das Bild des zölibatären Körperverweigerers auf den Kopf stellen. Freilich folgt die Schuld auf dem Fuße (zum Thema „Morrissey und der Katholizismus“ ließe sich ein dickes Buch füllen), aber das Fazit lautet: „I am walking through Rome/And there is no room to move/But the heart feels free“ Danach wird es noch italienischer und auf geradezu dandyhafte Weise frohgemut, und Band, Orchester, Kinderchor und Tony Visconti (der seit 1973 nichts annähernd so Gutes mehr produziert hat) sticht dermaßen der mediterrane Hafer, daß die Platte von Song zu Song mehr überschäumt, bis „In The Future When All’s Well“ mit einem Glamrock-Eröffnungsriff auf turmhohen Glitzerabsätzen daherstolziert und in einem so akrobatischen melodischen Todessprung endet. daß einen danach selbst eine 15minütige Salsa-Party nicht mehr überraschen würde. Aber „Seite zwei“ ist von anderem Kaliber; das schwer verregnete, aus mehreren ineinanderfließenden „Sätzen“ grandios aufgebauten Epos „Life’s A Pigsty“ führt noch einmal zurück in die Vergangenheit, ein letzter Exorzismus halbtoter Geister, die toben und endlich unterliegen:

„Even now/In the final hour of my life/ I’m falling in love again. „Vier weitere Songs nehmen den Faden von Maladjusted (1997) auf, mit noch gewachsener musikalischer Meisterschaft und einer majestätischen Leichtigkeit, die die düstersten Augenblicke erfüllt. Mit dem Finale „At Last I Am Born“ verklingt das Album lyrisch und musikalisch in stratosphärischen Höhen. Wer danach gleich wieder Musik auflegt, tut sich und dieser keinen Gefallen – man sollte es nachhallen lassen, dieses Meisterwerk, das nur so sprüht und strahlt vor künstlerischer Kraft und genialen Details. Daß eine solche Platte im Frühling erscheint, nach einem der längsten und kältesten Winter seit langem, ist Zufall. Aber selbst der zwinkert.

Ob Morrissey diesen Triumph übertreffen kann und will, ist eine nebensächliche Frage. Er müßte dazu vielleicht wiederumziehen – nach Tibet, um sich als wiedergeborener Dalai Lama zu entpuppen, oder so was. Das wäre aber wohl ein bißchen zuviel Humor. Einstweilen genügte ein Lächeln.

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