Schweres Beben

Der Mensch ist kein vernunftbegabtes Wesen. Wenn es ein Fehlverhalten gibt, dessen Folgen erst eine halbe Lebensspanne später spürbar werden, wird er dieses Fehlverhalten notfalls bis zur Selbstvernichtung weiterbetreiben, solange sich damit mehr Geld auf gewisse Konten pumpen läßt. Gepumpt wird in diesem Sinne auch in dem 1992 erschienenen zweiten Roman des Bestsellerautors Franzen – flüssiger Giftmüll nämlich, in ein Bohrloch, mit dem ursprünglich Öl in bis dahin unergründeten Tiefen gefunden werden sollte. Viele Jahre später ist der Untergrund gesättigt mit dem tödlichem Dreck, von dessen „Entsorgung aufgrund strengster Klandestinität kaum jemand weiß, und da beginnt ganz plötzlich die Erde zu beben. Ausgehend von diesem (tatsächlich historischen) Szenario erzählt Franzen mit anekdotischer Schärfe und aus unterschiedlichem Blickwinkel von den ineinander verwobenen Leben einer Reihe von Menschen, in deren ungefährem Mittelpunkt der arbeitslose Ex-Radio-Jobber Louis Holland und die Seismologin Renee Seitchek stehen. Louis Mutter hat von ihrer während eines Erdbebens ums Leben gekommenen Mutter ein Vermögen geerbt, das auf unheilvolle Weise mit den kriminellen Machenschaften des Konzerns Sweeting-Aldren zusammenzuhängen scheint. Renee wiederum sucht die Ursachen der geheimnisvollen Beben zu ergründen, und ihre Forschungen weisen in dieselbe Richtung … Die „Strang Motion“ im Originaltitel beschränkt sich jedoch nicht auf die Erde – zwischen Renee und Louis entzündet sich eine körperlich wie seelisch exzessive Beziehung, deren Epizentrum der Television-Song „See No Evil“ sein konnte, und neben den diversen, unvermittelt aufbrechenden Familienkonflikten ist da auch noch ein schillernder, ebenso faszinierender wie abstoßender Prediger und Sektenführer, dessen Kampagne gegen Abtreibung Renee beinahe das Leben zu kosten scheint – es könnte jedoch, mehr sei nicht verraten, auch jemand anderer dahinterstecken. Der Roman hat seine Schwächen, zu denen man das geradezu herausstrahlende ehrbare Engagement seines Autors nicht unbedingt zählen muß: Die Story läuft schleppend an, die Metaphern vom Beben und von der vermeintlichen „Entsorgung“ (Giftmüll/Abtreibung) wirken mit der Zeit etwas überstrapaziert, die scheinbar unabwendbare Apokalypse ein bißchen arg auf Effekt getrimmt, und das Ende der Erzählung schimmert im güldenen Licht eines amerikanisch-moralischen Happy-Ends, das den Menschen allzu gerne doch als vernunftbegabtes Wesen sehen möchte („Solange sich Menschen für die Belange anderer Menschen interessieren, für die Mechanik politisch fragwürdiger Systeme oder für Probleme des Fundamentalismus, wird es den Roman geben“), sagte Franzen dazu in einem Interview!. Hinzu kommt, daß die sprachliche Präzision in der deutschen Übersetzung unter dem wie üblich recht wirr umgesetzten Zwang zur Reformschrift leidet („Bis Morgen!“). Dennoch ist ‚Schweres Beben‘ in jedem Fall lesenswert, und sei es nur als spannendes, mit Witz und Wut geladenes Gesellschaftspanorama, das ein Kritiker so beschrieb: „Als hätten Bob Dylan und The Clash zusammen einen Song geschrieben“.

www.jonathanfranzen.co