MC5 – Purity Accuracy :: Kick Out The Jams, Motherfuckers!

Mit dem Begriff Authentizität lassen sich im sechsten Lebensjahrzehnt des Rock’n’Roll nur noch wenige Bands und Interpreten assoziieren. Dass das vor dreieinhalb bis vier Jahrzehnten ganz anders war, davon können heutige Jugendliche mit dem Hang zur Nonkonformi tat nur träumen. Wer konnte ahnen, dass aus den Heerscharen wilder Protagonisten mit dem Faible für krachige Drei-Akkorde-Hymnen und plakative radikale Botschaften ausgerechnet zwei in etwa zeitgleich gegründete Bands aus Detroit nachdrücklich ihre Spuren in den Annalen des Rock hinterlassen würden? Die eine, The Stooges, allein schon durch den noch immer prominenten Frontmann Iggy Pop nie in Vergessenheit geraten, hat gerade nach 30-jähriger Pause in fröhlicher Eintracht und (fast) in Originalbesetzung eine viel beachtete Reunion gefeiert. Bei der anderen, nicht minder gewichtigen Band, MC5, liegt der Fall in puncto Einfluss und Inspiration auf nachfolgende Musikergenerationen zwar ähnlich, doch zur Wiedervereinigung 2003 konnten nur drei der fünf Urmitglieder antreten – Sänger Rob Tyner und Gitarrist Fred „Sonic“ Smith weilen nicht mehr unter den Lebenden. Dennoch sind MC5 momentan angesagter denn je, unter anderem deshalb, weil sie von geistig verwandt fühlendem Nachwuchs wie Jet, The Soundtrack Of Our Lives, The Hellacopters, The Hives und The White Stripes vergöttert werden. Das bedeutet, dass jüngere Musikliebhaber heute erst über diesen (Um-)Weg die Bedeutung und die Musik von MC5 entdecken.

Um dem neuerlichen Interesse an MC5 Rechnung zu tragen, erklärten sich die Urmitglieder, Gitarrist Wayne Kramer, Bassist Michael Davis und Schlagzeuger Dennis Thompson, erstmals bereit, eine umfassende Werkschau zu autorisieren. Akribisch zeichnet die6-CD-Box PURITY ACCURACY die Entwicklung des Quintetts im Laufe seiner kurzen Existenz nach, wühlt tief in Archiven, entdeckt längst verschollen Geglaubtes, entpuppt sich als wahre Raritäten-Schatztruhe und darf getrost als die MC5-Chronik betrachtet werden, die einen Bogen spannt von den wilden Gründerjahren Mitte der Sechziger bis hin zur aktuellen Reunion.

Mit 40 zum größten Teil unveröffentlichtenTracks, darunter Demos, Alternativ-Versionen, Instrumental-Fassungen, Rehearsals und WoTk-in-Progress-Einblicke, lässt sich auf den CDs 1 und 2 die turbulente Ära der Jahre 1965 bis 1972 nach vollziehen. Dankenswerterweise kreuzt das Material dabei kein einziges Mal den Pfad der drei Alben-Originale KICK OUT THE JAMS, BACK IN THE USA und HIGH TIMES aus dem Fundus von Elektra und Atlantic: Vom manischen Riff-Rocker „Skunk“ über die außer Kontrolle geratene „Sister Anne“, das schleichend-toxische „Poison“, das zeitlose „Looking At You“ und den skurrilen „Human Being Lawnmower“ bis hin zur gesuchten, nur auf Bootleg erhältlichen Rarität „Baby Won’t Ya“ mit den von Fred Smith gesungenen Guidelines für Rob Tyner.

Erstaunlich auch die Menge an Coverversionen, an denen der typische MCs-Sound einst reifte und die durch den starken künstlerischen Charakter der Band so klingen, als wären es Eigenkompositionen: Etwa Van Morrisons „1 Can Only Give You Everything“ von der allerersten Single, die die Band 1966 noch unter dem Namen Motor City Five veröffentlichte. Aber auch Granaten der Rock’n’Roll- und Rhy thm’n’Blues-Ära wie Chuck Berrys „Back In The USA“, Little Richards „Tutti Frutti“, Screamin‘ Jay Hawkins‘ „I Put A Spell On You“, Bo Diddleys „I’m A Man“ und Booker T. Jones/William Beils „Born Under A Bad Sign“ entwickeln in den Versionen von MC5 ein Eigenleben. Discs 3 bis 5 widmen sich mit 29 Songs drei direkt vom Mischpult aufgezeichneten Konzerten aus den verschiedenen Sturm-und Drang-Phasen der Band -zwei aus dem Jahr 1968 (live at THE GRANDE BALLROOM, LIVE AT THE STURGIS ARMORY MICHIGAN), einer von 1970 (LIVE AT THE SAGINAW CIVIC CENTRE) -, die trotz teils holpriger, dumpfer Tonqualität zeigen, dass MC5 vor Publikum eine faszinierende Dreidimensionalität erreichten, die auf den Studioalben nur selten zur Geltung kommt. Erstaunlich auch das Faible für Soul und Funk von James Brown: „It’s A Man’s, Man’s World“ sowie ein Medley aus „Cold Sweat“, „I Can’t Stand Myself‘ und „There Was A Time“geben Einblick in den Facettenreichtum der Detroiter Musikkommune. Die sechste CD enthält vier rasante Impressionen des Reunion-Konzerts vom 13. MäTz 2003 im Londoner 100 Club: Gaststars wie Nicke Royale (Hellacopters), Motörheads Lemmy und Dave Vanian (The Damned) assistieren bei Songs wie „Gotta Keep Movin'“, „Sister Anne“ und „Looking At You“. Abgerundet wird die Anthologie durch ein Booklet mit Interviews aller noch lebenden Mitglieder inklusive des nicht unumstrittenen Mentors und Managers John Sinclair, rarem Fotomaterial sowie zwei im Spät-Sixties-Look gestalteten MCs-Aufklebern.

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