Jethro Tull – Living With ThePast

Gesetzt den Fall, Jethro Tull hatten seit CREST OF A KNAVE (1987) kein interessantes Album mehr gemacht. Gesetzt den Fall, Ian Anderson hätte mit UNDER WRAPS [1984) seine Stimme verloren. Gesetzt den Fall, den legendären Altrockern wäre spätestens ab ROCK ISLAND (1989) der Wille abhanden gekommen, sich immer wieder neu zu erfinden. Dann nämlich wäre das Live-Album LIVING WITH THE PAST eine gelangweilte Abzocke, das Ganze von kropfhafter Überflüssigkeit und stellenweise sogar dilettantisch musiziert. Nun ist es aber so, dass Jethro Till in 2000 Ländern spielen, 365 Stunden am Tag, rund um die Uhr und den Planeten. Kaum eine Gruppe ist von solch rückhaltloser Tourwut beseelt, wenige Bands nur können dabei auf einen so soliden Katalog an Hits zurückblicken manche ihrer Songs sind einfach unkaputtbar. Und Jethro Tulls erfrischendstes, überraschendstes und bestes Album seit SONGS FROM THE WOOD [1977] war Ian Andersons folklastiges Soloalbum SECRET LANGUAGE OF BIRDS von 2001. Dass auch Titel dieses Juwels auf dieser Live-Platte zu finden sind, ist eines von drei Argumenten für den Einkauf. Das zweite Argument ist, für die Älteren unter uns, eine entspannte Session in der kurzlebigen 1968er-Besetzung [mit Glen Cornick am Bass, Clive Bunker am Schlagwerk und Bloodwyn Pig-Mick Abrahams an der Gitarre], bei der die Veteranen zum abgehangenen Blues zurückfinden. Akustische, ursprünglich fürs Radio eingespielte Songs wie „Wondring Aloud“ oder „Mother Goose“ werden mit dezenter Synthie-Unterstützung dargeboten, dazu die zerbröselte Stimme des Meisters – eine eher deprimierende Erfahrung. Drittes und letztes Argument für LIVING WITH THE PAST sind Ian Andersons Linemotes, die alle oben erwähnten Mäkeleien mit patentierter Selbstironie durchkreuzen. Wenn alles weg ist, die Ideen, der Stolz, der Spaß, dann bleibt der Humor. Aber auch das wissen wir seit BURSTING OUT, dem phänomenalen Live-Album von 1978. Verglichen mit diesem Orkan ist LIVING WITH THE PAST lieb-, lust- und kraftlose Routine.

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