Die Singles

Deutschland ist schön. Man muß es nur sehen wollen. Wer will, kann das an der Autobahnraststätte Winningen-West erledigen. Denn die Autobahnraststätte Winningen-West ist toll. Direkt an der Winninger Autobahnbrücke gelegen, kann man von dort aus 136 Metern Höhe in das idyllische Moseltal gucken. Immer vorausgesetzt, man steht richtig. Goldrichtig steht man an einem Aussichtspunkt, der den hübschen Namen „Blumslay“ trägt. Was schon mal sehr schon, aber noch längst nicht alles ist. Noch besser ist Winningen-West, wenn man mal muß. Links das Damen-WC, rechts das für Herren und schön mittig eine Naßzelle, die schlicht und einfach unter dem Schild „Nacht-WC“ firmiert. Da haben wir’s: Wenn’s dunkel wird, gibt’s keine Geschlechter-Grenzen mehr in Deutschland. Naja, zumindest in Winningen-West. Wenn’s doch bloß viel öfter mal so einfach wäre hierzulande. Ist es aber überhaupt nicht.

Bei Blumfeld schon gar nicht. Wir erinnern uns mit wohligem Schauder an ihr hormonell-verwirrtes „Tausend Tränen tief“ – ein Heuler, der sich verkrampft um Pop-Appeal bemühte, manche Menschen aber nichtsdestotrotz in hehre Verzückung versetzte. „Aber natürlich ist das auch ein politischer Song“, sagten diese Menschen, „nie Foucault gelesen, oder was? Der hat schließlich geschrieben, daß man sich den Normen der Gesellschaft widersetzen kann, indem man sich in einer selbstbestimmten Sexualität immer wieder neue Freiräume schafft – und insofern ist eine private Beziehung natürlich auch politisch.“ Mein lieber Schwan, da waren wir aber baff ob solch profunder Kenntnisse. Allerdings nicht lange – denn wir wissen auch etwas: Foucault hat es schon 1984 dahingerafft. Blumfeld haben mit „Status Quo Vadis“ (L’Age D’Or/Zomba) eine neue Single, und DJ Koze von Fischmob ist eine der zehn wichtigsten Persönlichketten der 90er Jahre. Wie das alles zusammengeht? Nun. die A-Seite der Blumfeld-Single ist nicht weiter von Belang – aber die Flipside, die hat’s in sich. Weil eben jener Koze sich eben jenes „Tausend Tränen tief“ vorgeknöpft hat: Über dem sphärischen Keyboard-Kleister des Originals läuft ein billiger Beat durch, Jochen Distelmeyers Stimme ist auf Mickey-Maus-Helium-Format hochgepitcht, und die neue Version firmiert unter dem Namen „Loverboy Mix“. Klara, daß die Liebe so locker und unverkrampft dann wieder Spaß macht. So viel Humor hätten wir Jochen Distelmeyer gar nicht zugetraut Respekt. Und: danke, Koze – hier paßt zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört. 5 Sterne

Kommen wir zu einer anderen,ganz und gar schrecklichen Allianz: Udo Lindenberg. das nuschelndste Hütchen aller Zeiten, hat zusammen mit den esoterisch verbimmelten Sozialkunde-Leistungskurs-HipHoppern vom Freundeskreis „You Can’t Run Away“ (Polydor), einen Song von Bob Marley, bearbeitet. Folgerichtig firmiert das Machwerk unter dem Namen Udo Undmberg hat Freundeskreis, und die Version enthält jede Menge ganz dolle politisch korrekte Reime (Lindenberg: „Vollidioten“ auf „Kamikaze-Piloten“) und Textzeilen, die noch schlimmer muffeln als ’68er Protestsongs: „Che Guevara und Luther King dürfen nicht umsonst gestorben sein / sonst pack‘ ich mein Mikrofon für immer ein“. Wir können dem Freundeskreis getrost versichern: sind sie nicht. Trotzdem: Das mit dem Mikro ist eine prima Idee. Und eins noch: Das aktuelle Album vom Freundeskreis heißt immer noch „Esperanto“, Freundeskreis heißt auf Esperanto „Amikaro“, und wer weiß, wie man das schöne Wort „Einfaltspinsel“ in die Kunstsprache übersetzt, gewinnt diese Single – das Porto übernimmt der Autor dieser Zeilen. 1 Stern

Und noch einmal HipHop, diesmal aus dem fernen Amerika und erfreulicherweise wieder ganz anders: nämlich richtig gut. MC Dizzy, Andycat und DJ Einstein sind drei Jungspunde aus Long Beach, Kalifornien, nennen sich zu dritt Ugly Duckling und gehen an das Genre ran wie ganz alte Hasen. Ihre Version von HipHop definiert sich in „Everybody C’mon“ (PIAS/Connected) über die ursprünglichen Disziplinen Reim und Rhythmus, und wer wissen will, welche Zutaten diesbezüglich sonst noch unerläßlich sind, gucke sich das zugehörige Video an: In dem gibt’s Breakdance unter freiem Himmel, Graffiti-Sprühereien und eine amtliche Plattensammlung, aus der sich Einstein nach Herzenslust bedient. Sehr viel back to the roots also – und das macht Uune. 4 Auf eine Art zurück zu den Wurzeln ist auch Jörg Burger unterwegs, wenn er zusammen mit seinem singenden Kollegen Lothar Hempel als Trinkwasser Musik macht. Burger, der unter dem Namen The Modernist für elektronische Tanzmusik sorgt und als The Bionaut elektronische Zuhörmusik fabriziert, hat mit Trinkwasser und dem Song „Extraleben“ (The Populär Organization) ein Poporientiertes Projekt am Start, das clever die eigene musikalische Sozialisation verwurstet: die 80er Jahre an und für sich. Wer in diesem schwer ambivalenten Jahrzehnt schon mit beiden Händen an „Rubik’s Cube“ gedreht hat, wird den Text verstehen; alle anderen kaufen sich den Zauberwürfel gleich morgen und freuen sich über die fluffigen Remixe von Jürgen Paape auf der Flipside. 4 Sterne

Verweilen wir noch einen Moment in den 90er Jahren, ohne die Jetztzeit zu verlassen. Was normalerweise ein recht schwierig Ding ist – mit der freundlichen Assistenz von Medal aber leicht geht. Denn Sänger Jamie Hyatt knödelt. näselt und phrasiert auf „Possiblity“ (Polydor) so elegant, daß man denkt, den leibhaftigen Mark Hollis vor sich zu sehen. Dazu gibt’s von der Band Melodramatik, Schwulst, Pathos und Keyboard-Türme, die bis in den Himmel hinein reichen. Medal, soviel ist sicher, gewinnen mit dieser Single den zweiten Preis im Talk-Talk-Ähnlichkeitswettbewerb. Aber nur, wenn Talk Talk selber mitmachen. Sehr, sehr groß. 6 Sterne

Werden wir sportiv. Warum, weiß keiner wirklich so genau; klar ist nur, daß Kraftwerk und ihrer Plattenfirma der Sinn danach steht. Schließlich ist alle Jahre wieder Tour de France und was liegt da näher als …-eben, genau. Oder auch: nein, eben nicht. Immerhin ist die Tour de France längst zu einer lausig-verlogenen Veranstaltung verkommen, in deren Zusammenhang wir so häßliche Wörter wie „Erythropoietin“ und „Hämatokritanteil“ hören müssen. Sei’s drum. Jan Ullrich hat natürlich nicht gedopt, sondern hat nur eine Knieverletzung, und Kraftwerk müssen uns erst mal mit neuem Material zeigen, daß sie immer noch eine ganz ganz dolle Truppe sind. Ganz dolle Geschäftsleute sind sie jedenfalls bis heute: Für den mordsmäßig langen Vlersekunden-Jingle zur „Expo 2000“ gab’s die Kleinigkeit von 400.000 Mark. Weil wir hier aber keine Abzocker sind, bleibt’s für die Single „Tour de France“ (Kling Klang/EMI Electrola) aus alter Verbundenheit bei: 4 Sterne

Kommen wir zu Moby, dem Veganer. der neuerdings nicht nur beim Essen, sondern auch bei seiner Tonträgersammlung auf Minimalismus setzt. Ein Buch mit Plastikhüllen, in die höchstens 80 CDs reingehen – mehr hat er nicht zu Hause, der Moby. Bevor eine neue dazukommt, muß erst eine alte verschenkt werden. Die meisten musikinteressierten Menschen werden da wohl nicht so spartanisch verfahren, und deshalb findet „Bodyrock“ (Mute/Intercord) wohl gleich in doppelter Ausführung Platz in diversen Wohnungen. Das Original ist Schweinerock mit Hip-Hop-Beats und einem Rest Techno; auf Single Nummer 2 gerät der Track unter den Fittichen von Olav Basokski zur luftigen House-Nummer.4 Und schließlich: die Flaming Lips. Wer sich wirklich was traut, hört ihr „Race For The Prize“ (Reprise/WEA) über Kopfhörer. Beide Ohren auf hab‘ acht, und schon kommt man dem genialen Wahnsinn dieser netten Irren so nahe wie möglich. Mal zischelt’s links, dann scheppert’s rechts.dann Stereo – und immer ist’s spinnerter großer Pop und gekonnt schlecht abgemischt. 6 Sterne