Gentle Giant – Free Hand/Interview

Völliger Unfug zu behaupten, Progrock kehre allmählich zurück. Er ist nämlich schon längst wieder da. Bands wie Radiohead, Mansun, Grandaddy oder R.E.M. haben das Experiment, das intelligente Arrangement, die unverhoffte Wendung, den Rhythmuswechsel und das Epische zum integralen Bestandteil ihrer künstlerischen Ausdruckskraft gemacht. Kulturell betrachtet stehen wir am Ende der postmodernen Dekonstruktionswut, die neue Suche nach verbindlicher Tiefe führt auf alte Muster zurück: Grandaddys UNDER THE WESTERN FREEWAY beispielsweise ist deswegen ein epochales Meisterwerk, weil es die Tugenden des Artrock spröde bricht, falsches Sentiment durch Understatement ersetzt – und gerade deshalb die Trümmer des zerschlagenen Genres zu einem neuen Ganzen zusammenfügen darf. Soviel dazu. Die Protoprogger Gentle Giant, die glücklicherweise immer im Windschatten der Flaggschiffe ELP oder Genesis fuhren, präsentieren nun mit dem auf einer CD zusammengefaßten Re-Release der beiden LPs FREE HAND und INTERVIEW den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. Aufgenommen in abenteuerlichen acht Monaten zwischen 1975 und 1976 ergingen sich die Brüder Ray und Derek Shulman nicht in halbstündigen Epen, sondern schufen hochkomplexe Popsongs von höchstens vier Minuten Länge. Überbordende Ideenvielfalt,die etwa bei Yes eine ganze Plattenseite füllte, findet sich hier in bedrückend knappe Skizzen komprimiert. Free Jazz, Folk und Rock sind in schwüle Kammermusik gedrängt, jedes einzelne Instrument erzählt eine eigene Geschichte, variiert und entwickelt eigene Motive. Heraus kommt entweder eine Art nervöser Metamusikoder aber verquaster Quatsch. Die Shulman-Brüder wußten’s anscheinend selbst nicht so genau, wie Zeitgenosse Ian Anderson von JethroTull zu berichten weiß: „Mir ist nie eine Band begegnet, die sich nach jedem Gig so sehr anbrüllte, anschrie und aufeinander eindrosch. So gesehen machten Gentle Giant nicht gerade den Eindruck von großen Spaßvögeln“.