Joe Maneri Quartet – In Full Cry
Der Jazz hat ein Problem. Seine alten Helden sind fast alle tot. Die, die noch leben, heißen zum Beispiel Wayne Shorter oder Herbie Hancock und klopfen sich mit gefalligen Mainstream-Werken gegenseitig auf die Schulter. „Altersmilde“ nennt man sowas, wenn man einen freundlichen Ausdruck dafür sucht. Die jungen Helden hängen irgendwelchen Bebop-Idealen hinterher. Und wenn sie Saxophon spielen können, versuchen sie immer noch krampfhaft wie John Coltrane zu klingen in seiner Vor-Free-Phase, versteht sich. Joe Maneri – neben Ornette Coleman oder Cecil Taylor – ist eine rühmliche Ausnahme. Der 69jährige Multiinstrumentalist (Saxophon, Klarinette, Piano) legt nach der letztjähhgen Trio-Aufnahme THREE MEN WALKING mit IN FULL CRY sein zweites Werk für ECM vor. Eine Quartett-Aufnahme mit seinem Sohn Mat Maneri an der elektrischen Violine, John Lockwood (Bass) und Randy Peterson (Schlagzeug). Es wurde viel geschrieben über Maneris mikrotonales Musikverständnis. Der alte Mann teilt die Tonleiter nicht in zwölf Halbtöne, sondern in 72 Notenschritte auf. Was dem von Musiktheorie unbelasteten Hörer den Eindruck von radikalen, atemberaubenden und kompromißlos schrägen Klangen vermittelt, die zwar die Bereiche Jazz, moderne Kammermusik und freie Improvisation streifen, jedoch keiner Kategorie wirklich angehören wollen. So ist Maneris Musik „frei“ im wahrsten Sinn des Wortes. Sie hat sich auch freigemacht von den Grenzen des Free Jazz: IN FULL CRY ist Musik, die mit jedem Hören größer wird und weder sich selber noch dem Hörer auf die Schulter klopft.
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